Parkhauslauf Dresden 2012
Alles geht heut von allein
„Keiner fragt wieso – Keiner fragt warum – Keiner fragt wie’s geht -Denn es geht schon von allein – Keiner fragt wohin – Keiner fragt wie lang – Keiner fragt mit wem – Denn es geht schon von allein – Jeder kanns von allein – Denk nicht nach, lass es sein – Denn alles geht heut von allein“. Dröhnt es aus dem Radiosender. Dieser Songtext wird mich noch für Stunden begleiten.
„In 200 Metern haben Sie ihr Ziel erreicht. Sie haben Ihr Ziel erreicht“. Zum Glück gibt es Navigationsgeräte. Vorbei die Zeit, als man sich mit einem Geographie-Legastheniker auf dem Beifahrersitz herumschlagen musste. Sommer in Deutschland. Ferienzeit und Hauptreiseverkehrswochenende. Der Verkehr strömt, manch Autofahrer hupt gestresst und fordernd. Blech drängt sich an Blech. Stoßstange klebt an Stoßstange. Dresden, auch das deutsche Florenz an der Elbe genannt. Frauenkirche, Semperoper, Residenzschloss und ein Parkhaus Modell „Betonschachtel mit Neonbeleuchtung“, Überdruckventile der individuellen Motorisierung und alles andere als ein bemerkenswertes Bauwerk.
Das Parkhaus des Universitätsklinikums Carl-Gustav Carus ist unser Ziel und genau das, was uns heute nach Dresden führt. Carus (1789-1869), der Namensgeber der Klinik, gilt als einer der Universalgelehrten des 19. Jahrhunderts in Deutschland und als Vordenker der Tiefenpsychologie. Parkhäuser, im Kino als Ort des Bösen inszeniert, dunkel und schmuddelig. Mit Schaudern denkt man da an vollgekritzelte Wände, Gerüche von Abgasen und Urin in den Treppenhäusern. Man muss schon tief in die Psychologie einsteigen, um zu ergründen, was Läufer dazu bewegt, vom Autofahrer zum Fußgänger zu transformieren und für Stunden das Gebäude Zweck zu entfremden.
Bewegende Beweggründe
Sehr schnell merkt man, dass hier kein gewöhnlicher Marathon stattfindet. Ein Tag im Parkhaus kann teuer werden, es sei denn, man löst gleich ein Tagesticket. Für 25,00 EURO bekommen wir unsere Marathonstartnummer mit integriertem Chip, für Kurzparker bzw. Kurzläufer werden die Gebühren günstiger. Es gibt sogar welche, die teilen sich die Kosten, indem sie als Staffel unterwegs sind. Das Wertvolle daran: Der Überschuss aus den Einnahmen geht zu Gunsten der Krebstherapie.
Geparkt wird heute anderswo
Das Parkhaus ist verwaist. „P – Besetzt“ steht auf der Anzeige vor der Einfahrt zum 5-Stöckigen Universitätsparkhaus und dies bereits seit gestern. Nur noch vereinzelt sieht man ein Fahrzeug auf einem der über 500 Stellplätze. Es ist ein sonniger Frühsommerabend, ein angenehm frischer Wind treibt kleine Wolken über das Parkhaus.
Von draußen sind Stimmen zu hören. Es sind die Stimmen von Läufern, die gerade vor der Ausfahrt für ein Foto posieren. „100 Marathon Club“ steht auf den knallgelben Laufshirts einer Gruppe. Passanten schauen neugierig dem skurrilen Bild zu und man sieht ihnen an, dass sie sich fragen, was hier vor sich geht. 42 Kilometer auf engstem Raum, im Parkhaus, als kultureller Beitrag zur urbanen Infrastruktur. Die Regeln sind schnell erklärt: Wer läuft am schnellsten von der oberen Etage um die engen Kurven, über Rampen bis hinunter in die Erdgeschoss-Ebene und überwindet dabei 681 Höhenmeter?
Über eine Zeiterfassungsmatte wird die Dauer jeder einzelnen Runde festgehalten und auf einer Leinwand projiziert. Einzig der Läufer entscheidet über den Sieg, indem er bestimmt, wie er die Kurven nimmt, wie er hineinläuft, wie er herausläuft, hochläuft und wieder runterläuft und sich seine Kraft einteilt.
Die Schar der Läufer, die diesen Marathon laufen, hält sich in Grenzen. Die Luft in diesem Refugium ist besser als vermutet, die Stimmung respektvoll ruhig. Wir treffen Jörg Drechsler. Es reicht gerade für ein „Hallo“ und ein kurzes Austauschen von Erlebnissen. In diesem Jahr möchte er seinen ersten 100er laufen. Dann eilen wir auch schon zum Start der heutigen Roadshow.
Alle treten ihr Gaspedal durch
Die Ziffer der Digitalanzeige rückt auf 18:00 Uhr vor. Die rot-weiße Schranke an der Einfahrt in die Kathedrale für Karossen ist bereits geöffnet. In einem extrem hohen Tempo laufen wir vom Erdgeschoss auf das erste Parkdeck. Das Läuferfeld rast auf die erste Kurve zu. 897,77 Meter misst eine Runde. Anders als an anderen Tagen findet heute keine soziale Reibung beim „Nahkampf“ auf einen der raren Stellplätze statt.
Wie Daunenfedern im Windhauch gleiten die ersten Läufer um die nächsten Kurven bevor schon wieder eine auftaucht. Wir laufen im zweiten Gang nach oben. Unser Fluchtversuch zeigt sich als ziemlich aussichtsloses Unterfangen. Innerhalb von Sekunden sind wir zum Schlusslicht dieser Gruppe geworden und wir wundern uns über das hohe Anfangstempo. Aber auch wir sind vor Kurve acht noch viel zu schnell. Der Körper neigt sich automatisch in die Kurve, die weichen Sohlen der Laufschuhe hinterlassen keine Spuren auf dem harten Beton, die Knöchel ächzen kurz.
Es ist phantastisch, wie ein Satellit schrauben wir uns nach oben. Kurve um Kurve. Auf dem 5. Parkdeck ist das Sonnenlicht erreicht. Das endlose Spalier eingezeichneter Parkplätze begleitet das Auf- und Ablaufen von Deck zu Deck. Noch ist nicht die Hälfte gelaufen und das Gros der Läufer wird gemächlicher. In den halbdunklen, unübersichtlichen und menschenleeren, „von der Lebendigkeit des städtischen Lebens isolierten Betonwüsten“ eskalieren nicht nur die filmischen Dramen besonders effektvoll.
Immer lauter hört man jetzt das Schlürfen der Turnschuhe auf dem bebenden Beton. Mir geht es seit Wochen und Monaten voller Schmerzen außergewöhnlich gut und die Aussicht auf eine gute Platzierung motiviert mich, das Tempo ab der zweiten Hälfte anzuziehen.
80er Jahre Sound
Natascha, auf der 10 Kilometerstrecke bereits eine Stunde vor den Marathonläufern gestartet, schlüpft in die Rolle einer Sportfotografin und unserer persönlichen Betreuerin. Sie übergibt mir ihren iPod wie andere den Staffelstab. Ich bohre mir die Ohrstöpsel fest in die Ohrmuschel und setze den Rhythmus des Beats in Schritte um. Es ist meine Musik. 80er Jahre Sound neu aufgemischt.
Ich scheine mich regelrecht durch das Parkhaus zu schrauben und genieße nach jeder Runde die „Ausfahrt“. Etwa 150 Meter geht es durch einen kleinen Park. Ein paar Damen feuern die Athleten kräftig an. Schon bin ich wieder an der Einfahrt des Parkhauses angekommen und anstelle der Parkkarte bekommen wir hier ausreichend Verpflegung. Wer sich bei der Auswahl nicht zurückhält, dem kann es schon mal übel werden. Noch mit dem Wasserbecher in der Hand überquere ich ein weiteres Mal die Zeitmatte.
Es ist, als würde man über LOS gehen und noch einmal von vorne würfeln. Die an der Leinwand angezeigte Rundenzeit motiviert; das Überholen aber auch. Ich fühle mich, als hätte ich einige Kratzer im Lack, zum Glück nur Bagatellschäden! Dennoch lächle ich stets in die Überwachungskameras.
Nächste Runde, nächster Treck, der Song aus dem Autoradio: „Dein Arsch bewegt sich von allein – Die Gläser füllen sich von allein – Alles geht heut von allein – Jeder kann‘s von allein – Denk nicht nach, lass es sein – Denn alles geht heut von allein“. Stunde um Stunde vergeht, Runde um Runde genieße ich so, auch wenn dafür schon eine gehörige Portion Kreativität oder gute Musik auf den Ohren notwendig ist.
Das Echo der eigenen Schritte nehme ich nicht mehr wahr. Auf Parkdeck 5 laufe ich in den Sonnenuntergang. Die Bank, auf der vor Stunden noch die anfeuernden Damen saßen, ist leer. Auf dem Sonnendeck werden die Lampen angeschaltet, ein paar Runden weiter ist der fast rote Vollmond zu sehen und ein brillantes Panorama, die Lichter der Elbbauten und Elbschlösser; und irgendwo an der Elbe wird ein Feuerwerk entfacht.
Nach diesem romantischen Eindruck vom Deck dieses Parkhauses stürze ich mich die mehr als 14 Höhenmeter erneut nach unten. Wieder an der frischen Luft, genieße ich die Kühle des späten Abends. Es ist ein Augenblick, in dem mir klar wird, wie gut es uns geht und wie dankbar ich dafür bin, laufen zu können. 47 Mal bin ich nun an diesem Wegweiser vorbeigelaufen: „Knochenmark Transplantationszentrum“. Noch immer sind einige Läufer unterwegs.
Einen Zielschluss gibt es nicht. Aber auch für uns ist es spät geworden. Auf der ausgedruckten Urkunde ist das Gruppenbild, welches vor dem Start geschossen wurde, aufgedruckt. Ich freue mich über einen 2. Platz in der Gesamtwertung und damit über den 1. in meiner Altersklasse. Mehr gibt es nicht, mehr braucht es auch nicht, das Geld ist gut angelegt. Den Gutschein für ein Essen beim Italiener lösen wir nicht mehr ein. Vor dem Parkhaus steht unser Fahrzeug. Ich drücke den Knopf „Home“. „Die Route wird berechnet”. „Die Route ist berechnet, in 470 Kilometern haben sie ihr Ziel erreicht“. Culcha Candela tönt aus dem Radio: „Die Sonne scheint heute die ganze Nacht -Hängt tausend Zettel in die Nachtbarschaft -Wenn’s heute lauter wird dann tut’s uns leid – Komm vorbei und alles andere kommt dann von allein…“.
Resümee: Eine kleine freundliche Mannschaft hat es geschafft, großes Parkhauskino zu bieten. Für die Zukunft wünschen wir dem Lauf noch viel mehr Läufer, damit die Krebsforschung noch viele Spendengelder erhält.