Harzquerung 2011
Wart ihr schon mal druff?
Während Kate in London sich ihr weißes Hochzeitskleid anzieht, überlege ich noch, was ich einpacken soll und entscheide mich spontan für das kleine Schwarze und statt Pumps packe ich doch lieber die Crosslaufschuhe ein. Eine Stunde später sitzen wir mal wieder im Auto und diesmal geht es nach Wernigerode in Sachsen-Anhalt.
Die letzten Kilometer fahren wir in sanften Wellen über die Landstraße. Blühender Raps überzieht die Landschaft wie ein Teppich. Wir freuen uns auf die Stadt und den bevorstehenden Lauf.
Bei der Teilnahme am Brockenlauf 2007 konnten wir die Schönheit Wernigerodes ausgiebig kennenlernen und übernachteten im Hotel Gothisches Haus. Es zählt zu den ältesten Gebäuden und befindet sich direkt am Mittelpunkt der Stadt gelegenen Marktplatzes, der seine Faszination vor allem dem spätgotischen Fachwerk-Rathaus verdankt. Es ist eine romantische Stadt mit Fachwerkhäusern aus fünf Jahrhunderten, kleinen Gassen und das hoch über der Stadt gelegene Schloss der Fürsten zu Stolberg-Wernigerode.
Natürlich wollen wir diesmal auch wieder im Gothischen Haus übernachten, aber niemals haben wir damit gerechnet, dass nicht nur dieses Hotel belegt ist, sondern weit und breit alle Hotels und Pensionen. Die Stadt wimmelt von Menschen, denn, an Walpurgis ist im ganzen Harz die Hölle los! In der Nacht zum 1. Mai ritten einst die Hexen auf Besen, Mistgabeln, Böcken und Schweinen zum Hexensabbat auf den Brocken, um sich dort in Orgien mit dem Teufel oder anderen Unholden zu vereinigen. Dies thematisiert auch Goethe in seinem „Faust“. Jene Nacht, als Gott Wotan und Göttin Freya nach germanischen Glauben den Frühling zeugten.
Eine Möglichkeit zu Übernachten haben wir noch. DIE Turnhalle – und Klaus meinte ja auch, dies sollten wir uns auf gar keinen Fall entgehen lassen. Von der Turnhalle sind es nur ca. 500 Meter bis in die Altstadt von Wernigerode. Also machen wir uns auf den Weg. Wir lernen, dass das Lieblingsgetränk der Harzer der Gerstensaft ist. Am bekanntesten ist wohl das Hasseröder Bier, das in Wernigerode mit jährlich 2 Mio. Hektoliter gebraut wird. Weitere Harzer Spezialitäten sind u.a. das „Harzer Grubenlicht“ und der „Schierker Feuerstein“ alles nicht so wirklich geeignet, um den Flüssigkeitshaushalt für den bevorstehenden Lauf aufzufüllen. Statt einem „Harzer Roller“ für die Kohlehydratauffüllung bevorzugen wir Nudeln Bolognese bei einem Italiener in der jetzt übervollen und daher nicht mehr ganz so romantischen Altstadt. Auch alles andere als romantisch ist die Übernachtung, eher rustikal, so wie eben der ganze Charakter dieses Laufes.
17:00 Uhr: Eine lange Teilnehmerschlange steht vor einem mit Graffiti besprühtem Gebäude. Manche Läufer wie wir ausgestattet mit Isomatten und Schlafsäcken. Wir bekommen den ersten Schock an diesem Nachmittag. Die wollen doch nicht alle dort übernachten? Von ganz hinten sehen wir, wie ganz vorne Sigrid Eichner völlig lässig und entspannt mit dem Schlafsack unter dem Arm die Halle betritt. Na gut denken wir, sie darf das, denn immerhin hat sie bereits vor über 20 Jahren diesen Lauf schon mal gewonnen und sicherlich hat sie hier auch schon 20mal übernachtet. Irgendwann haben auch wir den Eingangsbereich erreicht.
Ein älterer Herr, später stellt sich heraus dass es der Organisator des Laufes ist, weist lautstark darauf hin, dass wir an der aufgestellten Tafel unsere Startnummern schon heraussuchen sollen. Wir überlegen uns eine Taktik, wie wir doch noch einen „schönen“ Schlafplatz ergattern und teilen uns auf. Kay stellt sich in die Schlange für die Ausgabe der Startnummern und ich schnappe unsere Taschen und stürme die Turnhalle.
Schnell, schnell sonst sind alle Turnmatten weg. Puh, nassgeschwitzt vom Zerren und Reißen habe ich es aber doch geschafft, die letzten zwei Turnmatten für uns zu ergattern und lege schnell zur Kennzeichnung des Reviers unsere Schlafsäcke darauf. Die begehrten Wandschlafplätze sind alle schon belegt und so schiebe ich noch eine Bank an unsere Kopfseite und stellte die Taschen darauf. Na also, sieht dann doch ganz gemütlich aus. Wir inspizieren die sanitären Anlagen und kommen uns vor wie im Time Tunnel. Wir rätseln, wie lange diese Halle wohl schon steht und ob wir am morgigen Tag hier oder in Nordhausen duschen können. Gut ausgerüstet wie wir sind, hanen wir unsere Pads-Kaffeemaschine mitgenommen, denn ohne Kaffee läuft gar nichts. Wir müssen nur noch eine Steckdose finden. In der Damentoilette wurde ich fündig, auch wenn diese keinen wirklich guten Eindruck vermittelt.
Vorsichtshalber richten wir aber auch unser Auto schon mal für die Nacht. Falls es gar nicht auszuhalten wäre, so können wir doch den Schlafsack schnappen und ins Auto „auswandern“. Diese Idee wäre nicht schlecht, wenn man mal davon absieht, dass auf dem großen Parkplatz ein Zirkus Winterquartier bezogen hat, der scheinbar zu einer Diskothek umgerüstet ist, mit einer superklaren gut zu hörenden Soundanlage. Aber soweit sollte es doch nicht kommen.
Mein aufblasbares Kissen verliert die Luft, der Dielenboden knarrt und stöhnt bei jedem noch so leichten Läufer, der sich auf seinen nächtlichen Gang begibt. In einer Ecke sitzen noch einige Läufer und erzählen sich gegenseitig ihre Abenteuer. Vereinzelt sieht man kleine Lichtquellen, die an den Köpfen der ruhenden Läufer befestig sind. Neben uns schlägt ein Läufer sein Quartier auf und neidisch fällt mir sofort seine Tasche mit dem Aufdruck auf: Transalpin-Run. Während er sich an seinem Schlafplatz umkleidet ist zu erkennen, dass er ein Trailrunner durch und durch sein muss. Ich wünsche, wir hätten unser Finisher-Shirt vom Transalpin-Run auch schon. Aber jetzt sind wir erst einmal hier in der Turnhalle. Versehen mit Kopfhörern und Hörbuch sowie bereitgelegten Oropax schlüpften wir in unsere Schlafsäcke und versuchen zu schlafen. In Goethes „Faust“ gibt es den Vers: „Und die Klippen, die sich bücken, und die langen Felsnasen, wie sie schnarchen, wie sie blasen…“. War der auch mal hier?.
Gegen 6:00 Uhr ist dann auch für uns die Nacht vorbei. Mal abgesehen von dem Alptraum, dass meine langen Haare komplett zu einem Kurzhaarschnitt einfach abgebrochen sind. Wahrscheinlich kam es zu dem Traum, weil fast alle Frauen, die ich hier sehe, einen Kurzhaarschnitt haben – und ich meine richtig kurz. Sonst war die Nacht gar nicht so unerträglich wie befürchtet.
Mit Zahnbürste und Kaffeemaschine mache ich mich auf zur „Morgentoilette“. Auf der Turnmatte sitzend, lassen wir uns unser mitgebrachtes Brot und Eßzet-Schnitten mit einem heißen Kaffee schmecken. Alles in allem, auch eine gewisse Art von Romantik, auf jeden Fall halb so schlimm und wirklich zu empfehlen.
Es pfeift und dampft, Geräusche aus vergangenen Tagen. Gegenüber der Turnhalle ist der Bahnhof Westerntor und Standort der bekannten Harzer Schmalspurbahn. Diese Bahn würde uns mit 25km/h bequem an den Zielbereich nach Nordhausen bringen, wir bräuchten statt unserer Startnummer nur eine Fahrkarte. Die Sonne läßt sich schon ganz früh blicken und die Vorfreude auf die bevorstehenden 51 km wird immer größer.
Ganz viele Läufer machen sich schon zum x-ten Mal auf diese Harzquerung und schwärmen uns vor, dass dieser Lauf überhaupt der schönste von allen sei. Sie haben übertreiben nicht, das verrate ich schon mal. Gegen 8:15 Uhr verlassen wir unser Nachtlager und geben unsere Kleiderbeutel am bereitgestellten LKW ab. Es stehen zwei LKW´s bereit. Einer für die 25 km Läufer und einer für die 51 km Läufer. Nun müssen wir nur noch ca. 300 Meter bis zur Startlinie gehen, um zu erkennen, gestartet wird gegen den Berg. Bei der Startaufstellung treffen wir Bekannte unter anderem auch Ina und Klaus, mit den wir bereits beim Bilstein-Marathon ein paar Worte wechselten. Beide nehmen die komplette Strecke, wie auch schon in Bilstein, als Walker unter die Füße. Gemeinsam trainieren sie, wie wir beide auch, für den Transalpin-Run. Schnell erzählen wir uns die Trainingstaktiken und schon fällt der Startschuss.
Das über 500 Teilnehmer starke Läuferfeld setzt sich langsam in Bewegung. Kein Gedrängel, kein Geschiebe, diszipliniert laufen alle hintereinander auf die erste Steigung. Man kann nicht rennen, vielleicht ganz vorne. Wir sind mal wieder sehr weit hinten und da geht es nur im Schritttempo voran – aber es machte Spaß. Hinter mir höre ich es hecheln und schnaufen dann sagt ein Läufer: „Bist du das Hans?“ Nein, es hört sich wirklich nicht gut an, es sei denn man wäre ein Hund! Ein Husky genauer gesagt, dem dieses Tempo viel zu langsam ist. Mit seiner Kraft und Power hätte er locker sein Herrchen den Berg hinaufziehen können. Aber auch die beiden müssen sich einreihen. So geht das etwa 15 Minuten und ganz langsam kann man vom Traben ins Laufen übergehen. Nach ca. 45 Minuten erleben wir das erste richtige Highlight – ein in der Morgensonne ruhig liegender Stausee – mit ein wenig Fantasie kann man sich nach Kanada versetzt fühlen.
Erst 6 km gelaufen und im Lauf ist schon alles drin, was sich ein Landschaftsläufer wünscht. 45 Jahre war der Harz geteilt. Zwei Drittel lagen in der DDR, ein Drittel im Westen, dazwischen die fast unüberwindliche Grenze mit Stacheldraht, Todesstreifen und Schießbefehl. Alles fast schon unwirklich, wenn man diese wunderschöne Landschaft sieht.
Wir überholen einen Läufers und kommen ins Gespräch. „Wart ihr schon mal druff?“ fragt er. Ja, bei diesem Lauf ist es wohl wie bei dem Rennsteiglauf, da ist man wohl druff auf dem Weg, Berg, oder was auch immer. Zumindest warn mer gut druff, wie wir Hessen sagen, auch wenn die Muskeln, Knochen und Gelenke ständig ein Wörtchen mitreden wollen.
Immer wieder mal überholt man einzelne Wanderer, die man nicht nur an der Startnummer, sondern auch an den schweren Rucksäcken erkennen kann. Die Wanderer sind bereits seit 5:00 Uhr auf der Strecke und ich frage mich, ob es wohl angenehmer wäre zu wandern statt zu laufen? Aber dann höre ich, wie sich einer über seine schmerzenden Füße beklagt und ich denke: Also doch keine Alternative. Ganz bewusst versuchen wir jeden Eindruck aufzunehmen. Wir müssen aber aufpassen, die Wege sind sehr anspruchsvoll. Es gilt Baumstämme zu übersteigen, kleine Flussläufe müssen auf rutschigen Holzstegen überquert werden und immer wieder mal Wurzeln und Gestein. Die Bilder zeigen euch das ständige Auf- und Ab der Strecke, immerhin 1.200 HM kommen zusammen.
Entlang der Strecke sind in Abständen von jeweils etwa 10 Kilometern insgesamt vier Verpflegungspunkte aufgebaut, an denen es Schmalz- oder Butterbrote, Äpfel, Zitronen oder, ganz lecker, Orangenscheiben gibt. Auch bei den Getränken gibt es alles, von Tee bis Cola. Die Strecke ist gut und eindeutig markiert mit zusätzlichen Kreidepfeilen auf dem Boden.
Breite, befahrbare Wege gibt es so gut wie keine. Meist läuft man auf kleinen, wunderschönen Pfaden. So kann man die Landschaft des Harzes tatsächlich, wie beschrieben, in seiner Ursprünglichkeit genießen. Ich meine sogar, Wildschweine gehört zu haben. Es fällt auf, dass kaum ein Läufer mit Ohrstöpseln unterwegs ist.
Die Zeit vergeht im Nu. Mir fällt eine liebe Freundin ein, für die schon ein Stein auf dem Asphalt ein Hindernis darstellt. Was für den einen Läufer noch ein genialer Trail ist, ist für den anderen schon eine Zumutung. Meistens weiß man ja im Vorfeld nicht, auf was man sich einlässt und welche Herausforderungen auf einen warten. Aber das ist der Reiz bei Landschaftsläufen oder beim Trailrunning. Ich laufe weiter und überlege, wie ich ihr das vielleicht mal schmackhaft machen kann. Ich arbeite daran, versprochen, Heike!
Längere Zeit bergauf zu laufen ist sehr anstrengend – körperlich und mental. Man läuft nicht gegen die Anderen sondern nur gegen den Berg. Bei Kilometer 39 haben wir den höchsten Punkt der Strecke erreicht, den Poppenberg, 600,8 m hoch. Für uns nicht hoch genug, denn den 1894 errichteten 33,5 Meter hohen Aussichtsturm besteigen wir auch noch. Die zusätzlich Mühe lohnt sich. Bei dem herrlichen Wetter heute ist die Sicht fantastisch und reicht bis zum Thüringer Wald. Vor diesem Aussichtsturm gibt es eine weitere Verpflegungsstation. Von oben sehen wir viele Läufer beobachten die wir irgendwann mal überholt hatten. Lange hielt es uns aber nicht dort oben, denn dort pfiff ein kalter Wind, für ein Foto war aber noch Zeit.
Beim Marathon ist man bei Kilometer 39 glücklich, den Lauf bald geschafft zu haben. Für uns geht es heute aber noch 12 Kilometer weiter. Dass es dabei jetzt nur noch bergab gehen sollte, ist ein Gerücht. Erst ab Kilometer 46 und der letzten Verpflegungsstation kann man es rollen lassen, wenn man noch was drauf hat. Wir waren schon mal schneller bergab.
Es geht nur noch über Wiesen und durch einen kleinen Ort und schon sieht man von weitem den Zieleinlauf im Stadion. Ein kleiner Junge drückt mir einen Aufnäher anstelle einer Medaille in die Hand und das war´s. Die schnellen Läufer sind wahrscheinlich schon zu Hause oder sie liegen noch im Gras in der Sonne. Es gibt heiße Brühe und wer jetzt noch Lust hat, der kann sich hier auch noch ein paar neue Schuhe kaufen können. Ich bin heilfroh, endlich meine Flip-Flops anziehen zu können und freue mich auf eine heiße Dusche. Vielleicht haben die meisten Ultraläuferinnen genau deswegen Kurzhaarschnitte, fällt mir unter der kalten Dusche ein. Jedenfalls wünsche ich mir für einen Moment ebenfalls so eine praktische Frisur.
Am Bus sehen wir Peter Unverzagt wieder, den Mann von der Anmeldung gestern. Ganz liebevoll bedankt er sich bei den Teilnehmern im Bus für die Teilnahme, hofft, dass uns der Lauf gefallen hat und verspricht, dass er zum Gedenken an den Begründer des Laufes, Herbert Pohl, die Veranstaltung weiterführt. Dafür gibt’s kräftigen Applaus. Eine Stunde braucht der Bus zurück nach Wernigerode, um 21:00 Uhr sind wieder zu Hause.
Wir wollten es ja nicht bequem, eher rustikal. Da waren wir hier gerade richtig! Bei der Harzquerung konzentriert man sich auf das Wesentliche. Und das macht den Lauf zu einem ganz besonderen.