4 Trails 2011
Drei Länder – vier Etappen – fünf Orte
„Heeoh, heeeoh!“ – schon von weitem sind die Rufe der Schaftreiber zu hören. Es ist 10:00 Uhr morgens, das Gatter wird geöffnet und aus dem Ort strömt eine mächtige Herde blökender Schafe.
Mittendrin im hektischen Gewimmel lehnen Uta und Heinrich Albrecht, die Macher von Plan B, auf ihren Hirtenstäben und achten darauf, dass die Lämmer und Schafe den Weg nach draußen finden. Wie schon seit 2005 beim Transalpine-Run, begleiteten sie die nächsten 4 Tage den Schaftrieb von Garmisch-Partenkirchen durch die Alpen nach Samnaun in der Schweiz. Die Berggipfel rund um das schöne Dorf werden von der Sonne beleuchtet, eine Wegmarkierung ist gut zu erkennen und vor uns liegen über 157 Kilometer und 9899 Höhenmeter. Das Abenteuer kann beginnen!
„Ich packe meinen Koffer und nehme mit: Reisepass, Zahnbürste und Taschenmesser“
Eigentlich reichen ein paar Laufschuhe und es kann losgehen. Wer das sagt, der hat Trailrunning noch nicht probiert. Off-Road Schuhe, Gamaschen, Rucksack (nicht irgendein Rucksack), Stöcke, Jacke, Tuch, Signalpfeife, warme Kleidung, Kartensatz und Kompressionsstrümpfe. Übrigens, hier sieht man auch Männer in Tracht durch den Ort laufen mit Grün-Weiß gestrickten oder Grün-Grau gestrickten Wadenstrümpfen. Die einen tragen geringelte, die anderen tragen Rautenmuster am Bein. Wie wir erfahren, erkennt man an den Strümpfen, ob der Herr in Tracht von Garmisch oder von Partenkirchen stammt und ob er zu einem Fest (Rautenmuster) oder zur Arbeit (geringelt) geht. Erst seit den Olympischen Spielen 1936 wurden die Gemeinden Garmisch und Partenkirchen zusammengeschlossen. Früher hätte kein Partenkirchener eine Frau aus Garmisch geheiratet. Oder wie bei uns zu Hause kein Frankfurter eine Frau aus Offenbach oder Mainz keine aus Wiesbaden oder Köln niemanden aus Düsseldorf…
Bei der Registrierung in Garmisch-Partenkirchen erhalten wir eine Reisetasche (Volumen: 100 l), die mit unsere Startnummer bereits gekennzeichnet ist. In diese Tasche muss unser komplettes Gepäck für vier Tage – gleich die erste Herausforderung. Auch die Startnummer und Trailbooks erhalten wir hier. Da haben wir ja nochmal Glück gehabt, ich hatte schon Angst, wir bekämen anstelle einer Startnummer eine Ohrenmarke verpasst. Gut, vielleicht fänden das manche sogar dekorativ, so ein „Ohrring“. Der Viehhüter könnte auch mit seiner Digitalkamera Ohrmarken-Portraits und Ganzkörperaufnahmen seiner Herdenmitglieder vor dem Almauftrieb schießen und sie dann in seinem Laptop speichern, um sie im Ernstfall abrufen zu können. Vielleicht sollten wir das mal vorschlagen?
Während heute unsere Damenfußballnationalmannschaft gegen Frankreich spielt, haben wir unser Briefing bei jeder Menge Pasta.
Jetzt beginnt die Zeit des Almauftriebs
Bergschafe gelten als trittsicher, schwindelfrei, und robust. Sie fühlen sich auch in einer Höhe von mehr als 2.500 Metern wohl. Auf den Bergen sind die Schafe auf sich alleingestellt, regelmäßig aber sieht ein Hirte nach dem Rechten und bringt den Tieren ein Zufutter aus Salz und Weizenkleie. Die Schafe legen oft mehrere Kilometer am Tag in ihren weiten Bergarealen zurück. Warum ich das alles schreibe?
Es ist Almauftrieb
Auch wir werden größtenteils auf uns alleingestellt sein und ab und zu bringt uns ein Mitarbeiter von Plan B, der sogenannte Hirte, ein Zufutter an die Strecke. Wir werden wie die Schafe viele Kilometer in den weiten Berggebieten zurücklegen und es wird sich zeigen, ob wir gleichfalls so trittsicher, schwindelfrei und robust sind wie die Schafe auf den Almen. Abgesehen von solchen Äußerlichkeiten, die zu lustigen Gedankenspielereien verleiten, findet man in einer Schafsherde auch die verschiedensten Charakterzüge, die man vom Menschen kennt: Aggressivlinge, die erst mal herumpöbeln, bevor sie vernünftig diskutieren, wenn der Viehhüter nicht sofort das Lecksalz rüberwachsen lässt. Angsthasen, die schon bei zu langem Augenkontakt das Weite suchen. Einzelgänger, die sich immer erst alles aus der Entfernung ansehen und die Nachläufer.
1. Etappe von Garmisch-Partenkirchen nach Ehrwald
37,8 km – 2.473 Höhenmeter im Aufstieg – 2.176 Höhenmeter im Abstieg
Das Rennen hat noch nicht angefangen, der Puls ist bereits jetzt schon auf fast 100 Schläge pro Minute. Die internationale Trailrrunning-Elite gibt sich bei der Premiere der SALOMON 4 TRAILS die Ehre. Die Siegerin des Zugspitz Ultratrail 2011 und Siegerin des Ultratrail Serra de Tramuntana 2010, Julia Böttger, ist am Start. Daneben auch Anna Frost aus Neuseeland, Tom Owens, der zweimalige Sieger des Transalpine-Run aus Schottland, Christian Stork und der 19-Jährige Philipp Reiter. Die Leute applaudieren.
10:00 Uhr: inmitten der Herde von Schafen, ich meine Läufer, sind auch wir aufgebrochen, um das Ziel in Ehrwald zu erreichen. Insgesamt werden heute – am ersten Mittwoch im Juli – etwa 169 Schafe, aus 13 Nationen, ich meine natürlich Läufer, aufgetrieben.
Auf den ersten Metern haben wir noch das unbeschreiblich schöne Gefühl der Leichtigkeit und der Schmerzlosigkeit. Im Moment laufen wir aus dem Ort so ca. 1,5 km eben auf Asphalt. Wir wissen, das wird sich ändern. Für heute hat uns der Tourismusdirektor von Garmisch und somit auch für Deutschland, wunderschönes Wetter vorhergesagt, auf 2.000 m etwa 20 Grad. Wie das die Kollegen dann morgen in Österreich hinbekämen, kann er nicht sagen, aber er meinte: „Wir Alpinen halten zusammen“.
Wanderwege und Trails um das Zugspitzmassiv – an keinem anderen Ort in Deutschland geht es so hoch hinaus. Wir verbringen 99 % unseres Lebens in den gesicherten Gürteln der Zivilisation. Ab jetzt laufen wir im großen Freizeitpark Natur. Wir wissen, wir können diese Herausforderung schaffen, jedoch auch das jeweils gesetzte Zeitlimit? In dem uns ausgehändigten Trailbook sind die Strecken und die Verpflegungspunkte mit den Zeitlimits notiert und müssen griffbereit mitgeführt werden.
Das Trailbook wird ab heute unsere Bibel – sie gibt unser Tempo vor. So müssen wir am heutigen Tag spätestens den ersten Verpflegungspunkt (V1) um 12:45 Uhr erreichen. V2 um 16:00 Uhr, V3 um 18:00 Uhr und das Ziel müssen wir bis 19:30 Uhr erreicht haben. Sollten wir nicht in diesen vorgegebenen Zeiten ankommen, so würden wir aus Sicherheitsgründen aus dem Rennen genommen werden. Wir dürften dann zwar am nächsten Tag wieder starten, jedoch wären wir nicht mehr in der Wertung. Unvorstellbar dieser Gedanke!!! Egal wie, wir wollen die herrliche Alpenlandschaft erobern, wir werden uns das Finisher-Shirt holen!
Wir sehen das Wettersteingebirge, das den Nördlichen Kalkalpen zugeordnet wird. Es ist heiß, schwülheiß. Bereits auf den ersten Kilometern tropft der Schweiß. Etwa 10 km laufen wir auf einer breiten Forststraße stetig ansteigend. Ich werde ja schon fast übermütig, bis jetzt geht´s doch gut, oder? Sie blöken, sie mähen, sie meckern und manchmal pfeifen sie sogar. Allerdings nur dann, wenn Gefahr herrscht. Die Rede ist von Schafen, die gar nicht so dumm sind, wie es im Volksmund heißt. Schafe können sich nämlich etwa 50 Schafgesichter merken. Und das bis zu zwei Jahre lang. Sie merken sich, welches Futter ihnen gut tut und von welchem sie krank werden. Ein Läufer erzählt mir seine Anamnese und warum er keine Zeit zum Training hatte. Aber, da können wir wohl alle ein Wörtchen mitreden.
Immer wieder mal queren wir die Skipiste hinauf auf den Hausberg Gipfel, zum Garmischer Haus. Der Hausberg ist im Sommer wie im Winter einer der beliebtesten Berge von Garmisch-Partenkirchen. Nach gelaufenen 11 km und 1:36 Std. erreichen wir VP 1 an der Laubhütte. Es ist 11:41 Uhr. Bloß nicht zu viel essen, aber auch nicht zu wenig, denn nun geht es größtenteils auf Trails weiter zum VP 2. Wir kommen an die Talstadion der Längenfelder Doppelsesselbahn, was heute unser höchster Punkt, unser Sahnehäubchen, mit 1.610 HM ist. Nun geht es über knapp 4 Kilometer abwärts bis in den Ort Hammersbach.
Etwas mehr als die Halbmarathon-Distanz haben wir bei der Abzweigung zur Eibsee Alm. Fleißige Wanderer können sich dort mit einer deftigen Brotzeit oder original bayerischen Spezialitäten stärken. Für uns ist an anderer Stelle eine Verpflegung aufgebaut. Diese haben wir um 14:30 Uhr erreicht. Wenn Dummheit Gras fressen tät, dann müsste ich jetzt eigentlich Milch geben. Das Bewusstsein ist klein – je größer die Anstrengung, desto kleiner. Beim Verlassen dieser Verpflegungsstelle habe ich in der Eile nach fremden Stöcken gegriffen und laufe mit diesen los. Hinter mir höre ich etwas rufen: „Hey, das sind meine Stöcke…“ Oha, peinlich, aber wo sind denn dann meine Stecken? Noch delikater, die nette Frau von der Verpflegung macht mich darauf aufmerksam, dass ich meine Carbonteilchen doch im Rucksack habe. Tja, das kommt davon: Stöcke raus und wieder rein. Immer wieder treffe ich während des Rennens auf den Läufer, dessen Stöcke ich entwendete, das lustigste daran ist jedoch, er hat das Piratentuch auf dem Schopf, nicht ich.
Uns verbleiben noch 1,5 Stunden bis zum 3.Verpfegungspunkt. Der Eibsee ist ein durch Steinbruch entstandener Bergsee. Dieser See gilt aufgrund seiner Lage unterhalb der Zugspitze und dem klaren, grün getönten Wasser als einer der schönsten Seen der bayrischen Alpen. Wir erleben ein atemberaubendes Doppelpanorama – unter uns funkelt der Eibsee, über uns türmt sich das gewaltige Zugspitzmassiv mit seinen 2.964 m auf.
Mitten im Wald tönt das Handy, wir haben einen neuen Anbieter auf dem Mobiltelefon. Was für ein Moment, nach etwa 25 km überschreiten wir die Grenze nach Österreich. Ein Almhirte erzählt uns, es wäre früher, als er noch ein Junge war, schon ab und an vorgekommen, dass die Nachbarn vierbeinige illegale Grenzgänger einkassierten und als die Ihren markiert hätten. Irgendwie habe ich mir die Grenzerfahrung romantischer vorgestellt. Heldenhafter!
Wir erreichen die Talstation Ehrwalder Zugspitzbahn (V3). Es ist 16:05 Uhr wir haben 2 Stunden „Pufferzeit“ bis ins Ziel. Jetzt sollte auch bereits die Entscheidung feststehen, ob München gemeinsam mit Garmisch-Partenkirchen die Zusage als Ausrichter der Olympischen Spiele erhalten hat. Weiter geht’s nun auf der österreichischen Seite der Zugspitze auf dem Ehrwalder-Höhenweg, vorbei an der Gamsalm. Hier sehen wir nun auch endlich die ersten Schafe. Es geht über zum Glück nur blaue Skipisten stetig nach oben. Die Hitze gibt einem den Rest, der Kreislauf hat zu tun.
Wieder im Wald, geht es bergab über Stufen und weiter über Stufen, teilweise so hoch, das sie mir bis zur Hüfte reichen. Die Wege sind steil, Wurzeln bilden natürliche Treppenstufen – und manchmal gefährliche Hindernisse. Jetzt schon Pudding in den Beinen. Für die letzten 5 Kilometer haben wir eine ganze Stunde benötigt. Bedenklich, damit muss man im Kopf auch erst mal umgehen können.
Um 17:42 Uhr, nach 7:37 Stunden haben auch wir unsere erste Etappe und damit das Ziel in Ehrwald (989 m), ein idyllisches Dorf am Fuße des Wettersteinmassives, erreicht. Der erste Tag lief gut und wir sind 1:45 Std. vor dem Timeout geblieben. Sicherlich sind einige Teilnehmer diese Etappe zu schnell angegangen, denn bereits jetzt gibt es die ersten Ausfälle.
Wie schön wäre jetzt ein ausgiebiger Bummel durch diesen Tiroler Ort, der in einem weiten, sonnigen Talkessel umgeben von den gewaltigen Gebirgsmassiven der Miemingerkette liegt. Dafür haben wir aber jetzt keine Zeit, erst kommt der organisatorische Teil: wo sind unsere Taschen, wo ist unsere Pension? Genial, während wir noch am Berg klebten, haben die Mitarbeiter von Plan B bereits unsere Taschen in das vorgebuchte 367 Jahre alte traditionelle Hotel „Zum Grünen Baum“ gebracht. Erst mal im Zimmer, habe ich keine Lust mehr nach draußen zu gehen. Aber der Hunger und die Neugier. Wie haben wir abgeschnitten, wer liegt in Führung und was müssen wir für den morgigen Tag beachten?
So gehen wir doch noch in das Zelt zur Evening-Party. Während wir unsere Kohlenhydratspeicher wieder auffüllen, erfahren wir beim Briefing, das für die morgige Etappe eine Schlechtwetterfront vorhergesagt wird und daher auch der geplante Start von 8:00 Uhr auf 7:00 Uhr vorverlegt wird. Die Tages- und Altersklassensieger erhalten ihr Leader-Trikot und alles freut sich auf die Bilder des Tages die auf einer Leinwand präsentiert werden.
2. Etappe von Ehrwald nach Imst
43,20 KM – 2.263 Höhenmeter im Aufstieg – 2.880 Höhenmeter im Abstieg
Das Laufen auf der Strasse ist dir zu langweilig? Dir tun vom harten Asphalt die Knochen weh? Von Langeweile keine Spur. Nur die Knochen, die tun auch ohne harten Asphalt weh – nur schöner!
Je kürzer die Nächte, desto länger das Vergnügen inmitten alpiner Naturlandschaft. Der Morgen ist kalt und strahlend schön. Heute starten wir um 7:00 Uhr. Es bleibt noch Zeit, sich die um uns herum stehenden Schafe, äh Mitläufer, mal genauer zu betrachten. Da gibt es die langen, dürren mit schwarzen Kompressions-Strümpfen, die Zotteligen, die mit großen, auffälligen Brillen, Kleine, Große, Dünne, Dicke. Bei den Schafen gibt es auch die unterschiedlichsten Rassen. Das aus Deutschland stammende Alpine Steinschaf. Es repräsentiert den uralten Schlag des Zaupelschafs, ist klein bis mittelgroß und trotzt selbst widrigsten Witterungsbedingungen. Oder das aus der Schweiz stammende Walliser Schwarznasenschaf. Gesicht, Ohren und die Manschetten an den Fußwurzelgelenken müssen schwarz sein. Dann noch das Juraschaf. Nein, es hat nicht studiert, hat allerdings einen breiten Körperbau und ist eher von dunkler Farbe. Bleiben noch das Weiße Alpenschaf und das Kärntner Brillenschaf. Eine in Österreich recht weit verbreitete Rasse ist das Merinoschaf. Es hat eine besonders feine Unterwolle und wird auch als Landschaf und für die Fleischwirtschaft gehalten. Vielleicht ist das Merinoschaf heute das am besten bekleidete Schaf, denn es sind ja eine Kaltfront und Gewitter vorhergesagt.
Vor jedem Start werden von jedem Läufer die Rucksäcke auf ihre Pflichtausrüstung kontrolliert.
Kay trägt an seinem Rucksack so schwer, er muss ihn gar nicht erst öffnen, man glaubt ihm auch so, das er alles dabei hat. Endlich setzt sich unsere Herde in Bewegung. Das Ziel müssen wir bis 17:45 Uhr erreicht haben. Jetzt könnte man meinen, 10 Stunden und 45 Minuten, das solle doch locker für 43,2 Kilometer reichen.
Auch heute heißt es für uns, wir müssen die Zeiten bis zur jeweiligen Verpflegungsstelle erreichen. Die Verpflegungsstelle V1 bis um 10:00 Uhr, nach 10,40 Kilometer. Auch uns lagen die Berechnungsgrundlagen für die Wegzeiten nach der Weg-Zeit-Formel im Gebirge bereits im Training vor. So ist z.B. die Zeitberechnung für den/die Schnellste auf 1000 Hm/h und einer Geschwindigkeit von 15 km/h zu berechnen. Für langsamere Läufer: 400 Hm/h und 6 km/h.
Gedankenverloren versucht jeder seinen Tritt zu finden. Es geht stetig rauf. Mit der aufgehenden Sonne steigt auch unsere Stimmung und infolge dessen auch unsere Leistungsfähigkeit. Schafe können auf unterschiedliche Arten gehalten werden, z. B. die Wanderhaltung: Bei dieser Art der Haltung wandert ein Schäfer meist in Begleitung eines oder mehrerer Hütehunde mit der Herde von Weide zu Weide.
Die Rescue-Gruppe braust auf ihren Geländemaschinen vorbei. Wir laufen an der Ehrwalder Alm (1.502 m) vorbei. Ein Schild zeigt uns noch 500 Meter bis zur Verköstigung an, aber diese 500 Meter „ziehen“ sich. Etwa gegen 8:45 Uhr erreichen wir VP 1 am Seebensee, den schönsten See in diesem Gebiet. Wir sind etwa 1:20 Std. vor der Zeit. Dies ist auch wichtig, beginnt doch mit der Durchquerung des Mieminger Gebirges der erste Höhepunkt bei der Überschreitung der 2.272 m hohen Grünsteinscharte.
Stück für Stück schrauben wir uns weiter nach oben in Richtung Coburger Hütte. Ein Fotograf bringt uns doch immer wieder zum Lächeln. Stefan Schlett, der Genießer, überholt uns, gemeinsam bewundern wir nur kurz die Aussicht. Wir kommen an die Coburger Hütte und begeben uns dort weiter Richtung „Hoher-Gang“ der nur für geübte begangen werden sollte. Die Spannung steigt und wir auch weiter und weiter. Der Ausblick wird immer grandioser.
Noch 30 km to go. Wir erklimmen entlang einem langen Schotterhang einen Grad. Vor uns kleben ein paar Läuferpunkte, klein und greifbar. Da kommen auch Christina und Claudia, auch sie laufen wie wir immer dicht zusammen. Auch die Bergschafe bewältigen die oft langen und schwierigen Wegstrecken in die Höhe gemeinsam.
Es geht nun in losem Geröll lang und steil bergab. Sicherlich im Winter eine schwarze Piste. Aber nicht nur ich brauche lange an diesem Hang. Ebenso wie Kletterer gibt es Ablaufspezialisten. Ich liebe auch das Abwärtslaufen, es ist genauso wie Skifahren. Man muss immer beweglich bleiben, nie die Beine anspannen, die müssen wie Stoßdämpfer funktionieren. Funktioniert bei mir hier leider nur in der Theorie. Schmerzen in den Füssen.
Ein altes Holzschild zeigt den Weg zum Lehnberghaus. Das ist auch unsere Richtung. Noch 26,5 Kilometer. Nach der Unterführung einer Bundesstrasse erreichen wir um 11:35 Uhr auch den nächsten Verpflegungspunkt (V2). Bis 12:30 Uhr lautet hier die Zeitvorgabe. Schnell Wasser in die Getränkeblase, etwas Salz, etwas Magnesium, etwas Käse, etwas Melone, etwas Kuchen und schnell den beiden Mädels C + C hinterher. Noch mit vollem Mund laufen wir, natürlich wieder aufwärts, ein Stück am Jacobsweg entlang. Jetzt beginnt der Qualen erster Teil. Es ist wieder schwülwarm, immer die Angst im Nacken, es könnte noch das vorhergesagte Gewitter kommen.
Nach einem neuerlichem Aufstieg von Finsterfiecht (1.040 m) gibt es ein Wiedersehen mit einem Läufer, nach über 2 Stunden. Dann können die anderen auch nicht mehr weit sein. Wir überholen einen weiteren Läufer. Er hat seine Kraft und seinen Willen verloren. Im Aufstieg wandelt sich wieder die Vegetation. Wir sehen das Gipfelkreuz, dort müssen wir hoch. Die Getränkeblase gibt schon lange kein Wasser mehr. Der Aufstieg bis hierher war zu lang und zu beschwerlich in dieser Hitze. Wir laufen über traumhafte Panoramatrails hoch über dem Inntal bis kurz unter den Tschirgant (2.370 m).
Kurz vor dem höchsten Punkt der hochalpinen Überquerung erreichen wir die engste und auch gefährlichste Stelle des Tages. Hier sind vor ein paar Jahren einige Schafe bei eisigen Verhältnissen abgestürzt. Sie sind dort unten mit dem Buckel gegen die Steinplatten gedonnert. „Wir mussten sie noch an Ort und Stelle abstechen“, bekommen wir vom Bergführer erzählt.
Jetzt gilt es, Ruhe zu bewahren: Wir müssen möglichst hintereinander die Schlüsselstelle überwinden, wer drängelt, führt sich selbst zur Schlachtbank. Nur gut, dass das Wetter hält. Diese Etappe ist eine Herausforderung, auch für Bergsteiger und erst recht für uns „Flachland-Hessen“. Aber mit unvergesslichen Eindrücken. Nicht sonderlich elegant mit diesen steifen Knochen hangeln wir langsam abwärts. Ein Ringen um Gleichgewicht, bei dem sich neue Horizonte auftun. Es macht richtig Spaß.
So wie wir uns hochgeschraubt haben, so schrauben wir uns jetzt wieder nach unten. Wenn nur der Durst nicht so stark wäre. So langsam bekomme ich eine mentale Schwäche. Ich bin müde, mein Körper ist müde. Ich bin echt fertig. Mich überkommt eine ungeheure Kaffeelust. Ich möchte gerne schneller laufen, es geht nicht. Auf den letzten ca. 20 KM der Laufstrecke beim IRONMAN in Frankfurt, reichte mir meine Tochter, Natascha, ein kleines Trinkfläschen gefüllt mit kaltem und Zucker gesüßtem Espresso. Darauf hatte ich mich das ganze Rennen über gefreut. Was würde ich jetzt dafür geben, geht es mir durch den Kopf. Zum Glück gibt es Cola.
Ein paar Wanderer blicken hoch, winken, rufen uns etwas kaum Verständliches zu. Die Sonne knallt auf den Hang, ich habe die letzten Kilometer hart gearbeitet, ich bin verschwitzt, ich möchte rennen, aber es geht nicht mehr. Je langsamer ich werde, desto größer wird der Rückstand sein. Der Mann mit dem Hammer müsste mir aus humanitären Gründen einen Schlag versetzten.
Schafe sind recht genügsame Tiere. Sie zählen zu den Wiederkäuern. Das bedeutet, dass Schafe die Nahrung einige Stunden nach dem Fressen wieder hoch würgen und nochmals gründlich kauen. Erst nach diesem „2. Durchgang“ gelangt der Speisebrei weiter in den Darm. Im Gegensatz zu uns finden sie auf den Wiesen, Weiden und Heiden genügend Futter. Ich habe Durst und ich habe Hunger. „Himmel, wann kommt endlich dieser verfluchte Verpflegungspunkt?“.
Auf den Weg zum letzten VP 3 geht es abwärts bis zur Karröster Alpe (1.467 m) die wir um 16:35 Uhr mit einem Hungerast erreichen. Von V2 bis V3 haben wir genau 5 Stunden, in Worten FÜNF, gebraucht. Wie weit ist es noch bis ins Ziel? Aufgeben? Im wahrsten Sinne des Wortes eine Grenzerfahrung. Wer schneller ankommt, kann sich länger erholen – wir leider nicht.
Andrea überholt uns an der Verpflegungsstelle. Nach rund 34 Kilometer klettern endlich wieder auf ebenen Boden. Ich laufe wie im Rausch. Genau das ist meine Medizin, genau dieses Gefühl. Noch 3 Kilometer bis ins Ziel. Wir schließen zu anderen Läufern vor uns auf. Da ist auch Andrea. Ich rufe ihr zu: „Los, wir schaffen das noch, wir haben noch 15 Minuten und es geht bergab“!
Wir laufen und laufen bis zum tiefsten Punkt der Salomon 4Trails in Imst (780 m). Nein, alles bloß nicht das! Selbst 100 m vor dem Ziel noch ein heftiger letzter Aufstieg. Keine Energie mehr. Die Uhr am Arm geht ihren eigenen Weg. Wir hören den Kommentator, wir sehen das Ziel-Tor. Nach 10:44:42 Std. also genau 18 Sekunden vor dem offiziellen Zielschluss haben wir auch diese Etappe geschafft! Der Moderator fragt uns, ob wir schon jemals so lange Zeit für einen Marathon gebraucht hätten. Was für eine Frage! Ich bin glücklich – spüre einen Lachkrampf in Lungen und Waden, Kay geht es ebenfalls so.
Von einem Jodeldiplom hat man ja schon gehört, aber hier in Imst wird ein drei- bis viertägiger Alm-Crashkurs (mit Abschluss-Diplom!) das sogenannte Viehhütter-Seminar, angeboten. Dort können ahnungslose Großstadt-Aussteiger, gelangweilte Pensionisten oder arbeitslose Skilehrer das Melken und alles was zur Viehhütung gehört lernen. Mit diesem Diplom in der Tasche hat man die Chance, einen Alm-Job zu bekommen. Ob auch das Team von Plan B so ein Diplom hat? Wie auch immer, auch ohne Viehhüter-Diplom haben sie ihre Herde im Griff und machen einen guten Job. Die Taschen sind in unserem Quartier, bloß wir noch nicht. Für uns fällt heute leider die allabendliche Party aus und die Tagessieger werden auch ohne uns bejubelt.
Wir schaffen es nur noch bis ins Hotelrestaurant. Es war eine harte, aber hervorragend schöne Etappe. In der Nacht setzt Regen ein.
3. Etappe von Imst nach Landeck
31,1 KM – 1.854 Höhenmeter im Aufstieg – 1.814 Höhenmeter im Abstieg
Das Aufstehen wird jeden Morgen zur Belastungsprobe. Es ist außerordentlich bedauernswert, dass ich das jemals habe tun wollen, aber nun komme ich aus der Sache nicht mehr raus. Nein, ich freue mich natürlich auf die heutige Etappe, steht doch die Bewältigung hochalpiner Passagen auf dem Weg durch die Lechtaler Alpen auf unserem Trailbook.
Wo Berge sind, da ist auch stets Wasser, so begegnen wir bei unserem Lauf dem Element Wasser in vielerlei Formen. Als Schnee, als Bach, als See oder wie heute Morgen als Regen. Schafe liefern auch das Rohmaterial für Leim, Kerzen, Seife und andere kosmetische Produkte. Sogar im Sport und in der Musik spielen sie eine Rolle. Ihre Därme werden als Bespannung von Tennisschlägern, sowie als Saiten von Musikinstrumenten verwendet. Wir sind mittlerweile so zäh, dass wir auch dafür taugen.
Uns erwarten vier „Höhepunkte“: Pleiskopf (2.560 m), Gratscharte (2.459 m), Gufelgrasjoch (2.382 m) und Gebäudjoch (2.452 m). Im Alpenführer wird diese Passage so beschrieben: Ausdauer, Bergsteigerische Erfahrung, Klettertechnik im Ansatz, Schwindelfreiheit und Kraft muss man für diese Etappe mitbringen.
Ein Reisebus ist organisiert und so fahren wir an den Startbereich. Leider beginnt der Tag für eine Autofahrerin nicht so schön, denn sie rammt den Bus. Also, alles aussteigen und die letzten Meter zu Fuss weiter. Macht ja auch nix, heute haben wir ja unsere kürzeste Etappe und laufen nur 31,10 Kilometer. Man könnte das ja schon fast als Urlaubstag bezeichnen.
Um 8:00 Uhr bringen uns die Klänge von „Highway to hell“ in Bewegung. Die ersten Kilometer können sich die Muskeln, Sehnen, Gelenke auf dem geraden und flachen Weg für die vor uns stehende Belastung aufwärmen. Wenn man es nicht mit eigenen Augen sieht, dann glaub man es nicht, wozu wir Städter nun in der Lage sind: Schmale Gradwanderungen, steile Rinnen bergauf und bergab, Felsen und Gestrüpp. All das zwar im Allrad-Kriechgang aber wir kommen gut vorwärts. In dem Maß, in dem wir in den Tagen an Muskelkraft zulegen und die Beschaffenheit von nassem Gras, Felsen und schlammigen Wegen kennenlernen, werden wir von schlaffen Stubenhockern zu Bergziegen. Für heute sind daher auch nur zwei Verpflegungspunkte vorgesehen.
Bereits nach 3,8 km kommt das Verfolgerfeld zum Stehen.
Die Führungsgruppe hat die Bahnschranke noch bei Rot genommen. Die Führenden laufen um ihre Platzierung, wir um unser Zeitlimit. Trotzdem ganz ruhig bleiben und mentale Stärke demonstrieren. Wir laufen hoch, das Wasser runter, einiges macht sich als Gebirgsbach davon. Einiges davon bleibt in unseren Schuhen und Socken, ein günstiger Nährboden für Blasen wie sich später noch zeigen wird. Österreich und die Schweiz sind in eine kalte grenzenlose Regenwolke verpackt. Durch dichte Nebelbänke und auf anspruchsvollen Wegen laufen wir wie die Gämse den Kamm entlang auf die sogenannte „Aussichtskanzel des Oberlandes“, dem Plattenrain. Am Alpengasthof Plattenrain auf 1.476 m gelegen, ist der erste Verpflegungspunkt der bis 10:45 Uhr von den Teilnehmern erreicht werden muss.
Der Nebel macht auch die Steine rutschig. Schon rutscht Kay ohne Vorwarnung an einer völlig harmlos aussehenden Stelle aus, weil er abgelenkt ist. Wir sind froh, dass noch alle Knochen dran sind. Die Handys haben wir für den Notfall dabei, aber hier sind doch viele Funklöcher. Wahrscheinlich hätte uns in einer Notsituation nicht einmal ein herzhafter Jodler genutzt, da er von sämtlichen Gegenhängen als schallendes Echo beantwortet würde.Die wenigsten Läufer haben den Vorteil, mit einem Partner den Wettkampf absolvieren zu können. Das gibt doch mehr Sicherheit.
Schon ein paar Grad Temperaturunterschied lassen die Luftfeuchtigkeit kondensieren. Der im Wald gebildete Nebel, setzt sich auch auf das Kameraobjektiv. Um 9:42 Uhr erreichen wir die Verpflegung, wo sich Mensch und Tier eine Rast gönnen. Der Rucksack hängt uns schwer auf den Schultern. Zum einen ist er nass und zum anderen bunkern wir jede Menge zum Trinken und zum Essen, denn aus der gestrigen Etappe, haben wir bereits gelernt. Aber schon der nächste Anstieg zerpflückt das Feld wieder in winzige Einheiten. Gemeinsam mit C + C bilden wir eine vierköpfige Gruppe.
Wie einfach sieht doch heute unser Höhenprofil aus. Wie ein gemaltes Kinderbild, einfach hoch und wieder runter –fertig-. Auf Steigen und Wegen folgen wir der Ausschilderung Richtung Hochaster Alpe bzw. Venet durch den Wald aufwärts in freies Almgelände. „Im bewussten Gehen endet alle Hektik, jedes Gefühl von Getriebensein“ – die Worte können auch nur von einem Pilgerführer stammen. So laufen wir gemeinsam und ich erfahre, dass C + C in ihrer Freizeit auch Golf spielen. Ich bin völlig Erstaunt. Muss ich doch mein über viele Jahre aufgebautes Bild von Golfern ein wenig revidieren.
Auf Höhe der Hochaster Alpe orientieren wir uns Richtung Venetalphütte (1.995 m). Dort vorbei, laufen wir zur Entspannung der Muskulatur und der Knie kurz auf einer Forststrasse weiter. Schon wieder sind wir auf einem Steig unterwegs und es geht meist am Kamm weiter bis zum mit 2.512 m höchsten Punkt dieser Etappe, dem auch als Glanderspitze bekannten Venetgipfel.
Eine richtig schöne Singletrail-Strecke liegt vor uns bis ein letzter steiler Abstieg uns noch von dem Etappenziel trennt. Am steilsten Stück spüre ich den Atem von „Gripmaster“ in meinem Nacken und schon werden meine Schritte über die Steine mutiger und gewagter. Was tut man nicht alles für die Kamera. Stefan sieht dem Treiben mit Abstand zu.
Der Elektriker Karl Schrott, ein begeisterter Schiläufer, baute in den Dreißigern auf privater Basis eine Skihütte die heute noch unverändert bestehende „Schrotthütte (2.016 m)“ am Südabhang des Krahberges, nahe der Waldgrenze. Zum Glück ist hier auch der heutige letzte Verpflegungspunkt (VP 2) den wir um 13:01 Uhr erreichen (Vorgabe 14:45 Uhr). Nun bleiben noch 2,5 Std. bis ins Ziel, jedoch spätestens um 15:30 Uhr müssen wir das Ziel erreichen.
Ein Mann, kein Läufer, steht auf seine Stöcke gestützt regungslos auf einer Almwiese. Sein Blick ist in die Ferne gerichtet. Sein Gesicht ist ausdruckslos. Ist es ein im Stehen schlafender Berggeist? Oder ein verwirrter deutscher Urlauber mit Sauerstoffmangel? Nein, es ist nur ein nach vielen Stunden müde gewordener Sanitäter/ Verpflegungsposten, der jetzt gleich hinreichend Arbeit bekommt.
Ich habe Schmerzen an einem meiner Fußzehen. Bereits am Vortag hatte ich mir eine Blase zugezogen und diese selbst behandelt. Keine gute Idee, sagte mir gleich der Sanitäter gleich und stellte sogar ein Weiterlaufen in Frage.
Zwei Sanitäter kümmern sich jetzt ganz nett um mich, auch wenn mein durchweichter Fuß keine Augenweide, eher eine Geruchsbelästigung darstellt. Während einer der Sanitäter die Nadel zum „Wasser ziehen“ ansetzt, schaut ein anderer mir tief in die Augen. Eine weitere Nadel wird angesetzt und ich bekomme eine „Gerbflüssigkeit“ an diese Stelle gespritzt. War es nun der tiefe Blick des Sanitäters oder doch die lange Nadel? Ich weiß es nicht mehr. Als ich wieder aufwache, fühle ich mich richtig erholt und muss erst einmal realisieren, wo ich mich befinde. Natürlich will ich weiterlaufen. Hey, die knapp 8 Kilometer. Nachdem auch mein Puls o.k. ist, bekomme ich grünes Licht. Schnell noch ein Schluck Cola und wir laufen wieder los.
Leider ist unsere schöne Laufgemeinschaft gesprengt. Wir haben doch viel Zeit verloren, zum Glück haben wir uns auf der ersten Hälfte ein Polster herausgelaufen. Nebenbei bemerkt, 97 Helfer, darunter Vorläufer, ein Markierungsteam, etc. kümmern sich um unser Wohlergehen. Die Füße glühen. Es geht hinunter nach Landeck. Wir sehen ein Achtung-Schild am Wegesrand: Mountainbike Schiebestrecke“. Den Spuren der Alten Römer folgend, laufen wir über Reste von Straßenstücke über die 2000 Jahre alte Via Claudia Augusta. Kein Highlight wird bei der Streckenführung ausgelassen – es wird einem aber auch kein Meter geschenkt. Wir sehen die Ortskirche mit den Bergen im Hintergrund.
Etwa 1 Kilometer bis zum Ziel durch die Stadt, Leute schauen uns ungläubig an. Noch ca. 500 Meter bis ins Ziel wir müssen noch viele Treppen hinunter. Bis um 15:30 Uhr hätten wir Landeck erreichen müssen. Wir sind im Ziel, es ist 14:43 Uhr und es macht uns fast Spaß, die Grenzen auszutesten. Es ist so schön, dass es weh tut, oder tut´s weh weil es weh tut? Egal!. Überall sind Läufer, sie haben die Rucksäcke in die Ecken geworfen, Schuhe und Socken ausgezogen. Auch Schafe sind wirklich sehr unterschiedlich – je nachdem zu welcher Rasse sie gehören und wo sie leben. Eines haben sie allerdings gemeinsam – nach einem anstrengenden Tag haben sie alle Hunger.
Nachdem wir nun jeden Tag unsere Taschen ein- und auspacken, wird uns leider zu spät klar, dass es eigentlich nicht darum geht, zu überlegen, was man alles brauchen könnte, sondern was man eigentlich alles nicht braucht. Unsere Bedürfnisse schrauben sich von Tag zu Tag zurück. Selbst bei Dingen, bei denen man sich anfangs noch ärgerte, weil man tatsächlich vergessen hat sie einzupacken, findet man eine Lösung ohne sie auszukommen.
Sooo romantisch hatte ich mir das vorgestellt: Ein Besuch im Schloss Landeck und anschließend das Flair Tiroler Gastlichkeit genießen, anschließend in einer ruhigen Pension einschlafen beim Wasserplätschern des Baches vor dem Haus und dem sanften Läuten der Kühe auf der Alm. Nix da! Wegen der vielen Eindrücke, der Angst vor der vor uns liegenden Königsetappe sund wegen der körperlichen Erschöpfung finden wir keine Ruhe.
4. Etappe von Landeck nach Samnaun
45,30 Kilometer DIE Königsetappe – 2.909 Höhenmeter im Aufstieg – 1.885 Höhenmeter im Abstieg
Über Panoramatrails und Schmugglerpfade
Noch nicht richtig wach, geschweige dann richtig erholt, begeben wir uns ein letztes Mal und heute schon um 6:15 Uhr Richtung Startlinie. Mit 45,3 km und einer Gipfelhöhe von 2.909 m ist dies heute auch die Königsetappe der Salomon 4Trails. Es dröhnt laute Musik zwischen den Wohnhäusern. Ein paar ältere Damen klatschen zu AC/DC.
Sprachenwirrwarr – und „Stockgescharbe“ auf dem Weg nach oben. Ein grausames Geräusch! Die Lauftechnik mit Stockeinsatz möchte ich aber in den Bergen nicht mehr missen- ich könnte jetzt sogar Nordic Walking Kurse geben. Der erste Anstieg ist vorbei. Oder geht es doch noch weiter? Ich weiß es nicht mehr. Bis 12:15 Uhr müssen wir den VP 1 erreichen.
Es geht hoch und höher, vorbei an der 1919 erbauten Landecker Skihütte bis der VP 1 am Fisser Joch (2.432m) endlich erreicht ist. Zeit zum Mittagessen. Es ist jetzt 9:57 Uhr. Fast 3 Stunden für 13 Kilometer. Jetzt lässt sich Kay eine Blase behandeln. Ich sorge für die Verpflegung. Hier oben ist es kühl und sehr windig. Schnell weiter. Nun geht es runter bis zum Kölner Haus (1.965 m). Wir laufen im Skigebiet von SerfausFissLadis. Ich kenne das Gebiet – hier steppt im Winter der Bär.
Aufgrund überfüllter Pisten haben wir uns vorgenommen, vom Alpinskilauf auf Bergtourengehen umzusteigen. Die letzten Tage haben wir davon mal einen Eindruck gewinnen können. Wie schnell geht es doch mit den Liften in die schwindelnden Höhen und wie mühsam müssen wir uns einen Höhenmeter nach dem anderen erlaufen. Aber mit jedem Höhenmeter bist du stolzer und stolzer. Schafe, Kühe, Wildpferde genießen den Sommer auf der Alp.
Über die Scheid führt uns der Weg an der rechten Bergflanke leicht ansteigend über Geröllfelder bis zum Arrezjoch (Pass 2.587 m). Dort ist zum Glück erst einmal eine Pause angesagt. Wie lange? O.k. wir haben jetzt 12:30 Uhr nach Vorgabe hätten wir um 15:15 Uhr diesen Punkt erreichen müssen. Somit verbleibt uns doch ein wenig Zeit. Aber wir wissen, wie schnell ein Zeitpolster schwinden kann. Schnell ein wenig Brühe und etwas Käse mit viel Salz, dazwischen noch etwas Kuchen mit Schokoladenguss. Ständig das Gefühl nicht satt zu werden.
Aber die nächsten Kilometer geht es wieder aufwärts. „Wir wollen alle auf den gleichen Berg“ geht es mir im Sinne der ZEN-Philosophie durch den Kopf – ach was, die meisten sind doch schon längst oben. Nein, nicht solche Gedanken. Wir haben mehr davon, wir kosten die Zeit bis zur letzten Minute aus. Angelockt von dem nächsten Orientierungspfeil in Richtung Verpflegungspunkt trotten wir so richtig ordentlich im Gänsemarsch hintereinander her. Nach einem leichten Abstieg und folgendem Anstieg laufen wir an der bewirtschafteten Hexenseehütte (2.585 m) vorbei. Magisches und Spannendes erzählt man sich aus diesem Masnergebiet. Kommt der Name vom See, um den die Hexen tanzten und dann verschwanden oder ist der majestätische Hexenkopf der Namensgeber. Keiner weiß es so ganz genau. Bekannt ist allerdings, dass die Hexenseehütte heute dem DAV, Sektion Rheinland/Köln, gehört, eine der ursprünglichsten und urigsten Holzhütten in diesem Gebiet ist. Das Grün des Hexensees ist atemberaubend intensiv.
Wir kommen kaum voran. Der Weg ist schmal, fällt ab und steigt an. Hinauf oder hinunter, man kann es nicht mehr erkennen, es macht einen verrückt. Große Gletschersteine säumen den gut markierten Weg und führen an glasklaren Seen vorbei. Das Zeitgefühl hat nichts mehr, an das es sich klammern kann. Wir überlegen, ob wir eigentlich etwas vermissen. Bestimmt nicht Fernsehen und Telefon. Es geht noch höher bis zur Ochsenscharte (2.787 m). Die Zeit vergeht, die Sonne glüht. Das ist kein Anstieg mehr, das ist ein Gefälle. Noch sind es ca. 15 Kilometer bis zum Ziel, wir dopen uns mit Gels und Schokolade.
Mehrere hochalpine Übergänge fordern noch einmal vollen Einsatz. Nur noch Gefälle vorbei an der Stierhütte und den Zanderwiesen wir fliegen sozusagen langsam abwärts über die österreichisch/schweizerische Grenze an der Zollhütte auf 2.140 m.
Esel und Schafe harmonieren ausgezeichnet zusammen. Esel galten schon früher als Beschützer der Scharfe. Sie fressen gerne Geilgras. Geilgras ist dasjenige, das um die Kuhfladen herum sprießt und von den Kühen nicht gefressen wird. Ganz erstaunlich ist es, zu erkennen, dass Kühe im Gelände keinen Höhenmeter zu viel gehen. Möglichst flach an den Hängen entlang und nicht wie wir es tun – auf und ab über die Kämme und Gipfel.
Man sieht den 2.306 m hohen Schafsattel. Eine tolle Aussicht, aber keine Zeit. VP3 erreichen wir um 15:10 Uhr. Vorgabe: 16:45 Uhr. Ja, jetzt wissen wir es, wir haben es geschafft und wir sind geschafft. Nun laufen wir auf der Schwitzer Seite weiter in Richtung Samnaun.
Bereits zwischen 800 – 1000 n. Chr. waren die ersten Siedler auf der Suche nach neuen Weidegründen vom Unterengadin ins Samnauntal unterwegs. Die einzigen Verbindungen zur Außenwelt stellten die Pässe zum Engadin und Paznaun sowie ein Ochsenkarrenweg über Spiss nach Pfunds her. Über diesen Ochsenkarrenweg entwickelte sich ein reger Handel mit dem benachbarten Tirol. Seit dem Jahre 1892 ist Samnaun zollfrei – Europas höchstgelegene Shoppingmeile. Diese Gelegenheit werden wir uns nachher nicht entgehen lassen – wenn wir nur rechtzeitig ins Ziel kommen. Bis um 18:15 Uhr müssen wir das Ziel erreicht haben, haben so lange die Geschäfte offen?
Wir befinden uns im Grenztal zur Schweiz. Es ist die Zeit des Heuens und die Hänge sind gemäht, es riecht nach frischem Heu. Da die Hänge hier sehr steil sind, helfen Groß und Klein in Handarbeit mit das Heu auseinander zu schütteln und zu verteilen, damit es besser trocknen kann. So ein Bild bekommen wir Städter sonst nie zu sehen.
Die letzten Kilometer laufen wir im Zandertal auf dem Zitaten- und Aphorismenweg. Am Wege platzierte Zitate und Aphorismen bekannter Philosophen verkürzen uns die letzten Kilometer bis in den Ort Compatsch. Wir laufen an der denkmalgeschützten Pfarrkirche St. Jacob, die um 1500 erbaut wurde vorbei. An zwei verkleideten Murmeltieren ist ein Schild mit der Aufschrift 4,2 Kilometer befestigt. Es wird uns immer bewusster, noch etwa 4 Kilometer und wir sind im Ziel in Samnaun. Eine Kleinigkeit, wenn man sich vor Augen hält, dass wir 157 Kilometer mit 9899 Höhenmetern in den letzten 4 Tagen über Pässe und Gipfel gehastet sind. Freude kommt hoch, Tränen stehen in den Augen.
Auch innerhalb von Herden werden Rangordnungen ausgefochten. Die richten sich weniger nach reiner oder emotionaler Intelligenz, sondern schlicht und einfach nach den Kräfteverhältnissen. Die Stärksten gewinnen. Gewisse Vorteile können kleinere Tiere ausspielen, die noch Hörner tragen. Da dies innerhalb des Alpverbandes immer seltener wird, steigen die Chancen der kleinen, horntragenden Tiere.
Nicht mehr weit und wieder ist ein Meilenstein erreicht und die eigene Leistungsgrenze wieder ein Stück verschoben. Was für eine Teamleistung. Wir hatten einen guten Plan, eine erfolgreiche Strategie – und vor allem – das nötige Glück, das man braucht, wenn man sich einer solchen Herausforderung stellt.
Für uns beginnt der Almabtrieb bereits nach vier Tagen. Aber vom 3. bis 10. September 2011 beim Transalpine-Run können wir beide unsere neu gewonnenen Freunde am Berg besuchen. Denn erst im Winter kommen die Schafe wieder in ihre Ställe, so lange verbringen sie die Zeit in den Bergen. Glücklich und erschöpft sitzen wir im Zielbereich.
Denn das ganze Leiden verwandelt sich hinter der Ziellinie in eine Erinnerung an Lust. Je größer das Leiden war, desto größer die Lust. Ein Gerichtsvollzieher aus Frankfurt erzählt mir von 70 und 100 km langen Läufen. Vielleicht nicht unbedingt der richtige Zeitpunkt, um uns für weitere Abenteuer zu motivieren bei unseren Schmerzen in den Beinen.
Wir sind über die Berge gehetzt, wir haben uns immer beeilt und nun sitzen wir an der Bushaltestelle und haben eine Stunde Zeit. Auch hier tickt unaufhörlich die Uhr. Wenn wir diese letzte Hürde nicht schaffen, dann erleben wir nicht die Finisherparty und bekommen auch nicht das schwerverdiente Shirt. Die welterste Doppelstockbahn (Platz für 180 Personen) bringt uns um 19:00 Uhr von Samnaun auf den Alp Trida Sattel. Dort findet die Finisher Party statt.
Geschafft, wir sind oben und es ist Zeit, noch einmal den Blick über die Berge schweifen zu lassen. Stefan hat noch so viel Kraft, um mich übermütig hochzuwerfen. Wer erst einmal oben angekommen ist, kommt so schnell nicht mehr weg, denn die erste Gondel zurück ins Tal fährt erst gegen 22.00 Uhr.
Nun können wir doch mit einem zollfrei erworbenen Parfüm und frisch duftend auf der Finisher-Party erscheinen und uns die kleinen und großen Sünden im Almparadies gönnen.
Nur 128 glückliche Finisher sind nun Träger des grünen Trikots, die restlichen Shirts werden vernichtet. Ein besonderes Bonbon sind die heißbegehrten drei Qualifikationspunkte für den Ultra-Trail du Mont-Blanc 2012. Für viele war dies ein zusätzlicher Anreiz, bei den SALOMON 4 TRAILS dabei zu sein.
FAZIT: Aus WIKIPEDIA: „Wandern ist eine Form des Gehens über längere Strecken in der Natur, die heute hauptsächlich als Freizeitbeschäftigung von Bedeutung ist“.
Die Trailrunning-Scene ist um eine Attraktion reicher. Trailrunning ist im Aufwind. Trailrunning fängt da an, wo der Asphalt aufhört. Die SALOMON 4TRAILS sind Trail Adventure. Es umschreibt die wohl bedingungsloseste, sportivste und anspruchsvolleste Ausprägung von Trailrunning.
Landschaftlich außergewöhnlich schön. Allerdings ist das bröselige, splittrige Gestein nicht wirklich angenehm zu begehen oder zu besteigen; festen, griffigen Fels sucht man hier vergebens. Wer nicht wirklich 100% trittsicher ist oder lieber gut angelegte Wege mag, wird hier keine Freude haben. Aber wir haben in jeder Hinsicht die professionellste Organisation erlebt, die man sich vorstellen kann. Herzlichen Dank dafür.