Koberstädter Wald-Marathon 2011
Von der versunkenen Stadt und fürstlicher Jagd
Wo verläuft die feine Grenze zwischen Urzeit und Geschichte? Am geheimnisvollsten Ort im Kreis Offenbach. Das Gelände mit seinen hohen alten Bäumen heißt noch heute „Koberstadt“. Es wird berichtet, von der versunkenen Stadt und fürstlicher Jagd. Auch jetzt ist die Koberstadt wieder versunken unter einem Unwetter und gejagt wird hier seit 33 Jahren – nach Vereinskollegen oder den eigenen Rekorden.
Nach einer Sage erregte der Lebensstil der Bewohner der Koberstadt den Unwillen Gottes. Er schickte sie deshalb in den Untergang. Schickte er auch deshalb vergangenen Mittwochnachmittag Sturm, Hagel und Gewitter über die Region? Die Vorbereitungen zum Waldlauf mit der Schnapszahl 33. waren abgeschlossen, die Organisatoren hatten wieder mal alles im Griff – bis ein Gewitter den Koberstädter Wald gebeutelt hat. In Langen wurden über 60 Häuser abgedeckt und Bäume entwurzelt. „Teilweise wüst“ sieht es in den Wäldern rund um Langen und Egelsbach aus, sagt der Leiter der Forstbehörde.
Etliche Wege sind durch umgestürzte Bäume blockiert.
„Es sei am sichersten, den Wald ganz zu meiden“ sagt er. Die Darmstädter Forstbehörde hat die Genehmigung für den diesjährigen Lauf zurückgezogen. Die Verantwortlichen reagierten schnell – mit einer Streckenänderung. Alle Teilnehmer werden über die veränderte Laufstrecke per Regionalpresse, E-Mail und Internet informiert.
Völlig unaufgeregt fällt um 8:00 Uhr am Rande des Sportzentrums am Berliner Platz der Startschuss auf die veränderte Laufstrecke. 2222 – mit dieser Startnummer als Schnapszahl um meine Hüfte, laufen wir mit 130 Läufern und 23 Läuferinnen zur sagenumwobenen Koberstadt. Die Regionalpresse ist auch am Start, aber nur um Fotos zu schießen. Wir reihen uns wie immer hinten ein und treffen viele Freunde und Bekannte. Wenn alles gut läuft, dann sind wir so um die +/- vier Stunden wieder hier zurück im Stadion. Mal sehen, was uns in den nächsten Stunden erwartet. Den ersten Kilometer laufen wir durch Egelsbach. Eine Kollegin winkt von ihrem Balkon.
In der Überlieferung wird behauptet, dass die rote Färbung des Erdreiches rund um Langen vom Blut der Bewohner der Koberstadt herrühre. Heute weisen in dem Waldstück keine sichtbaren Spuren mehr auf die Existenz einer Stadt hin. Trotzdem wollen wir mal die Augen offen halten, vielleicht finden wir ja was, was Kay fotografisch festhalten kann. Der Ort liegt im Rhein-Main-Gebiet südlich des Mains zwischen Frankfurt am Main und Darmstadt. Die 10.000-Seelen-Gemeinde hat den verkehrsreichsten Verkehrslandeplatz in der Bundesrepublik Deutschland und entlastet damit den nur 20 Kilometer entfernt liegenden Frankfurter Flughafen. Aber ganz in der Nähe des Frankfurter Kreuzes, der Autobahn 661 und der A5 steht man bereits in diesem Wald.
Wir laufen an Kleingärten vorbei, über die langgezogene Autobahnbrücke der 661. Leider sehr wenig im Wald. Die UN hat das Jahr 2011 zum „Jahr der Wälder“ auserkoren, so sollte man doch wenigstens einen Marathon im Wald gelaufen sein.
Oha, ein erster kleiner Anstieg. Ich freue mich, wie gut das geht. Bei Kilometer 4 würden wir auf der Originalstrecke am „Weißen Tempel“ am Ernst-Ludwig-Platz vorbeikommen. Es ist logischerweise nach seinem Erbauer, Großherzog Ludwig III benannt. Der Vorgängerbau wurde um 1850 errichtet. Der markante, unverwechselbare Pavillon gibt normalerweise eine Orientierung im weitläufigen Wald und ist ein beliebtes Ausflugsziel. Heute jedoch orientieren wir uns auf die Pfeile an den Bäumen oder auf dem Boden.
Nun geht es leicht abwärts. Ein Streckenabschnitt in dem wir wieder Zeit gutmachen können, die wir hinter den Büschen „vertrödelt“ haben. Erster Verpflegungspunkt. Viele Helfer mit Bechern in der Hand rufen: „Iso, Wasser, Apfelsaftschorle, Bananen“. Ich weiß gar nicht, wo ich zuerst zugreifen soll.
Kilometer 6. Wie wäre es erst gewesen, wenn im 16. Jahrhundert das durch Graf Wolfgang von Ysenburg-Ronneborg projektierte Schloss anstelle in Kelsterbach am Main doch unweit von hier gebaut worden wäre? Sicherlich haben sich die damaligen Fensterputzer ein lukratives Geschäft erhofft, denn es sollte ein Schloss werden mit 365 Fenstern – für jeden Tag des Jahres ein Fenster.
Der Sage nach stand hier eine Stadt, die vom Meer verschlungen wurde.
Ein paar Pfützen auf der Strecke können gar nicht glauben machen, das hier vor ein paar Tagen dies heftige Gewitter runter kam und wer weiß, vielleicht wäre die Koberstadt ein zweites Mal verschlungen worden. Rechts von uns ist eine Pferdekoppel, die Pferde laufen soweit es geht ein Stück mit uns. Vor uns, etwa bei KM 10 findet Kay endlich ein Fotomotiv. Leider keine Wallanlage oder eins der vielen Hügelgräber, dafür aber die Kläranlage von Offenthal, von der uns aber kein übler Geruch in die Nase zog. Nun befinden wir uns unweit vom Naturschutzgebiet Mörsbacher Grund. Wieder ein Verpflegungspunkt wieder unglaublich viele Helfer. Jetzt bekommen wir von einem Helfer den ersten Strich auf die Startnummer, um uns in der zweiten Runde von den Halbmarathonläufer zu unterscheiden. Schön eigentlich, dass die Helfer die Unterscheidung nicht an den verzerrten Gesichtern oder der gebeugten Körperhaltung festmachen.
Es herrscht die optimalste Lauftemperatur – ich schätze so an die 20 Grad. Zwei kurze, kleine Steigungen nehmen wir noch immer ganz locker. Das ausgedehnte Waldgebiet ist einer der Ausläufer des Odenwaldes. Daher ist die Strecke leicht hügelig. In unserer Gegend hier wird dieser Lauf sogar als „Berglauf“ beschrieben – aber dies ist doch ein wenig übertrieben bei ca. 250 Höhenmetern. Jetzt befinden wir uns auf einem asphaltierten Streckenabschnitt. Ich sehe einen Wegweiser: „6 KM zur Grube Messel“. Leider führt er nicht in unsere Richtung.
Die Grube Messel ist UNESCO-Weltnaturerbe-Denkmal.
Im Gedanken tauche ich ein in eine Zeit vor Jahrmillionen. Die Gegend hier sah noch ganz anders aus als heute, lag sie doch noch auf dem Breitengrad Sardiniens. Wie in heutigen Regenwäldern, war auch der Messeler Urwald diejenige Region, in der die größte Artenvielfalt herrschte. Hier wurde u. a. auch das rund 47 Millionen Jahre alte Affen-Fossil „Ida“ gefunden das laut Experten bahnbrechende neue Informationen über die Evolution des Menschen bietet. Man denke nur an die Laufvögel. Ich meine jetzt nicht meine Mitläufer hier auf der Strecke, sondern den „Palaeotis weigelti“ – der Urstrauß. Hierbei handelt es sich zweifellos um eine flugunfähige Art, die mit zu den Seltenheiten in Messel zählt. Nirgendwo sonst in Deutschland sind Tiere der Urzeit als Ganzes so anschaulich und in so großer Vielfalt erhalten wie in der Grube Messel.
15 Kilometer und erste kleine Schwächeerscheinungen? Höchste Zeit für den ersten Gel-Chip. Auch hier lebten Kelten. Der Name Koberstadt leitet sich übrigens von Kupferstädte ab, denn schon früh wurden hier Metallfunde gemacht. Da kommt mir so eine Idee: „Vielleicht sollten wir mit Schaufeln ausgerüstet in den Wald vorstoßen und graben und graben“. Am Ende haben Archäologen bei ihrer Suche etwas übersehen und wir finden das Gold in den unendlich vielen Hügelgräbern, der Ankaufpreis für Altgold ist ja momentan hoch wie nie.
KM16 und 17 mit leichter Steigung. Am Ende der Steigung der nächste Versorgungsstand. Ich schaue auf die Uhr, jetzt scharren bereits die Halbmarathon-Läufer in den Startreihen. Einige bekannte Gesichter stehen am Start und ich hoffe, einige von ihnen werden uns auf der nächsten Runde noch begegnen.
Manchmal tritt das Schaudern unvermittelt aus der Idylle hervor.
Irgendwo hier zwischen den Bäumen und unter dem Laub verborgen liegen die keltischen Vorfahren der Langener begraben. Sie fürchteten Götter wie die Urmutter Danu, Og, den Riesen, oder Gowan, den Schmied ich fürchte vielmehr das Tempo nicht halten zu können. Da kommt doch die Horde Römer, quatsch, Halbmarathonläufer, gerade richtig um die Geschwindigkeit wieder hochzuziehen. Kilometer 19 sehen wir schon den Halbmarathondurchlauf. 2006 hat mich das bereits beflügelt. Auch diesmal ist es einfach genial, in den Pulk von fast 800 Halbmarathonläufern eingesogen zu werden.
Toll, wie der Körper wieder an Spannung gewinnt, die Arme kraftvoll vor und zurück schwingen und wir slalomartig durch die Massen laufen. Kein Marathon-Trott mehr. Wir laufen so lange an den etwas langsameren HM-Läufern vorbei , bis wir auf jene stoßen, die uns nachher bis ins Ziel ziehen werden. Es macht einfach Spaß und ist kurzweilig. 2006 ging die Rechnung auf. Und heute? Läufer leben gefährlich. Vor tausenden von Jahren nicht weniger als im Hier und Heute. Angeblich kurvt in der Koberstadt ein mit Katzen bespannter Wagen umher, ein Mann ohne Kopf geht spazieren und ein Hirsch bringt Wanderer vom Weg ab. Ist das die Menschengruppe die wir hier an der Waldlichtung sehen? Kay meint, es wäre nur ein Waldgottesdienst.
Halbzeit! Uhrzeit? Kein Ahnung, aber ich fühle mich um Längen besser als 2006. Jetzt sollte auch die Horde von 10-Kilometer-Läufern den Wald unsicher machen. Den besonderen Reiz macht für viele der Pfungstädter Lauf-Cup 2011 aus. Wahrscheinlich erfolgt daher die Zeitmessung ausschließlich mit dem Champion-Chip. Eben fällt mir auch ein, dass bei diesem Lauf auch die südhessischen Marathonmeisterschaften ausgetragen werden. Würde ich so flott wie 2006 laufen können, dann hätte ich vielleicht sogar Chancen auf einen AK-Sieg und wäre virtuelle südhessische AK-Meisterin. Hört sich dieser Titel nicht genial an? Vielleicht hätte ich da aber von Anfang an nicht so trödeln und unterwegs nicht so viel schlerschtbabbele sollen. Ganz schnell verwerfe ich solch Kopfkino, ist es doch für uns nur ein letzter langer Lauf vor dem eigentlichen Event in der nächsten Woche.
Weiter vorne erkenne ich Alex. Er läuft ganz locker – wie immer eigentlich. Wir laufen ein Stück gemeinsam und er erzählt uns vom „Gondo-Event“. Leider verlieren wir ihn an der nächsten Verpflegungsstelle, denn dort herrscht jetzt mit allen Läufern auf der Strecke Hochbetrieb.
Die schnellsten Marathonläufer werden wahrscheinlich jetzt schon ins Ziel einlaufen. Wir haben noch ein Stück. Hier bewegen wir uns nicht am Limit, sind aber trotzdem schnell. Gut, endlich einmal einen satten konditionellen Reservepuffer zu verspüren. So müsste das immer sein. Es sind doch noch 12km zu laufen. Jetzt auch noch die beiden kleinen Steigungen. Nochmal Gel rein. Asphaltweg. Reserven locker machen.
Immer wieder hören wir über uns bedenkliche Geräusche.
Stammen sie von einem größeren libellenähnlichen Fluginsekt zum Beispiel dem Meganeura-monyi heute auch Hubschrauber genannt? Noch 8 Kilometer – meine magische Zahl. Zum dritten Mal laufen wir auf dem Europäischen Fernwanderweg Nr. 1. der die Nordsee bis zum Mittelmeer und Flensburg mit Genua verbindet. Eigentlich nichts besonderes, aber die Mitte der Strecke, die in Luftlinie beide Städte verbindet, liegt in der Koberstadt. Es liegt nur an mir. Kay geht jedes Tempo mit. Durchbeißen. Durchbeißen.
Noch 4,2 km. Kay´s GPS sagt etwas anderes, ich ignoriere seinen Zweifel. Abzweig nach Egelsbach. Wieder an den Kleingärten vorbei, die B3 überqueren nach Egelsbach. Es ist fast geschafft. Den Sprecher im Stadion kann ich schon hören. Wir biegen ein ins Stadion. Nur noch eine 3/4 Runde und die zieht sich uuuuunnnneeenndddlliiicchhh. Die Stadionrunde ist die Belohnung für die Mühen. Leute klatschen. Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts wurden Schnell- und Kunstläufe in Deutschland ausgetragen. Überwiegend handelte es sich dabei um Langstreckenläufe, die zum Amüsement der Zuschauer durchgeführt wurden. Der Bekannteste Schnellfüssler war der Langener Johann Valentin Görich. Er brach ebenfalls auf in die weite Welt um sich läuferisch zur Schau zu stellen (wie wir). Sicherlich waren auch die materiellen Aussichten eines Schauläufers verlockender als die eines biederen Handwerkers: konnte er doch durch die öffentlichen Auftritte manchen „schnellen Gulden“ machen. Männliche und weibliche Protagonisten „die sich für Geld sehen ließen“ verdienten mit dieser Attraktion ihren Lebensunterhalt. Soweit werde ich es wohl in diesem Leben nicht mehr bringen.
Endspurt. wir sind im Ziel! Am Ende hat sich kein Hügelgrab geöffnet. Und auch kein, der Sage nach in Gestalt eines Hirschen durch die Koberstadt irrender König der Vorzeit, haben wir entdecken können. Höchstens in der Verkleidung eines Läufers. Jeder Landschaftslauf entwickelt sich zu einem kleinen Abenteuer mit ein wenig Phantasie. Aber jetzt kommt trotzdem noch das große Schaudern.
Der Marathon, der keiner ist.
Im Ziel erfahren wir, dass die Strecke durch die Streckenänderung „nur“ 40 Kilometer hatte. Wie auch immer, auch mit zwei Kilometer weniger war es für uns der schnellste Lauf in unserer diesjährigen Vorbereitung. Wir würden uns freuen, wenn ihr ab 3. September kräftig die Daumen drückt und uns gedanklich bei unserem Lauf, wie Hannibal über die Alpen -nur entgegengesetzt-beim Transalpine-Run unterstützt.