Andrea Helmuth

Andrea Helmuth

Malta Marathon 2013

Ritter Sport

 

Wer vom Winter so richtig genervt ist, muss die Zeit bis zum Frühling nur zu nutzen wissen. Uns jedenfalls gehen die Ideen für Winterläufe mit trockenen Schuhen nicht aus. Bürohaus, Bergwerk und jetzt: Malta. Last Minute! Kein Pass, kein Geldumtausch, einfach losfliegen.

 

 

 

 

Nach einem anstrengenden Arbeitstag hebt der Flieger der Air Malta ab. Wir durchstoßen die dunkelgraue Wolkendecke über Frankfurt am Main. Knapp 2,5 Stunden und 1650 Kilometer liegen zwischen Schnee und Sonne, zwischen Winter und Frühling. Es ist stockdunkel, als wir das Mittelmeer überfliegen. Als würden sie die Insel belagern, tauchen unter uns die Lichter der Schiffe, die vor Malta ankern, auf. Wir überfliegen Dächer und Kirchtürme, bevor kurz darauf die Maschine auf dem Flugfeld ausrollt. Ein Taxi bringt uns in zwanzig Minuten nach Sliema.

Karges Aussehen, schroffe Klippen, sonst noch was? Vielleicht Malteser Aquavit oder gar Playmobil? Ja, Englisch kann man hier lernen. Die Jugend kommt, um ihr Englisch zu perfektionieren, die Älteren zum Bildungsurlaub – und alles dabei noch steuerlich absetzbar. Hierher zieht es Paare und Pärchen, Senioren- und Schülergruppen, Familien und Singles. Kreuzfahrttouristen und Wellness-Publikum und einmal im Jahr auch die marathonhungrigen Sportler.
Die Gründe und die Motivation, die die Menschen auf dieser Insel zusammenbringt, sind so unterschiedlich wie die Menschen selbst. Die einen wollen die große Weltgeschichte finden, andere suchen die kleinen Geschichten des Alltags. Schon im Mittelalter erweiterten die Aristokratischen eines ritterlichen Ordens, die sogenannten „Kavaliere“, ihre Erziehungs- und Bildungsreisen und nannten sie „Kavalierstouren“. Die Reise ging meist nur bis Rom, ab 1530 führten sie aber auch bis nach Malta. Odysseus verliebte sich hier in die Nymphe Kalypso und lange vor den Rittern sei der Apostel Paulus bei seiner letzten Romreise hier gestrandet.

Von der ganz schnellen Sorte ist Lukas aus Aachen, Marathonsammler und nur auf Stippvisite. Das bedeutet: Freitagabend in Frankfurt einen der letzten Flieger besteigen, am Sonntag beim Marathon möglichst nicht länger als 3:30 Stunden laufen, um gleich darauf von Malta wieder abzuheben. Oder Norbert, der Glückspilz, er gewann den Marathon beim „Arque-Lauf“. Er bleibt drei Tage und will die Insel mit dem Jeep unsicher machen. Nicht jeder hat es eilig, anderen reicht auch schon ein Halbmarathon; gefolgt von einer Woche Urlaub. Eines haben wir aber gemeinsam: Alle mussten wir bei Wind und Wetter, Schnee und Regen trainieren. Alle laufen weg: vom kühlen Wetter in unserer Heimat, alle wollen wir hier an der sonnenverwöhnten Küste Sport mit Kultur verbinden. Es gibt wenig Orte, an denen das besser funktioniert als hier. Viele, nicht nur deutsche, Spezialreiseveranstalter haben das läuferische Marktpotential erkannt und sind bereits lange im Voraus ausgebucht.

Eine Insel nicht viel größer als München

Das vor bereits 5000 Jahren besiedelte Malta liegt zwischen Sizilien und Afrika und hat eine Länge von 28 und eine maximale Breite von 13 Kilometern. Es ist somit das kleinste Land der Eurozone und eines der kleinsten in Europa überhaupt. Nichtsdestotrotz kann es mit eigenen Briefmarken, Münzen und Autokennzeichen auffahren. Mich würde es nicht wundern, wenn die Malteser eines Tages wegen Überfüllung ihre Insel schließen würden. Jedenfalls hat hier alles seinen Platz: nebeneinander, miteinander, durcheinander.

Das gilt auch für die Sprache. Eine blonde Helferin erklärt uns in Deutsch, von welchem Ort wir morgen starten werden. Die Gruppe Italiener, die nach uns den Laden betritt, wird temperamentvoll in ihrer Sprache begrüßt. Tatsächlich sagt man: „Malteser seien Italiener, die italienischer sind als ihre Schuhe, die sich für Engländer halten mit Humor, der schwärzer ist als ihr Tee, arabisch sprechen und katholischer sind als der Rest der Welt.“ Wie auch immer.

Eine Marathonmesse gibt es nicht, vielmehr erhält man seine Startnummer in einem Sportgeschäft zwischen allerlei modischem Schnick-Schnack und den neonfarbenen „die-möchte-ich-haben“-Turnschuhen. Gels und Riegel sucht man hier vergebens. An der Kasse hat sich eine lange Abholerschlange gebildet. Ausgerechnet Lukas, der keine Zeit hat, wartet besonders lange auf seine Nummer. Die ist wohl irgendwo verloren gegangen und wird nun seit Stunden gesucht. Bei uns klappt es ohne Probleme. Zur Startnummer wandert noch das ein oder andere Equipment in die Tüte und dazu auch ein feuerrotes Event-Shirt, welches sich wunderbar in meine Sammlung der besonders langen und breiten Finisher-Nachthemden einreiht.

Eine Pastaparty im klassischen Sinne gibt es nicht, also hinein zum nächstbesten Italiener. Tolle Pasta mit fruchtiger Tomatensoße, auch hier kommt uns der italienische Teil der maltesischen Kultur im richtigen Moment entgegen.

Kampf der Nationen

Sonntag, 4:30 Uhr: Uns reist eine vertraute und verhasste Melodie aus dem Schlaf. Der Vollmond spiegelt sich im Hafenbecken. Ein junges Pärchen, wohl noch von gestern übriggeblieben, räkelt sich lasziv auf einer Parkbank. Im grauen Licht des milden frühen Morgens interessiert sich kein schlaftrunkener Sportler an dem nur wenige Meter entfernten Zielbanner. In einigen wenigen Stunden wird hier gefeiert.

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Jetzt aber möchte jeder von uns einfach nur einen Sitzplatz im Sonderbus ergattern. Es ist 6:10 Uhr, als der Busfahrer unser Transferticket erhält. Das Licht im Inneren des Busses ist heruntergedimmt, als wir den Bus besteigen. Der „Kampf der Nationen“ beginnt schon im Bus. Vorne sitzt bereits eine Gruppe Franzosen, zu identifizieren an ihrer einheitlichen blauweißroten Kriegsbemalung auf den Wangen. Hinten eine ausgeschlafene oder auch einfach nur überdrehte Gruppe Italiener, zu erkennen an ihren Schlachtrufen „Forza, Forza“ und dazwischen wir, sozusagen eine müde Gesellschaft Deutscher. Man fühlt sich als Teil einer verschworenen Gemeinschaft oder auch als Mitglied der Gesellschaft der letzten Eroberer.

Zwanzig Minuten schwankt der Bus durch die holprigen Straßen wie ein Schiff auf See. Wir fahren vorbei an Kirchen, Plätzen und Gemüsefeldern. Im Inselinneren erreichen wir die 4000 Jahre alte und einstige Inselhauptstadt Mdina. Der Inselberg ist von einem tiefen Festungsgraben umgeben und somit die höchste Erhebung des Landes. In dieser Stadt fällt es nicht schwer in unglaubliche turbulente Vergangenheit einzutauchen. Kein staubtrockener Geschichtsunterricht, sondern vielmehr erlebte Geschichte, die komprimierter und vielfältiger ist als irgendwo sonst auf der Erde.

Der Geist eines anderen Zeitalters

Wer Südeuropa beherrschen wollte, musste auch Malta beherrschen. Grund hierfür waren zum einen die strategisch günstige Lage und die zahlreichen Naturhäfen der Insel. Wie überall im Mittelmeerraum hatten sich auch auf Malta die Einwohner in der Antike zum Schutz vor Eroberern und Piraten in das Inselinnere zurückgezogen, was letztendlich aber nur wenig brachte, denn die Machthaber wechselten sich im Laufe der Jahrhunderte ab wie Staffelläufer und jeder zwängte seine Kultur den Insulanern auf.

Zuerst kamen die Karthager, klar Malta lag ja schließlich vor der Haustür. Es folgten die Römer, Vandalen, Byzantiner. 220 Jahre blieben die Araber und ihnen folgten das Königreich Spanien. Wer noch fehlt? Richtig, die Franzosen. Aber das dauerte noch einige Zeit. Erst einmal machten sich die Kreuzritter auf die Suche nach einer neuen Heimat in Europa.

1530 bekamen die Ritter des Johanniterordens das steinige Malta sozusagen geschenkt. Sie hinterließen die eindeutigsten Spuren, denn sie beherrschten fast drei Jahrhunderte Malta und ihre Schwesterinseln Camino und Gozo. Sie waren es auch, die die mächtigen Befestigungsanlagen und die prächtigen Kirchen bauten. Als jedoch im sechzehnten Jahrhundert die Hauptstadt an die Küste verlegt wurde, fiel Mdina in einen (geschichtlichen) Tiefschlaf.

1798 kam nun auch Napoleon Bonaparte auf dem Weg nach Ägypten an Malta vorbei und nahm diese sozusagen im Vorübergehen ein. Kampflos übergaben die Ritter Malta an Napoleon, denn die Ordensregel verbot ihnen, das „Schwert gegen andere Christen zu erheben“.

Wo die Franzosen sind, da können auch die Engländer nicht weit entfernt sein. Sie blockierten zwei Jahre die Insel, bis die Franzosen keine Lust mehr hatten. Nun ließen sich die Briten häuslich nieder. Genau genommen unglaubliche 164 Jahre war die Insel nun Kronkolonie des Britischen Empire. Diese verlangten Zoll von jedem Handelsschiff, das in den maltesischen Hafen einfahren musste und so erblühte die Insel als wichtiges Handelszentrum.

Ich bin enttäuscht, denn die Cathedral of St. Peter und Paul, die eigentliche Bischofskirche des Erzbistums Maltas, ist noch verschlossen. Wir schlendern weiter durch die menschenleeren Gassen, hier werden sich in den Sommermonaten die (Kreuzfahrt-) Touristen zu Hunderttausenden durch die schmalen Gassen schieben.

Durch die massiven Türen hören wir Gemurmel. Die Stimmen kommen aus der „Carmelite Convent“ Kirche im mittelalterlichen Kern der Stadt. Es ist kurz nach 7:00 Uhr. Die erste Sonntagsmesse wird gelesen. Über 90 Prozent der Malteser sind Katholiken und wirklich von jedem Aussichtspunkt der Inseln schaut man auf Kuppeln und Kathedralen. Es sollen so viele sein wie Tage in einem Kalenderjahr. Eine alte Dame huscht verstohlen ins Innere der Kirche, wir huschen leise hinterher. Andächtig lauschen wir dem Gottesdienst in einer uns fremden Sprache – maltesisch.

Die letzte große Belagerung liegt 448 Jahre zurück. Was 18.000 Türken Anfang des 15. Jahrhunderts nicht gelang – die Ritter des Johanniterordens wussten es zu verhindern – versuchten wir heute: die Eroberung Maltas. Der mittelalterliche Festungsbau hat sehr enge und schmale Gassen. Damals wie heute leben hier die wohlhabendsten Familien der Insel.

Frühsport mit Kreuzritterfeeling

Läufer schlendern gemütlich über eine mit Trophäen gedeckte Brücke durch das mit massivem Wappengiebel verzierte Main Gate in die Stadt. Vor der Stadt ein Knäuel aus Stimmen. Die wenigsten werden jetzt an die beinahe 7000 Jahre alte Geschichte dieser Inselgruppe denken, an das kulturelle Erbe, das älter ist als Stonehenge und die ägyptischen Pyramiden.

Neugierig interessiert blinzele ich in die bereits aufgehende Sonne. Um uns herum sind alle sommerlich gekleidet. Manche Beine sind weißer als der Nebel Englands. Hier trifft südländische Bräune auf vornehme Blässe. Einige schützen sich dennoch mit Plastikponchos vor den morgendlichen 13 Grad. Alles ist zu sehen: Schrille Outfits und rhythmisches Geschrei vor musealen Mauern. Es ist ein großartiges Schauspiel. Ungeteilte Aufmerksamkeit erhält der ältere Herr in zartem Rosé.

The show must go on

„Two Minutes“. Der Moderator heizt der Meute vor den Festungsmauern Mdinas, auch Silent City genannt, ein. Die Blasmusik, ebenfalls Erbe der britischen Vergangenheit, erhöht den Schallpegel auf dem Platz. Nur ein einziger grüner Ballon schwebt über den Köpfen der Läufer, 3:30 steht darauf geschrieben. Für mich wäre diese Pace doch ein wenig zu schnell. Aber ein Ziel habe ich dennoch im Kopf; Angela hat mich darauf gebracht. Sie wurde im vergangenen Jahr schnellste Deutsche beim Malta Marathon mit einer Zielzeit von 4:02:09. Wer weiß, mit ein wenig Glück und Rückenwind…? Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert!

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Lauf-Teams, die es auch Jahr für Jahr wieder nach Malta zieht, drängen zur Startlinie. Läufer aus der ersten Reihe wiegen die Hüfte nach rechts und links. Wieder vorne dabei die Malteserin Carmen Hili, die bereits sechsmal gewinnen konnte. Die Gegner werden taxiert. Die Beine mal nach vorne, mal nach hinten geschwungen – Hauptsache, die Muskeln werden warm. „One Minute“. Der Revolver wird langsam angehoben, bis der Lauf in den Himmel zeigt. Für einen Moment schweigt die Blasmusik. Five, four, three, two, one. 8:00 Uhr: Der Startschuss ist gefallen, unter dem Startbanner „Land Rover Malta Marathon“ laufen wir los.

In diesem immer wieder schönen Moment liegt die ganze Strecke wie ein herrlicher, unangeschnittener Kuchen vor uns. Die Halbmarathonläufer und Walker werden dies erst eine Stunde und zwanzig Minuten nach uns erleben dürfen.

Malta is very British, isn’t it?

Es geht durch Straßen und um Ecken. Wenngleich die Malteser seit 1979 den Abzug der letzten englischen Militärs feiern, sind die Relikte der Engländer allgegenwärtig. Vereinzelt sieht man noch die nostalgisch roten Telefonzellen, eine Blaskapelle hat sich als Bühne eine Bushaltestelle ausgesucht. Die Schüler tragen Uniform und die Lenkräder der Fahrzeuge sind rechts, die Schaltung links.

Jetzt so früh am Morgen schweigen die sandfarbenen Fassaden diskret, nur ein Echo hallt durch die Gassen weiter, es sind die Schritte der über vierhundert Marathonläufer auf dem Altsteinpflaster. Ich überhole ein laufendes Pärchen und sie sehen aus, als kämen sie vom französischen Flugpersonal, als Stewardess und Flugkapitän verkleidet. Eine witzige Idee, leider haben beide recht schnell den Abflug gemacht.

Wir genießen diesen Streckenabschnitt mit den typischen aus Kalkstein erbauten Häusern. Sehenswert sind die bronzenen Türklopfer oder die Balkone an den Fassaden für die es früher eine andere Funktion gab als heute: Die Frauen saßen in den Erkern und klöppelten maltesische Spitze. Von diesen Balkonen konnte man hinausschauen aber nicht hinein. Kam ein Straßenhändler, so ließen sie einen Korb hinunter. Die Gassen bieten die perfekte Szenerie für die Stimmung von einst. Ich laufe an einem japanischen Pärchen vorbei, sie erinnern mich an den Tokyo Marathon, der ebenfalls heute stattfindet und von dem wir im letzten Jahr berichteten (siehe „Nichts ist unmöglich“ auf traillounge.de).

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Wie eine Warnung vor Gottlosigkeit wachen an vielen Ecken der Insel kalkweiße Gipsstatuen, deren Hände drohend in den Himmel weisen; so auch hier, in Mdinas größeren Schwesterstadt Rabat. Die Sonne scheint, die Strecke führt angenehm abwärts. Eine letzte Kurve und wir sind an dem perfekten Fotoknipsstandort angekommen. Bauch rein, Brust raus und lächeln, denn hier lauern Fotografen auf ihr Motiv. Im Hintergrund, weithin sichtbar, thront auf der Spitze des Bergsporns honiggelb die Cathedrale. Vom Hochplateau laufen wir abwärts in die fruchtbarste Landschaft des Landes. Während es bei uns noch vielerorts schneeweiß ist, dominiert hier auf den terrassenartigen Feldern üppiges Grün. Etwa bei Kilometer sechs trennt sich für die nächsten zwanzig Kilometer die Strecke und wir Marathonläufer werden nun einige Haken im Inland schlagen.

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Ich stoppe meine Zeit am Kilometerschild zehn. Die Strecke ist noch einfach zu laufen und bislang auch angenehm autofrei. Die Flutlichtmasten des Ta‘ Qali-Fußballstadion passen nicht in mein Geschichtsbild und den Blick verdränge ich schnell. Dafür nehme ich das Schild „Hundepark“ erfreut zur Kenntnis, denn wo ein Hund darf…

Weiter geht es auf die Straße in Richtung Attard. In den Hangars und Kasernen eines ehemaligen Militärflugplatzes aus dem Zweiten Weltkrieg haben sich heimische Handwerksbetriebe angesiedelt. Ein Platz für sonnenbebrillte und konsumfrohe Touristen. Denn die größte Auswahl an Mitbringsel ist hier zu finden: Gläser, Kannen, Vasen und filigrane Schmuckanhänger in Form des Malteserkreuzes. Selbst ein lebensgroßer Ritter aus Weißblech kann man hier günstig ergattern. Teuer wird dann nur der nachzubuchende Sitzplatz im Flieger. An das Gelände schließt der National Park an, Maltas jüngste, durch viel Beton aber leider verunstaltetes Pinienwäldchen. Hier passieren wir auch das erste Mal den Pitkali Vegetable Market, noch ist vom Marktgeschehen nichts zu spüren.

Reduce speed now

Von weitem höre ich es hinter mir rufen: „We want Coke!“. Was wir stattdessen bekommen, ist Wasser. Wasser so viel wir wollen, Wasser in Plastikflaschen. Den Osmanen ging es damals nicht so gut. Heute wie damals gab es kaum ein Süßwasserreservoir, welches durch Flüsse oder Seen gespeist wurde, denn dafür ist die Insel zu steinig. Dies machte sich der einfallsreiche La Valette zu Nutze und befahl seinen Rittern, tausende von Wasserkrügen von der Quelle der Marsa-Ebene füllen zu lassen und in die Festungen zu bringen. Als nun die eigenen Brunnen bis zum Rand betankt waren, befahl er, die wenigen Wasserlöcher und Quellen, die die Belagerer zum Trinken brauchen würden, zu vergiften.

Erinnert mich deshalb das eigentlich gut schmeckende gelbe Powerrade Getränk, welches in Plastik-Messbechern gereicht wird, an ein Pflanzenschutzmittel? Und ist es nur ein Zufall, als wir kurz darauf auf einen Wegweiser mit der Aufschrift „Psychiatrie-Museum“ stoßen ? Sind wir vielleicht Versuchskaninchen?

Apropos Kaninchen, Wildkaninchen freilebend zu sehen, ist unrealistisch. Das könnte daran liegen, dass die Langohren meistens als „Fenek“ in einer Rotwein-Knoblauchsoße auf den Tellern der Malteser enden.

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Schon vor einigen Kilometer sind bereits einige vom Laufen ins Gehen übergegangen. Liegt es an der gelben Flüssigkeit? Muss ich mir Sorgen machen? Als es mir nach einigen weiteren Kilometern immer noch gut geht, bin ich mir sicher, dass ich mir keine Sorgen machen muss.

Wir laufen durch eine Wohngegend; zu Fuß ist außer uns niemand unterwegs, aber mit Fahrzeugen. Aus manchem Garten schauen Zitronen und Orangen über die Kalkmauern, zwischendrin immer wieder Palmen. Nur wenige Anwesen besitzen einen eigenen Vorgarten, denn Gärten waren wegen des Wassermangels lange nicht erlaubt. Nun ist Schluss mit Vorgärten und wir laufen an einer langen stetig steigenden und gut befahrenen Straße weiter. Einige Läufer nutzen diesen Streckenabschnitt zum Gehen. Das ruhige Gegenstück zum lebhaften Treiben an der Straße finden wir nun im Inselinneren

Etwa zwanzig Kilometer sind gelaufen und noch bevor die Stadt Mosta erreicht ist, hat das Auge die alles überragende Kuppel bereits erblickt. Weit über das Umland ragt die von Santa Marija Assunta, von den Maltesern auch Rotunda genannte Kuppel, heraus. Sie bietet Platz für 12 000 Menschen und ihre Kuppel wird nur durch die in Rom und London an Größe übertroffen. Mit eigenen Händen und Opfern haben Gläubige zwischen 1833 und 1860 die freitragende Kuppel erschaffen. Gab es daher einhundert Jahre später das in dem Kirchbuch aufgezeichnete Wunder?

Es ist der Zweite Weltkrieg und über 300 Gläubige befinden sich zur Heiligen Messe in der Rotunda, als plötzlich eine Fliegerbombe in die 60 Meter hohe Kuppel schlägt, um kurz darauf in den Boden zu rammen. Sie explodierte nicht und niemand wird verletzt. Grund genug, um an Wunder zu glauben. Mosta selbst wurde durch schwere Luftangriffe stark getroffen, jedoch galten diese Angriffe eher dem britischen Fliegerhorst Ta´Qali über dessen Boden wir nun ein zweites Mal laufen.

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Im zweiten Weltkrieg wurde Malta aus diesem Grund Ziel von über 2000 Luftangriffen der Deutschen und der Italiener. In Relation auf die Fläche Maltas, haben die Insulaner im zweiten Weltkrieg die meisten Bomben abbekommen. Das Georgskreuz, vom britischen König Georg VI. als Tapferkeitsmedaille verliehen, ist seither auf der Landesflagge abgebildet.

Deutsch/französische Freundschaft

Seit Kilometern habe ich einen Begleiter an meiner Seite. Ich darf die Beharrlichkeit der Franzosen nicht unterschätzen. Er schüttelt mich nicht ab, ich ihn aber auch nicht. Ein kurzer Plausch, ein Schulterklopfen, weiter geht’s. Wir drücken auf die Tube. Mittlerweile sind einige Marktstände und Wägen geöffnet. Wir laufen vorbei an saftig roten Erdbeeren und anderen leckeren Früchten; der nächste Wagen bietet „Amerikan Meals“ und sonstige Leckereien feil.

Für uns gibt es hier nichts zu plündern, eher versucht man uns auszuhungern. Für manche ist dadurch die Schlacht schon entschieden. Aus meiner winzig kleinen Bauchtasche, zwischen Fotoapparat und Ladegerät krame ich ein Gel heraus. Es verspricht schnelle Energie. Wohl dem, der vorgesorgt hat. Aufreißen, reindrücken, durchstarten! Noch liegen etwa 18 Kilometer und ein langer Anstieg vor mir. Steinmauern begrenzen die schmale Straße rechts und links. Bis zu fünf Meter hohe Kakteengewächse ragen über die Mauern und so mancher Feigenkaktus steht bereits in Blüte.

Die großen Schlaglöcher auf diesem Streckenabschnitt erinnern mich irgendwie an Mallorca. Auch hier sind die Straßen nicht unbedingt für ein Trainingslager mit dem Rennrad geeignet. Große Achtsamkeit ist also opportun! Wir sind wieder an der breiten Hauptstraße mit dem Shopping Paradies angelangt. Der Parkplatz ist belegt. Ständig quellen Heerscharen von Besuchern aus den Reisebussen und strömen auf den Markt, einzig getrieben vom Bedürfnis, den Einkaufshunger zu stillen.

Das dichteste Straßennetz Europas

Wer an wem vorbei flaniert, liegt im Auge des Betrachters. Auf der einen Straße lässt so der ein oder andere Walker die Stunden gemütlich verstreichen, auf der anderen Straßenseite klopft so mancher zeitgeplagte Autofahrer hektisch auf sein Lenkrad. An den Windschutzscheiben baumeln Rosenkränze. 42000 Autos sollen täglich zwischen dem Mriehel Bypass und Attard verkehren. Für uns ein Verkehrsalptraum, auf Malta völlig normal. Auf 400 000 Einwohner kommen unglaubliche 300 000 Fahrzeuge. Da sind Parkplätze rar und die Politessen sollen am Umsatz beteiligt sein.

Würde aber nun jemand behaupten, entlang der Marathonstrecke gäbe es keine Zuschauer, so ist diese Aussage nur bedingt richtig, denn die meisten Zuschauer sind wie eben bereits erwähnt mobil. Entweder sie sitzen auf dem Sonnendeck eines Sightseeing Busses oder in ihren Fahrzeugen. Nur die allerwenigsten sind auf Fahrrädern unterwegs.

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Erst treten sie nur vereinzelt auf und nun nach und nach in Scharen. Die letzten Reste der Halbmarathonläufer und die Walker. Fred Feuerstein und seine Familie sorgen bei einem Bäcker erst einmal für eine ordentliche Ernährung auf der Strecke. Schnell sind sie nicht, aber sie sehen gut aus. Die Fotos, die ich schieße, kosten Zeit, aber sie sind es wert.

An einer Verkehrsinsel steht ein Warden (Polizist) und zieht langsam und genussvoll an einer Zigarette, während er in südländischer Ausgeglichenheit für unsere Sicherheit sorgt. Alles in allem laufen heute über 3000 Läufer/Walker über diese Straße. Auf einen Marathonläufer kommen ungefähr vier Halbmarathonläufer und noch viel mehr Walker. Ein Rekord! Slalomartig überhole ich hunderte von Walking-Akteuren, bei einigen waren echte Make-up Künstler am Werk. Diese Walker vor mir haben die Entdeckung der Langsamkeit gemacht. Das ist wohl ein wesentlicher Bestandteil des urbanen Lebensgefühls. Da ist es auch nur natürlich, dass sie nicht verstehen können, warum wir Läufer es so eilig haben. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt: Sei es beim Suchen nach der richtigen Musik oder beim Telefonieren mit den Freunden, um mitzuteilen, wo und mit wem man sich gerade rumtreibt. Es erfordert doch eine Menge Disziplin, hier nicht einfach mit dem Rennen aufzuhören und gemütlich mit zu walken. Andererseits bin ich früher im Ziel und das hat auch etwas! Unter den 3000 Teilnehmern sind übrigens 1200 aus dem Ausland.

Nicht die feine englische Art

Ich hatte schon fast mein Ziel – nämlich schnellste Deutsche sein zu wollen – vergessen, als mir folgendes passiert: Auf einer langen breiten Gerade kann ich schon von weitem ein Läuferpaar erkennen. Sie schon etwas angeschlagen, er auf sie einredend tänzelnd daneben. Ich weiß nicht warum, aber ich habe die folgende Situation genauso vorausgeahnt.

Ich laufe mit jetzt größer werdenden Schritten auf die beiden auf und setze zum Überholen an. Währenddessen drehe ich meine Startnummer vom Hinten nach vorne. So können die beiden nicht erkennen, ob ich eine Marathonläuferin oder eine Halbmarathonläuferin bin. Jetzt kommt, was kommen muss. Ich spüre die ungläubigen Blicke in meinem Genick, kurz darauf schießt der „Tänzer“ an mir vorbei, um meine Startnummer vorne am Bauch zu erkennen. In diesem Moment drehe ich diese zur Seite und ziehe meinen Schritt noch weiter an. Mein Lächeln nimmt er nicht mehr wahr. Ja, ich weiß, vielleicht war das nicht die feine englische Art, aber Spaß hat es trotzdem gemacht und ihr wisst jetzt, für was ein Startnummernband alles gut sein kann.

Auch wenn es mich eine gehörige Portion Kraft kostet, den schnellen Schritt von eben behalte ich bei, man weiß ja nie, wer von hinten kommt. Nach 36 Kilometern erhalten wir die erste feste Nahrung in Form eines saftigen Stück Orange. Es ist so ein reines Geschmackserlebnis, wie der erste Apfel nach einer Woche Fasten. Dieses Geschmackserlebnis lenkt zumindest von dem nächsten Anstieg ab. Doch wo es rauf geht, geht es auch meistens wieder runter. Wie durch einen Kessel pfeift der Wind durch die schmale Straße, die direkt auf das Hafenbecken führt. Die Luft schmeckt leicht salzig.

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Das Wasser ist nur wenige Schritte entfernt. Segelboote und Yachten dümpeln rechts im Bild, links Busse und PKWs, irgendwo plätschert leise ein Brunnen. Noch drei flache Kilometer liegen vor mir. Ich schaue erstmals auf die Uhr. 3:45 Stunden gelaufen, kann ich vielleicht am Ende sogar unter vier Stunden ins Ziel einlaufen? Normalerweise interessiere ich mich nicht für die eigene Laufzeit, aber diese Möglichkeit beflügelt.

Das Publikum am Rande der Strecke wird mehr und mehr. Die Stimmung immer größer, jedoch das Slalomlaufen um die noch immer massenhaften Walker kostet Zeit und Kraft. Man kann sich kaum vorstellen, wie lange plötzlich auch noch die letzten zwei Kilometer sein können. Eine innere Stimme sagt: „Nun tu endlich mal was! Streng dich an, gib dir mehr Mühe!“ Diese Stimme klingt wie ein innerlicher Antreiber.

Jede der beiden Uhren der dem Heiligen Josef geweihten Kirche zeigen eine andere Uhrzeit an. Was aber soll ich nun glauben? Auf Malta gehen tatsächlich viele Kirchturmuhren falsch. Manche sind auf die Kirchtürme nur aufgemalt und ticken überhaupt nicht. Andere gehen immer falsch. Das soll den Teufel verwirren, damit er nicht rechtzeitig zum Gottesdienst kommt und dort die Gläubigen stört.

An der Uferpromenade mischt sich der Geruch des nahen Meeres mit dem des Benzins und dem Schweißgeruch auf meinem Shirt. Vor uns liegt Sliema Creek, Anlegestelle vieler Rundfahrtschiffe und Fähren. Das Ziel in Maltas lebhafter Stadt ist fast erreicht. Die Zuschauermassen tragen einen regelrecht ins Ziel. Was der Moderator sagt, kann ich nicht verstehen. Aber ich verstehe zum ersten Mal, warum sich Läufer im Ziel ärgern, wenn sie eine Minute länger gebraucht haben, als sie sich vorgenommen haben. That´s life.

Die große Belagerung

Der krönende Abschluss ist wie ein endgültiger Beweis für unsere Tauglichkeit zum Ritter. Die Galere von St. John ziert die gewichtige Medaille in Gold. Als sie mir um den Hals gehängt wird, ist das wie ein Ritterschlag.

Unterwegs sind noch die, die sich den Luxus gönnen, die Zeit folgenlos verstreichen zu lassen. Die Läufer, die keine Minute zu verschenken haben, sind schon längst im Ziel und Lukas ist bereits auf der Rückreise. Wer jedoch mit seinem Lauf unter drei Stunden bleibt, der könnte schnell auf die nächste Fähre springen und in die Stadt Valletta, die majestätisch auf der gegenüberliegenden Seite thront, übersetzen. Dort käme er gerade noch rechtzeitig in der St. Barbara Church zur Deutsch gelesenen Messe.

Übrigens fanden die Gebeine der Kreuzritter ihre letzte Ruhestätte unter hunderten von Grabplatten in der St. John’s Co-Cathedral von La Valletta. Sie ist die Schwesterkirche der Kathedrale von Mdina. Egal wie kurz oder lang ein Aufenthalt auf Malta ist, dorthinein sollte jeder einmal geschaut haben. Aber auch viele andere Sehenswürdigkeiten liegen so dicht beieinander und können locker besucht werden. Einmalig für Europa: die ganze Stadt La Valletta steht unter Denkmalschutz.

Malta lässt fast keinen Wunsch unerfüllt. Wir sagen: „Grazzi hafna“, „Thank you“, „Grazie“, “Mercie“ und „Danke“!

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Übrigens: Den Malteser Aquavit kann man zwar auf Malta kaufen, er stammt aber nicht von hier, dafür aber Playmobil. Hier werden fast alle Playmobilfiguren hergestellt, die man bei uns kaufen kann. Es sind um die 60 Millionen Figuren im Jahr, also etwa zwei pro Sekunde.

Marathonstatistik: Finisher 403 aus 32 Ländern, 332 Männer und 71 Frauen. 60 Teilnehmer kamen aus Deutschland, davon 47 Männer und 13 Frauen. Über 218 der Teilnehmer liefen mit einer Zielzeit von unter 4:00:00 Stunden ins Ziel. Ein letzter deutscher Sieg bei den Damen liegt zwölf Jahre zurück. Mein persönlich gestecktes Ziel habe ich leider nicht geschafft, dafür aber Beatrice Walther in schnellen 3:30:09 Stunden. Für mich bleibt Platz vier auf meiner persönlichen Rankingliste.

Resümee: So ein Frühlingsmarathon ist keine sanfte Sache, sondern tückisch und gefährlich: Er untergräbt die Disziplin, verführt zu Ausschweifung und Selbstverschwendung- was bleibt ist ein dicker Muskelkater. Denn es war ja nur ein paar Tage wie im Frühling- zuhause wird es wieder Winter sein.

Was man noch wissen sollte:

Wettbewerbe: Neben dem Marathon werden auch ein Halbmarathon, ein Rennen über 10 Kilometer und der „Walkathlon“ ausgerichtet. Die Wertung der Altersklassen erfolgt nur für den 1. und 2. Platz. Mädels aufgepasst: Als Siegesprämie winken Schuhgutscheine!
Streckenprofil: Marathon etwa 200 Höhenmeter, Punkt zu Punkt Strecke.

Verpflegung Marathon: 8x Wasser, 1x Orangen (KM 36), 5x Schwämme, 3x Powerrade (KM 11, KM 29, KM 38). Noch mehr Wasser und Powerrade bekommt man im Ziel zusätzlich Bananen und ein Subway Baguette.

Temperatur: 13 – 20°C

Am Tag danach: Auf Maltas Straßen ist ein anderes Publikum unterwegs. Vereinzelt sieht man aber schon wieder Läufer an der Hafenpromenade joggen. Wir haben einen anderen Plan… Demnächst zu lesen unterwww.trailrunning.de.

Aufgestöbert: Fünf von fünf Reiseführen zeigen die bunten Fischerboote auf dem Cover. Wir konnten dieses Motiv im Fischerdorf Marsaxlokk wiederfinden. Einen Espresso mit einem süßen Teilchen genießt man am besten in Vallettas ältestem Café (caffecordina).