Mozart 100 2012
Wo Schweiß golden glitzert
„Sie wissen, bester Freund, wie mir Salzburg verhasst ist! Salzburg ist kein Ort für mein Talent.“
„Ich schwöre Ihnen bey meiner Ehre, dass ich Salzburg und die Einwohner nicht leiden kann; mir ist ihre Sprache, ihre Lebensart ganz unerträglich!“
Über 250 Jahre später scheinen sich die Salzburger geändert zu haben, sie lieben ihren Wolferl. Mozart zwölf Monate im Jahr überall gegenwärtig: auf Schnapsgläsern, Mützen und T-Shirts und jetzt: „mozart 100“? Nie gehört!“ Ihr kennt diese Aufführung noch nicht? Hier könnt ihr erfahren, wo in Salzburg sonst noch die Musik spielt.
Ein Streichduett spielt Mozart auf Violine und Viola. Menschen lauschen, halten die Luft an. Keiner wagt zu husten. Die Spannung ist förmlich zu spüren. Noch das kleinste Geräusch wird registriert. Zwei Reihen weiter hinten: eine Mineralwasserflasche zischt, von irgendwoher brummt ein Motorroller und ein Hund bellt in die ergriffene Stille ein. Ich stelle mir vor, wie ich auf der Bühne stehe und aus meiner Kehle kommt kein Ton – für Opernsänger ein Angsttraum, hier egal. Die Altstadt ist UNESCO Weltkulturerbe und bildet die perfekte Leinwand für folgende Handlung: jetzt ist Festspielzeit. Das 1. mozart 100 Running Festival!
Über 300 Läufer aus 16 Nationen wollen sich diese neuste Inszenierung nicht entgehen lassen. Allein über 100 Läufer meldeten sich für die Königsdisziplin. Bereits im 17. und 18. Jahrhundert inszenierten die Salzburger Fürstbischöfe zusammen mit Bürgern rauschende Feste in und um die Stadt Salzburg. Kein Wunder also, dass Max sagte: „Es gibt keinen glücklicheren und natürlicheren Gedanken. Der Gedanke, ein Wochenende in Salzburg zu verbringen und zu wissen, dass es selbst in dieser Stadt immer wieder möglich ist, abseits der bekannten Touristenattraktionen, ein neues Festival ins Leben zu rufen. Damals, als Richard Strauss, Max Reinhardt und Hugo von Hofmannsthal das Kulturereignis vor mehr als 80 Jahren ins Leben riefen, verbanden sie jahrhundertealte Tradition.
Heute, wenn der Josef mit dem Michael zum Laufen geht, verschieben sich immerhin die Lauf-Dimensionen. Nach dem letzten 250 Kilometer Lauf-Abenteuer im Dschungel von Costa Rica wurde die Idee des „mozart 100“ geboren. Es lag nahe, dass Salzburg als die Geburtsstadt Mozarts, und den beiden Ultraläufern, als Austragungsplatz gewählt wurde. Unterstützt werden die beiden durch den ebenfalls sportlichen Josef Gruber, Organisator des Trumer Triathlon und Streckenchef des Salzburg Marathon. „mozart 100“ meint nicht das Köchelverzeichnis, vielmehr steht die „100“ für 100 Kilometer Panorama-Ultralauf und der Name Mozart vermarktet sich hier bekanntlich fast wie von allein.
5:00 Uhr
Nur wer vor der Sonne aufsteht und in den neuen Tag hineinläuft, erlebt die Natur von ihrer taufrischen Seite – mag sein, ich dreh mich derweil in meinem Bett noch einmal um.
Samstagmorgen, kurz nach fünf Uhr – die Ultraläufer auf der Königsdisziplin sind unterwegs. Zwei Runden werden sie laufen, die erste mit 46 Kilometern, die zweite mit 54 Kilometern. Wir sind noch gelassen, denn wir werden die 54 Kilometer -„Kurzstrecke“ testen, noch kürzer ist nur noch der „Mozart 100 Light“ mit 24 Kilometern. Die 54 Kilometer der Laufstrecke gewähren uns dennoch den vollen Genuss. Diese entspricht der zweiten Runde des 100 Kilometer Bewerbs.
Der Tag bricht an und kurz darauf sind auch wir auch auf den Beinen. Mit jedem Schluck heißem Kaffee kommt etwas mehr Leben in unsere noch so müden Glieder. Und das ist auch gut so, denn auch wir haben heute noch einiges vor. Wer wie wir, schon die ganze Woche über nicht zum Laufen, geschweige denn zum Trainieren kommt, der versucht alles auf einen Tag in der Woche zu komprimieren. Denn wir müssen die fehlenden Wochenkilometer schließlich wieder reinholen.
„Um den Fuschl See laufen?“ „Nehmen´s doch das Fahrrad“ sagt Ulrike, die stets gutgelaunte und freundliche Dame aus der „Goldenen Ente“. „Jetzt wo Radfahren nicht mehr ehrlich ist, da laufen wir doch lieber“ antworte ich ihr und denke mir, zum Glück gibt es noch keine elektrisch angetriebenen Laufschuhe.
8:00 Uhr
Vereinzelt huschen müde Gestalten den morgendlichen Weg zur Arbeit. Es ist noch still am Mozartplatz. Die ersten Sonnenstrahlen berühren die Festung Hohensalzburg, die über der Startarena ragt als ein gigantisches Monument. Wie der Dirigent seines neusten Stückes, scheint Mozart in Bronze auf uns herab zu blicken. Wolfgang Amadeus Mozart in der Mitte des Platzes, so als ob er seit 1842 darauf gewartet habe, jetzt Mittelpunkt dieses Lauf-Festivals zu sein.
Ein Kenianer umrundet das Denkmal, elegant lässt er die „Partitur“ schnurren, leichtfüßig als erster Läufer der 100 Kilometerstaffel und übergibt seine Fußfessel an seinen Teamkollegen. Zwei Violinenspieler untermalen die dramatische Darbietung. Ein bisserl Inszenierung gehört schon dazu, um auch die Einheimischen aus dem Bett an den Start zu locken.
Nur noch einige Minuten. Eine gewisse physische und psychische Erregung, wie Lampenfieber, sorgen für den Kick, der eine Ausnahmeleistung erst möglich macht. Es lässt sich schwer sagen, wo das Leuchten in den Augen stärker ist: am blau/grauen Himmel oder in den Augen der Läufer, als sich der Vorhang ein zweites Mal öffnet. Wie eine Kakophonie, wie wenn mehrere Instrumente durcheinander spielen so piepen die Bibchips an den Fußgelenken der Läufer als wir die Startmatte überqueren.
Wie in der Oper zu eng bestuhlt, läuft das Feld der Athleten etwa drei Kilometer dicht zusammen und wir in einem guten Ensemble, laufen im gleichen Takt. Hier irgendwo in der Nachbarschaft wohnte Paracelsius 1525. Ich höre Gespräche hinter mir und wahrscheinlich ist hier ein Musiklehrer in der Gruppe: „Bei Mozart ist auch das Tempo wichtig, achtet auf die Intervalle, lauft spritzig, aber nicht zu schnell«. So beginnen wir, mit der d-moll-Fantasie, sehr langsam aber mit enormer Innenspannung.
Nebenbei höre ich das Rauschen der Salzach. Von der Altstadt sind es nur ein paar Schritte bis zu den Kiesbänken. Faszinierend der Gedanke, was für eine Million Jahre alte Fracht der Fluss aus den Zentralalpen hier ins Vorland transportiert. Heute transportiert er Schlamm und Baumstämme, teilweise ganze Bäume von dem Unwetter der vorangegangenen Tage. Das wahrscheinlich größte Hochwasser in der Geschichte hatte die Stadt Salzburg am 25. Juni 1786, welches durch eine Hochwassermarke in der Altstadt belegt ist. Auf dem Wilhelm-Kaufmann-Steg überqueren wir die Salzach. Die schneebedeckten Berggipfel sind ein schönes erstes Fotomotiv. Bereits von hier sieht man den Nockstein, der uns über die gesamte Laufstrecke von allen Seiten begleiten wird.
Kilometer 5 bis 9
Nicht ruhiger, aber kleiner fließt der Klaus. Ich meine den Klausbach in Elsbethen. In ihm fühlen sich auch heute noch die Steinkrebse wohl. Nicht weit davon entfernt erreichen wir schon die geologische Schatzkammer „Glasenbachklamm“.
Es ist schwül und die ersten Höhenmeter dieser Aufführung erfordern aufgrund der bereits jetzt schon einsetzenden Knieschmerzen einen hohen Körpereinsatz von Anfang an. Die kleinen Holzstege über die wir laufen sind glitschig. Ich hoffe auf Ablenkung, an der es hier nicht mangelt. Hinter mir höre ich Schritte, der erste Staffelläufer überholt uns. Die Klamm verdankt ihre Entstehung vor 88 Mio. Jahren jedoch nicht der Schwüle sondern der Ablagerungen. Stellenweise bildet sie den Untergrund des Salzburger Beckens.
9:00 Uhr
Bei Kilometer 10, an der Siedlung „Schwaitl“ ist die erste Labestation bereits erreicht. Tatsächlich gibt es hier einige „Schmankerl“ und jeder kann sich sein eigenes Menü zusammenstellen. Ein völlig neues Geschmackerlebnis bietet sich mir, als ich den leckeren Marmorkuchen mit türkisblauen isotonischem Getränk herunterspüle. Ein kurzes Stück geht es auf die Schwaidl Landstraße, bevor wir an einer kleinen alten Mühle wieder in den Wald laufen.
Wir befinden uns auf dem Österreichischen Fernwanderweg „Rupertiweg“. Es ist 9:30 Uhr. Die „mozart 100 light“ Läufer und Nordic Walker werden auf die Strecke geschickt. Vor ihnen liegen über 24 Kilometer von Fuschl am See nach Salzburg zum Ziel. Schotter knarzt unter den Schuhen, Sonnenstrahlen blinzeln durch die Bäume, und die Gangklaviatur der Muskulatur wird rauf- und runtergespielt.
Weiter laufen wir in Richtung Teubermühle die seit 1961 im Besitz der Pfadfinder Salzburgs ist. Schotter- und Asphaltwege wechseln sich ab, wie das ständige Auf- und Ab der Strecke.
10:00 Uhr
Etwas mehr als 15 Kilometer sind gelaufen als wir an die zweite Labestation kommen. Gleichzeitig ist hier auch die Staffelübergabe.
Dank der Wassermelone ist mein Bedarf an Flüssigkeit wohl vorerst gedeckt. Als wir nun über ein langes Wiesenstück laufen, bekommen auch meine Socken und Füße genügend davon. Zwanzig Minuten später sind die nassen Füße vergessen. Nur eine winzige Schneise, völlig unscheinbar, markiert durch zwei Flatterbänder, weist den Weg, der nun vor uns liegt. „Wer hier hoch läuft, der bekommt ein Bier von mir“ sagte Josef bei der Wettkampfbesprechung. Irgendwo müssen die angegebenen 1100 (54 Kilometer-Strecke) Höhenmeter ja herkommen: Etwa 100 Höhenmeter auf 700 Meter!
Ein steiler, aber schöner Anstieg, der an einer Asphaltstraße endet. Sozusagen zum Ausruhen geht es nun im leichten Gefälle in Richtung „Hof“ und der dritten Labestation. Der erste Nordic Walker von der 100 Kilometerstrecke ist auf seiner zweiten Runde und gleichzeitig mit uns an der Labestation – jedoch auch schneller wieder weg. Bewundernd und staunend schaue ich ihm nach. Das nächste angepeilte Ziel heißt Fuschlsee.
Wie sich Wünsche wandeln
Traum und Wirklichkeit liegen dicht beieinander. Ein Halber ist noch kein Marathon, ein Marathon ist noch kein Ultralauf und ein Ultra noch kein 100 Kilometer-Lauf. Da fällt mir eine Situation nach der gestrigen Wettkampfbesprechung ein. In einem italienischen Restaurant sitzt ein Läuferpaar am Nachbartisch. Sie fragt uns: „Lauft ihr auch die 100 Kilometer?“ Kay: „Nein, nur die 54 Kilometer“. Sie: „Ach sooo, na dann…“. Herausforderung 100 Kilometer. Alle, die solch eine Herausforderung gerne mal im Team meistern möchten, können dies hier beim „mozart 100“ Staffelbewerb über 100 Kilometer oder über 54 Kilometer probieren. Distanzen zwischen 9 und 30 Kilometer werden angeboten.
Weiter hügelig geht es über Asphalt und Schotterwege wieder in den Wald hinein. Auch Mozart und Constanze streiften gemeinsam durchs Salzburger Land. Die Strecke ist ein Idyll, das ausschaut, als müsse das Annerl Mozart gleich mit hochgestecktem Zopf aus der Pfarrkirche treten, sich mit Weihwasser bekreuzigend hinunterhuschen. Das würde sie wahrscheinlich bei dem Anblick des uns eben überholenden Amerikaners, der ohne Laufshirt unterwegs ist, tun. Ich konzentriere mich wieder auf die Laufstrecke, lausche dem Klang der Stöcke, einem hohlen Ton, der je nach Bodenbeschaffenheit immer wieder anders klingt.
Wieder will uns ein Nordic Walker Staffelläufer davon walken, sodass die Stöcke nur so fliegen. Ich wehre mich so lange es geht. Ich diskutiere, ob er überhaupt walkt oder doch läuft? Die Stöcke, immer nah am Körper, setzen jeweils mit der gegenüberliegenden Ferse auf. Die Hände umfassen dabei den Stock nur locker, bei der Streckung nach hinten öffnet sich die Hand. Er hält mit uns mit – oder wir vielleicht mit ihm?
Zum Glück liegt wunderschön unter uns der Fuschelsee, ich verwickele ihn in ein Gespräch. In Deutschland eher belächelt, hat sich in Österreich eine Nordic Walking Szene entwickelt.
11:00 Uhr – Streckenteilung
Nun folgt die Trennung der Laufstrecke: nach links für die 1. Runde der 100-km-Distanz und nach rechts für die 54-km-Distanz und die 2. Runde der 100-km-Distanz. Die Läufer der 100 Kilometer-Bewerbe bogen vor ein paar Stunden hier links ab Richtung „Hotel Schloss Fuschl“. Das 1450 erbaute Schloss beherbergte schon Erzbischöfe, Kaiserinnen und Filmstars. Seit 1950/51 ist Schloss Fuschl ein Hotel. In den Jahren 1957/58 war es Drehort der Sissi-Filme.
Schneller als ein Wandergesell bin ich mit meinem schmerzenden Knie auch nicht mehr unterwegs. Wieder versuche ich mich durch die einmalige Kulisse und den schön zu laufenden Weg abzulenken – es gelingt dennoch nur schwer. Immer konzentriere ich mich auf den perfekten Bewegungsablauf und versuche dabei locker zu bleiben, ja unbedingt locker, bloß kein falscher Tritt, auch wenn der Schweiß von der Stirn tropft.
142 Jahre nach Mozarts Tod wurde Sisi geboren. Sie war die erste adelige Frau, die zum Leidwesen ihrer Hofdamen täglich kilometerlange flotte Gewaltmärsche, die bis zu acht Stunden dauern konnten, unternahm. Mit verschiedenen Geräten, mit Ringen, Reck und Hantel wurde das Training neben dem Reiten komplettiert.
Auch unser „Gewaltmarsch“ geht weiter. Wir umrunden gegen den Uhrzeigersinn den See. 12 Kilometer ist der „Fuschlsee-Rundwanderweg“ lang. Auf Wanderschildern kann ich lesen, 3,3 Std. Die Kühle, die vom türkisfarbenen Fuschlsee aufsteigt, und der Duft der Kiefernnadeln beleben selbst den trägsten Geist. Wir sind im Ort „Fuschl am See“ angekommen. Rund um die Labestation entfaltet sich ein Freizeittrubel, wie er heiterer kaum sein könnte.
Jedoch sollte man erst applaudieren, wenn der Dirigent die Partitur zuklappt. Wir laufen an einer Pizzeria und dem bekannten Brunnwirt, dem geschichtsträchtigen Renommierhotel, vorbei. Urlauber verspeisen Kuchen mit Schlagobers. Kurz darauf biegen wir wieder auf den Fuschlsee-Rundweg ab, es folgt unendliche Ruhe an einem spiegelglatten See.
Weiter geht es über die Hundsmühle bis zur Fuschler Ache, die jetzt unser Begleiter für circa zwei Kilometer ist.
13:00 Uhr – Kilometer 38
Ein steiler Anstieg führt uns in die Ortschaft „Hof“.
Der Ort liegt auf 739m und ist damit der höchste gelegene zwischen der Stadt Salzburg und Bad Ischl und wird in Reiseführern gerne als „das Tor zum Salzkammergut“ bezeichnet.
Plötzlich ist die Ruhe dahin. Wir erleben das Spektakel von schwarzen, chromblitzenden Firmenwagen und heulenden Motoren. Eingebettet zwischen den Ortschaften Koppl, Plainfeld und Hof liegt der Salzburgring. Der Ring ist umgeben von Hügeln. Inmitten dieser Hügel blöken Schafe. Wie von einer Naturtribüne hat man einen hervorragenden Blick auf die Rennstrecke. Ein leitender Angestellter aus der City sitzt in der blitzenden Blechkarosse fühlt sich wie James Bond oder wenigstens wie Sebastian Vettel. Mindestens zehn leidende Angestellte stehen in der Fankurve bewundernd dabei. Ich betrachte mir das Schauspiel von meiner eigenen Salzburgring-Tribüne. Wie in Szene gesetzt steht da ein alter Stuhl auf einem aus Zigarettenkippen bestehenden Untergrund – und wie inszeniert, reicht mir Kay noch ein kühles Bier.
„Unter Inszenierung versteht man das Einrichten und die öffentliche Zurschaustellung eines Werkes oder einer Sache. Dies betrifft im engeren Sinne den Bereich der darstellenden Kunst. Dabei muss nicht unbedingt ein in sich geschlossenes Werk auf die Bühne gebracht werden, auch offene Formen wie etwa die Performance können inszeniert werden.“ Aus Wikipedia.
Kilometer 42 ist erreicht, eigentlich ein geeigneter Zieleinlauf am Ende eines Marathons. Wir passieren den Ring an der südlichen Seite. Immerhin erwartet uns hier eine weitere Labestation.
Noch 8 Kilometer
8 Kilometer Notenpapier verbrauchte Mozart für seine 626 Kompositionen. Eine davon ist die österreichische Bundeshymne (Land der Berge). Ab dem Gasthaus am Riedl führt die Strecke leicht abfallend entlang der Waldgrenze bis an ein altes verfallenes Gut.
Urkundlich erstmals 1272 erwähnt als „Gut unterm Nockstein bei Gukkental“. Die Kirche zum Heiligen Kreuz und zur Heiligen Elisabeth bildet zusammen mit dem Brauhaus, einer Villa, einem Gasthaus und diversen Nebengebäuden ein geschichtliches Gesamtkunstwerk. Dazu noch die einzigartige Lage auf der Anhöhe und dem ausgezeichneten Blick über das Salzachtal und Salzburg. Wir laufen weiter bis in den Ortsteil „Gnigl“.
15:00 Uhr – 50 Kilometer
Wieder geht es auf schmalsten, schlammigen Trails bergab. Nichtsahnend stehe ich vor Stufen, die weit nach unten führen.
Stufen ohne Ende, in unregelmäßiger Anordnung. Außer Kay sieht zum Glück niemand, wie ich hier „hinuntereiere“. Wir erreichen den Stadtrand von Salzburg. Über eine Brücke überqueren wir die Bahngleise der Salzburg-Tiroler Bahn. Auf dieser Brücke kommen uns zwei Frauen entgegen. Ein junges Mädchen im Rollstuhl, ohne Arme und Beine beglückwünscht uns überschwänglich. Für mich der ergreifendste Moment der letzten Stunden.
15:30 Uhr – Prunkvoller Schlussakkord
Auch mit der Startnummer vor dem Bauch kannst du niemanden beeindrucken. Weder nach 54 Kilometern noch nach 100 Kilometern. In der Linzergasse, eine der Flaniermeilen im Stadtzentrum Salzburgs, heißt es: Sehen und gesehen werden. Hunderte Salzburger und Gäste sind unterwegs. Das Lauf-Festival interessiert hier aber niemanden. Stehende Ovationen? Wo denkst du hin? Beifall? Auch nicht! Eher blaue Flecken.
Das permanente Ausweichen der gestressten Touristen ist absolut schweißtreibend, erfordert Ausdauer und sowohl körperliche wie geistige Beweglichkeit. Will man hier durch und das auch noch an einem sonnigen Samstagnachmittag, dann braucht man unbedingt vier Dinge: erstens Rhythmusgefühl, zweitens Körperspannung, drittens Kondition und viertens starke Nerven.
Am Giselakai ist die Salzach erreicht. Der Flusslauf verläuft in leichtem Bogen. Der Kapuzinerberg mit dem Kloster liegt in der Nachmittagssonne. Stefan Zweig erwarb 1919 hier seine „Villa Europa“. Gegenüber ragt auf gleicher Höhe majestätisch die Festung Hohensalzburg in die Höhe mit ihren Basteien, Bögen und Türmen. Das Klappern von Hufen dringt zu uns herüber, die Fiaker haben gut zu tun.
Ich sehe nur noch den roten Teppich und Mozart hebt seinen imaginären Taktstock um einen letzten Akkord anzustimmen. Eine Oper kann bekanntlich sehr, sehr lange dauern. Ich brauche nicht noch eine Runde als Zugabe und so schön das Ganze auch war: Irgendwann ist es genug und der Schlussapplaus kommt endlich wie eine Erlösung.
16:00 Uhr Mozartplatz. Mozart steht im gleißenden Licht der Sonne. Busladungen englischer, japanischer und deutscher Touristen. Jedes Verweilen verrät den Knipser, der Erinnerung digital speichert. Nur wenige 100 Kilometerläufer sind bereits im Ziel. Für die anderen wird der Epilog der Oper um ein paar Takte verlängert.
Auch die Ausnahmeathletin Sharon Gayter ist im Ziel. Sie hält Rekorde wie „Sechs-Tage“ (750 km), den sie im März 2011 beim 7-Tage-Rennen beim Athens Ultramarathon Festival aufstellte. Obwohl sie am siebten Tag nicht mehr lief, gewann sie die Gesamtwertung überlegen. Heute lief die Engländerin, gestartet mit der Nummer 1, als zweite Frau ins Ziel. Erste Frau auf der 100 Kilometerstrecke wurde die Österreicherin Marianne Staufer in 11 Stunden und 57 Minuten. Erster Mann auf der Ultralangstrecke wurde der Mann ohne Trikot, Dave James, in 8 Stunden und 54 Minuten.
20:00 Uhr
Mit wenigen langsamen Schritten gelangen wir wieder in die herausgeputzte Fußgängerzone der Linzergasse. Wir mischen uns unter das Publikum. Die Cafés, Weinstuben und Restaurants sind vollbesetzt. Die Straße noch immer belebt. In sehr großen Abständen kommen noch immer Ultraläufer hier durch. Wir feuern jeden kräftig an. An einem Tisch hinter uns fragt ein Mann die Kellnerin, was hier los sei. Sie antwortet ihm: „Keine Ahnung, die laufen hier schon seit heute Morgen durch“.
22:48 Uhr
Den größten Applaus erntete 1 Stunde und 12 Minuten vor Zielschluss die letzte Läuferin von der Langstrecke. Die Anstrengung der Stunden hat sich in ihr Gesicht gegraben.
RESÜMEE: Detailverliebt inszeniert, ist das Stück in seiner Gesamtheit ein voller Erfolg bis zu den Schlussvorhängen. Mozart wäre zufrieden. Wenn bekannte Größen aus dem Ultralauf auf so eine Idee kommen, kann das gewaltig schief gehen oder in etwas Besonderes münden. Ein neuer Stern am Himmel der 100 Kilometerläufe ist erfunden.
Neuland zu betreten steht seit langem auf der roten Liste der aussterbenden Marathonerlebnisse. Wohin man auch seinen Fuß setzt – überall sind schon Tausende und Abertausende vor einem gewesen. Sie haben die identische Szenerie bewundert, die gleichen Fotos geschossen und dieselben Wege ausgetreten. Umso größer die Freude, an einem Lauf teilnehmen zu können, der bislang noch nicht erfunden war, in einer Landschaft, die man gerne unter die Füße nimmt.