Natascha Sambach

Natascha Sambach

Marathon Lake Tahoe 2013

Die fünf Phasen des Marathon

 

Texte: Natascha Sambach und Andrea Helmuth

 

Einige Menschen sind der Meinung, dass ein Marathon innerhalb eines IRONMAN nicht in einer Marathon-Statistik gewertet werden sollte, weil er in keinem unabhängigen Wettkampf absolviert wurde. Diese Einschränkung zwingt mich nun dazu, mir für Nordamerika in meiner Kontinenten-Wertung einen zusätzlichen 42er zu suchen.

 

Andrea Helmuth

Andrea Helmuth

Der IRONMAN findet am nördlichen Lake Tahoe in Kalifornien statt (siehe separaten Bericht ) und glücklicherweise – allerdings schon ein Wochenende danach – wird am südwestlichen Lake Tahoe ein Marathon angeboten. Da muss ich nicht lange überlegen und melde mich auch dazu an. Als ich meiner Tochter, Natascha, von meinen amerikanischen Sport- und Reiseplänen erzähle, ist sie sofort begeistert und würde so ziemlich alles, tun um mitzureisen…Andrea Helmuth

 

Zwei Kilometer vor dem Ziel sagt meine Mutter zu mir: „Einen Marathon in Kalifornien; jetzt geht gleich dein Traum in Erfüllung.“ Meine Antwort: „Das ist nicht mein Traum!“ – Denn hätte ich tatsächlich einen Marathonzieleinlauf für mich erträumt, dann wären darin sicherlich mehr Menschen an der Zielgerade; vor allem aber höhere Häuser und der Central Park eingeschlossen gewesen. Doch dafür ist es jetzt auch zu spät und immerhin sind es ja auch nur noch 2 KM. Das hier ist definitiv kein Traum!

 

 

Phase Eins – Bereuen

Im Moment der Anmeldung war mir schon bewusst: Diesen Klick würde ich bereuen. Anders als bei meinem Freund Christian (Autor vom Berlin Marathon 2012 und 2013) habe ich gegenüber meinen Eltern niemals den Wunsch geäußert, einen Marathon laufen zu wollen. Und anders als Christian, habe ich mich in den nunmehr 10 aktiven Marathonjahren meiner Eltern, immer mit der Euphorie zurück gehalten. Oft habe ich an der Strecke gestanden, angefeuert, mitgefiebert, Split-Zeiten kontrolliert, Konkurrenz analysiert und Koffein geliefert. Ob an der Strecke oder aus der Entfernung, ich war und bin ihr größter Fan.

Aber selbst auf die Strecke? Nein, das wäre mir nie in den Sinn gekommen. Und doch muss man mir in den letzten Jahren, gelegentlich bei Laufmessen an einem bestimmten Stand, aber immer spätestens einmal im Jahr in der ersten Novemberwoche ein Blitzen in den Augen entdeckt haben. Hatte das meine Mutter entdeckt, als sie mir vorschlug, „mein Debut“ in Kalifornien zu geben und eine Woche nach ihrem IRONMAN meinen ersten Marathon zu laufen? Es muss wohl, sonst wäre es ja niemals zu dieser Anmeldung gekommen.

Das Training sollte im Frühling beginnen. Bedingt durch den Haushalt, in dem ich bis zu meinem Schulabschluss und meinem Umzug nach Frankfurt (Oder) und Berlin gelebt habe, weiß ich, dass das eigentlich schon zu spät ist. Doch auch ich habe denselben Berliner Winter erlebt wie Christian und deshalb Kuchen und Couch der Kälte und dem Muskelkater vorgezogen. Und als es dann wirklich (endlich) so richtig losgehen sollte, da habe ich jeden Lauf wegen Knieschmerzen nach etwa 5KM abbrechen müssen.

Zum Glück gibt es in Berlin Ärzte wie Sand am Meer, die einen auch ohne viele Fragen zu MRT und Physiotherapie überweisen. Nach sechs Terminen keine Besserung. Die Zeit rannte, was ich von mir nicht sagen konnte. Enttäuschung und Ärger wuchsen: Über mich selbst, weil ich mich auf diesen Marathon-Irrsinn überhaupt eingelassen habe und über mein Knie, was mich jetzt bei der Umsetzung auch noch im Stich ließ.

Was mir in Zeiten der Enttäuschung und Ärger bisher immer geholfen hat, war Shoppen. Und auch diesmal sollte es sich als die beste Therapie herausstellen. Zwei Tage vor einem mittelwichtigen (mich durchaus fordernden) 10KM-Wettkampf kaufte ich mir ein neues Paar Laufschuhe. Meine ersten eigenen; war ich sonst immer die unbeliebten meiner Mama gelaufen, wenn sie diese entweder doch zu groß, zu hässlich oder einfach falsch gekauft hatte. Als Studentin nimmt man, was man kriegen kann und bei 10KM macht mich so ein Mix bunter Kunststoffe auch nicht schneller. Nach zwei Stunden Laufanalyse, dutzenden Schuhtests und Erklärungen zu Sprengung und Stützverhalten war ich nicht nur um ein paar Schuhe reicher, sondern bekam zusätzlich zu einer guten Physioadresse auch wieder neue Lust am Laufen.

Die Zeit rannte (gnadenlos) weiter und ich rannte zwar noch nicht in ihrem Tempo, aber immerhin: Ich lief. Übermotiviert meldete ich mich und Christian dann auch noch für eine Belastungsanalyse an. Nachdem der Schweiß auf Laufband und Ergometer wieder getrocknet und unsere Ergebnisse ausgewertet worden waren, war ich vor dem Ergebnis so aufgeregt, wie vor den Halbjahreszeugnissen. Hat man in einem Fach nicht so gut abgeschlossen, dann bleibt trotzdem noch ein bisschen Zeit, um sich zu verbessern. Auf dem Rad war ich wohl durchgefallen, der Arzt zieht die Augenbrauen hoch. Aber beim Laufen muss ich ihn doch beeindruckt haben. Ich hätte keine optimale Läuferfigur, aber Geschwindigkeit und Laktatwerte seien ganz gut für meinen Trainingszustand. (Welchem Trainingszustand? Zweimal 10KM in der Woche sind doch kein Trainingszustand.)Wie lange es noch sei bis zu meinem Marathon, will er wissen. Noch etwa 12 Wochen, meine Antwort. Er wünscht mir Erfolg.

Im Juli beginnen die Semesterferien. Üblicherweise heißt das Bibliothek von morgens bis abends, bis am Ende mindestens eine und im besten Fall zwei Hausarbeiten geschrieben, ein Praktikum abgeleistet und der Stoff des vergangenen Semesters aufgearbeitet wurde. Nicht so in diesem Jahr. Am 14. Juli lasse ich Christian in Berlin für die Sommermonate zurück und mache mich auf den Weg in mein persönliches Trainingslager – zu meinen Eltern. Und spätestens jetzt habe ich Zeit, meine Marathonentscheidung zu bereuen: Morgens auf den 10 Radkilometern zu meinem Sommerjob. Abends auf den 10 Radkilometern wieder nach Hause. Wenn ich meine Mama zum Schwimmtraining oder in die Gymnastik begleite und natürlich bei jedem Laufkilometer in der unsagbar langweiligen Nachbarschaft bei unsagbarer Hitze. Auf den kalten Winter folgt, nachdem der Frühling ausgefallen war, ein heißer Sommer. Ich bereue meine Entscheidung.

Während sich Christian strikt an einen Trainingsplan hält und neben Laufen auch noch Yoga macht, habe ich just diesen Plan bereits nach einer Woche in der Heimat über Bord geworfen. Statt kontinuierlicher Steigerung von Intensität und Länge der Trainingseinheiten, laufe ich jetzt einfach immer dann, wenn ich Zeit habe und mache so nur noch einen Ruhetag pro Woche. Meine beste Freundin Isabella begleitet mich tapfer so oft sie kann, auch wenn sie noch weniger Spaß am Laufen hat als ich und sich ihre sportliche Freizeit eigentlich auf Rhythmische Sportgymnastik und Geräteturnen konzentriert. Zusammen geben wir zwar ein eher gesprächiges, als zielbewusstes Trainingspaar ab, aber verbessern immerhin als Teil einer Triathlon-Staffel unsere 5KM-Bestzeiten.

Meine Trainingseinheiten sind alles in allem für sich genommen nicht sehr lang und auch schon gar nicht sonderlich schnell. Aber ich nutze den Weg ins Büro und laufe so manchmal zweimal am Tag 10KM auf dem Seitenstreifen der L3262 durch den Wald. Die Strecke ist nicht spannend, sie war es nicht, als ich sie das erste Mal lief und wurde auch nicht spannender. Nach 6 Wochen wusste ich, wo die toten Tiere lagen und wann die Bahnschranke geschlossen wird.

Am Wochenende ließen sich die Kommandanten im Lager schon mal etwas Besonderes einfallen: Läufe am Feldberg im Taunus oder auf den Wingertsberg in Dietzenbach sollten mich auf die Anstiege am Lake Tahoe vorbereiten. Ich genoss genau diese Läufe, bei denen die Zeit am Ende keine Rolle spielt, sondern der Erfolg vielmehr am anhaltenden Muskelkater gemessen wird, und Gott, war ich erfolgreich. Und eine weitere Weisheit lernte ich bei diesen mittelhessischen Bergkilometern: Je härter der Lauf, desto schöner die Aussicht.

Und während die Wochen nur so rannten, schaffte ich es, mich konsequent vor den „langen Läufen“ zu drücken. Zwei Wochen vor Beginn unseres Kalifornienurlaubes besuchte auch Christian das hessische Trainingslager.

Unseren Jahrestag feierten wir bei einem langen Lauf: Und als wir wieder am Gartentor ankamen, zeigte die Uhr genau 30.02KM. Mir ging es gut und wenn ich gemusst hätte, wäre ich auch noch weiter gekommen. Wenn Forrest Gump über 30 Jahre laufen kann, dann werde ich doch auch noch einmal wenigstens 30 Minuten dran hängen können. Aber dies zu tun oder einfach ein paar Tage später nochmal 30KM zu laufen, dazu konnte ich mich nicht motivieren. Bis zum Marathon sollte dies der einzige 30er bleiben.

Als wir am 16. September im Flugzeug von Frankfurt nach San Francisco sitzen, die ersten Bordsnacks verdrückt, zwei Filme am Stück geguckt und nochmal gedanklich die Reisepläne für die kommenden vier Wochen durchgegangen sind, freue ich mich. Ich freue mich auf Amerika, auf Land und Leute, auf Hamburger, Cookies und angemessen proportionierte Colaflaschen. Endlich geht es los. Und ich bereue meine Entscheidung, mich für den Marathon angemeldet zu haben, kein bisschen mehr. Das Geld, für das ich diesen Sommer gearbeitet habe, gilt es nun auszugeben und die Medaille, die ich mir in den letzten Wochen verdient habe, will ich nun abholen: Beim 18. Lake Tahoe Marathon.

Phase Zwei – Wut

Als wir in San Francisco landen, erwartet uns schönstes Sommerwetter. Nicht zu warm, nicht zu kalt. Wir holen unseren Mietwagen ab und machen uns gleich auf den Weg zu unserer ersten Etappe. Ziel für die erste Woche ist die Kleinstadt Truckee am nördlichen Teil des Sees. Die Stadt liegt auf 1800m Höhe und wir sind so früh angereist, um uns an genau diese Höhe zu gewöhnen. Ich habe im Internet gruselige Berichte über Höhenkrankheit und die damit verbundenen Risiken gelesen. Wenn ich in den vergangenen Jahren Skifahren war, habe ich die Höhe zwar nie gespürt, geschweige denn hat sie mich in irgendeiner Form krank gemacht. Aber ich kann mich auch nicht daran erinnern, jemals auf vergleichbarer Höhe auch nur ein paar Kilometer gejoggt zu sein.

Während also Mama mit dem Aufbau ihres Rennrades kämpft, die eine oder andere Ausfahrt macht und sich ein Probeschwimmen im kalten See gönnt, nutze ich die Zeit, meinen liebgewonnenen Schuhen Kalifornien zu zeigen. Weit komme ich dabei aber nicht. Bereits nach 5KM ist die Stadt zu Ende und der Freeway beginnt. Trotz meiner Erfahrung auf der L3262, möchte ich hier nicht der Highway Patrol erklären müssen, dass ich für einen Marathon trainiere und ich mich gerade an die Höhe gewöhne. Also kehre ich um und erreiche nach gerade einmal 8KM wieder unser Hotel.

Einige Tage später schnüre ich wieder die Schuhe. Ich starte in Kings Beach und überquere laufend die Grenze von Kalifornien nach Nevada. Was sich weit anhört, endet auch nur als 9KM-Lauf entlang der Hauptstraße neben stinkenden SUV‘s und Triathleten, die ihrer Konkurrenz vor dem großen Tag noch einmal ihr textiles und muskulöses Equipment präsentieren wollen. Meine Versuche der Akklimatisation waren nicht sehr erfolgreich, auch wenn ich von der Höhe selbst noch nichts spüren konnte.

Trotzdem bin ich wütend. So habe ich mir das nicht vorgestellt. Einen 30er wollte ich zwar auch hier nicht laufen, aber nicht mal die üblichen 10KM habe ich schaffen können. Nach dem IRONMAN beginnt auch meine letzte Woche vor dem Marathon und weil wir uns entschlossen haben diese Woche für den Besuch des Yosemite Nationalparks (300KM südlich des Lake Tahoe) zu nutzen, werde ich keinen weiteren Lauf mehr schaffen. Die Trail-KM im Yosemite zu den Nevada Falls und hinauf auf den Sentinel Dome müssen ausreichen.

Phase Drei – Verhandeln

Es ist Sonntag 4 Uhr morgens und der Wecker klingelt. Gestern sind wir aus dem Yosemite Valley zurückgekehrt und haben in ein günstiges Hotel auf der kalifornischen Seite der Stadt South Lake Tahoe eingecheckt. Auf der Marathonmesse, die am Samstag im nahegelegen Racehotel stattfand, bieten sich zu viele Gelegenheiten, mein hart verdientes Geld auszugeben.

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Unsere Unterkunft liegt nur 15 Gehminuten vom Racehotel und damit auch der Abfahrtstelle der Shuttlebusse entfernt. Neben vielen kleinen Geschäften gibt es hier noch zahlreiche Restaurant und auf der Nevada-Seite der Stadt sogar Kasinos. South Lake Tahoe ist eines der zahlreichen Skigebiete, die den See umgeben. Ich denke an Christian: Hat er seinen zweiten Marathon in Berlin geschafft? Nein, er ist noch auf der Strecke! Während ich hier im warmen Bett liege und via App seine Split-Zeiten verfolge, läuft er bei KM 37,5 auf der Bülowstraße etwa einen halben Kilometer vor dem Abbiegen auf den Potsdamer Platz. Und er läuft schnell!! Ich bin stolz auf ihn und motiviert für mein eigenes Rennen. Wir machen uns fertig und kurz bevor wir unser Zimmer verlassen und in die Kälte treten, hat Christian das Brandenburger Tor durchquert und mit 31 Minuten Verbesserung zum Vorjahr seinen zweiten Marathon gefinisht. Der Glückliche!!

Heute Morgen haben Shops und Restaurants noch geschlossen und lediglich das ein oder andere Kasino auf der Nevada-Seite der Stadt setzt einen Pechvogel nach langer, glückloser Nacht auf die Straße. Um 5 Uhr erreichen wir die Haltestelle.

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Es ist dunkel und die Temperaturen liegen um den Gefrierpunkt. Die wenigen Läufer, die am Bus warten, sind ruhig und kaum jemand spricht ein Wort. Jeder friert. Im warmen Bus bleibt Zeit in einen Riegel zu beißen und noch einmal die Augen zu schließen. Nach einer Stunde Fahrt ist der See entgegen dem Uhrzeigersinn umrundet und die Stadt Tahoe City an der Westseite erreicht. Startlinie ist Commons Beach und während ich mir zum zweiten Mal an diesem Morgen den Schlaf aus den Augen reibe, tummeln sich am Strand schon zahlreiche Läufer. Die einen laufen sich warm, machen Yoga oder sind auf der Suche nach einem pre-race port-a-pottie, hier liebevoll Nevada-Johns’s genannt.

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Während die Sonne glutrot über dem See aufgeht, nimmt ein Dudelsackspieler Aufstellung und beginnt mit seiner Kunst. Eine Tradition des Laufes, sagt man uns, und auch wenn wir viele Geschichten gehört haben, konnten wir nicht mit Sicherheit herausfinden, wie es zu dieser Tradition kam. Sollte man bei diesen Tönen für einen Moment vergessen haben, dass man sich in den USA befindet, dann wird man spätestens um 5 vor 7 Uhr wieder daran erinnert. Die amerikanische Hymne, live gesungen, schallt über den Strand und plötzlich werden auch die hektischen Läufer ruhig und halten einen Moment inne, lauschen ihrer Hymne mit der Hand auf dem Herz und klatschen und jubeln zu den letzten, hohen Tönen. Punkt 7 Uhr. Der Startschuss fällt.

Phase Vier – Depression

Von Depressionen ist hier keine Spur zu sehen. Alle sind gut gelaunt und freuen sich darauf, dass es endlich los geht. Es ist Race Director Les Wright persönlich, der mit diesem Startschuss seine Teilnehmer auf die Strecke schickt. Unter dem einfachen Startbogen hindurch starten heute einige hundert Läuferinnen und Läufer. Es scheint nur wenige Neulinge zu geben. Im Gegenteil, eine große Anzahl Läufer bricht heute auf zu ihrem letzten von drei Marathons innerhalb von drei Tagen. Sie sind vorgestern einen Marathon gelaufen und gestern auch. Wenn sie später in South Lake Tahoe ins Ziel laufen, dann haben sie mit 72 Meilen den Tahoe Triple gefinisht und dabei den ganzen See in drei Tagen umrundet. Eine Leistung, die mich schwer beeindruckt, zumal nicht wir die Triple-Starter überholen, sondern von diesen überholt werden.

Als ich mit einer von ihnen ein Gespräch beginne und sie mir den Streckenverlauf erläutert, wird meine Mama neben mir aufmerksam. (Entstehen da etwa schon Pläne für das nächste Jahr? Hoffentlich versteht sie mein Interesse an der Streckenführung nicht als Wunsch, im nächsten Jahr daran selbst teilzunehmen.)

Weil sich die Beschilderung der Strecke auf Meilen beschränkt, blicke ich ab und zu auf meine Polar. Integriertes GPS verrät mir die bereits zurückgelegte Distanz in Kilometern. Christian hatte mir den Tipp gegeben, wichtige KM-Punkte in Meilen umzurechnen und aufzuschreiben. Das habe ich natürlich vergessen. Die Hilfsmittel, die ich hier zur Verfügung habe, sind also meine Uhr, die Kilometer hochzählt, und die Schilder an der Strecke, die die Meilen zum Ziel herunter zählt. Aber egal wie man es dreht und wendet: Ein Marathon ist sowieso erst nach 42,195 Kilometern beziehungsweise 26,2 Meilen fertig.
Als ich das erste Mal auf meine Uhr schaue, sind bereits über 5KM vergangen. Das geht schneller als erwartet, auch wenn die Strecke selbst bis hierhin nicht sehr viel zu bieten hat. Die ersten 9 Meilen (14,4KM) verlaufen teils auf der zur Hälfte gesperrten Straße (Highway 89) und auf einem asphaltierten Radweg. Der Radweg schlängelt sich entlang des zunächst flachen Westufers des Sees und man läuft vorbei an rustikalen (Ferien-)häusern, von denen jedes zweite von einer deutschen Familie bewohnt zu sein scheint, wenn man sich auf die Namen auf den Türschildern verlassen kann. Bei Meile 6 (9,6KM) erreicht man die Homewood Ski Area. In wenigen Wochen werden sich hier Ski- und Snowboardbegeisterte von den insgesamt 7 Liften den Berg hinauftragen lassen.

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Etwa alle zwei Meilen gibt es eine Verpflegungsstelle. Weil die beste von Ihnen von den Läufern nach dem Marathon gewählt wird, geben sich die zahlreichen Helfer allergrößte Mühe, die Läufer nicht nur mit Isogetränken, Wasser und Snacks zu unterstützen, sondern möglichst jedem einzelnen einen persönlichen Motivationsschub zu geben. Die Bandbreite der Snacks ist groß und jeder Verpflegungspunkt hat etwas anderes im Angebot: Von Brezeln und anderem Salzgebäck, Trauben, Gummibärchen und Müsliriegeln ist alles dabei und zweimal gibt es sogar Chocolate-covered raisins (Schokorosinen), ab heute mein Lieblingsnack beim Laufen. Man weiß nie, was es an der nächsten Verpflegungsstelle geben wird, aber eine Motivation dort schnell anzukommen (und wieder zwei Meilen hinter sich zu lassen), ist es allemal.

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Nach einem leichten Anstieg erreichen wir bei Meile 11 (17,6KM) Meeks Bay. Umgeben von immergrünen Nadelbäumen wohnen hier an diesem idyllischen Fleckchen heute nur wenige Menschen. Von 1929 bis 1972 gab es aber sogar noch ein Postamt. Der saphirblaue See taucht nun immer wieder zwischen den Bäumen hervor und die Sonnenstrahlen bahnen sich auch so langsam ihren Weg auf die Strecke.

Jetzt geht es etwa 4KM bis zum Rubicon Point hinauf. Bei Meile 13.1, 21KM, steigen die Halbmarathonläufer ein. Bis hier hin haben sie eigentlich nicht viel verpasst. Trotzdem bin ich froh, die Hälfte schon geschafft zu haben und freue mich sogar auf „den letzten Rest“. Haben uns heute Morgen noch die Triple-Läufer überholt, so sind es jetzt wir, die Marathonläufer, die die Halbmarathonläufer und –walker überholen. Und wie ich heute Morgen ehrfürchtig auf das Laibchen der Triple-Läufer geblickt habe, so ruft nun auch meine Marathon-Startnummer Anerkennung der soeben auf die Halbmarathonstrecke entlassenen Läufer hervor. Mit dem Einstieg der Halbmarathonläufer enden zunächst die Anstiege und es folgt eine angenehme downhill-Passage über etwa 2 Meilen (3,2KM), auf der man einmal so richtig große Schritte machen kann und auch machen sollte.

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Denn genau bei Meile 15.2 (24,5KM) beginnt der Aufstieg zum „Hill from Hell“: Bis zum Gipfel dieses Höllenberges sind es 1.6 Meilen (2,6KM), das bedeutet einen Anstieg von insgesamt 520‘ (160HM). Auch wenn dies nicht unbedingt meinen Vorstellungen von Berg oder gar Hölle entspricht, so hat manch ein Läufer oder Walker hier doch durchaus schwer zu kämpfen.

„If you’re going through hell, keep on going, don‘t slow down, if you’re scared dont show it…“, diesen Countrysong im Kopf, arbeite ich mich nach oben. Zum Thema Musik fällt mir noch ein: Ich höre leidenschaftlich gerne Musik, den ganzen Tag und bei so ziemlich allem was ich mache. Also auch beim Laufen. Im Trainingslager verpönt, habe ich versucht, den Konsum zu reduzieren, was mir auch durchaus gelang. Aber sollte die Zeit bei dem einen oder anderen Lauf doch einmal etwas besser sein, dann brauche ich die Knöpfe in den Ohren. Heute habe ich besagte Knöpfe zwar dabei, aber gedacht sind diese nur für den Notfall. Dieser Anstieg ist definitiv noch kein Notfall. Nichtsdestotrotz gilt, je härter der Lauf, desto besser die Aussicht. Und die kann sich hier wirklich sehen lassen.

Die Schönheit des Sees lässt sich kaum in Worte fassen und die Aussicht raubt einem mehr den Atem, als die dünne Luft auf dieser Höhe. Die blaugrauen Berge der Sierra Nevada im Hintergrund, umgeben von dunkelgrünen Nadelbäumen rahmen den tiefblauen See, den man nun von der Strecke aus nicht aus den Augen verlieren kann, ein. Das Wetter macht die Szenerie erst vollkommen: Strahlender Sonnenschein und kein Wölkchen mehr am Himmel. Wer hätte gedacht, dass wir mit dem Wetter noch so viel Glück haben würden, sah es doch heute Morgen und auch auf den ersten 10KM noch eher trüb und grau aus. Am Gipfel werden wir bereits von dem Dudelsackspieler erwartet, der auch schon beim Start die Läufer mit seinem Können in den Bann zog. Lange können wir den Tönen hier oben nicht lauschen, haben wir doch noch einige Kilometer vor uns.

Zum Glück hat meine Mama den IRONMAN vom letzten Sonntag noch in den Knochen, sonst würde sie mir hier am Berg wohl davonlaufen. Doch unter diesen Bedingungen können wir hier beide – Sie, müde vom letzten Sonntag und ich müde von den letzten 28KM, die einmalige Aussicht auf die Emerald Bay genießen. Und weil es hier stetig bergauf geht, haben wir dazu auch genügend Zeit.

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Bei Meile 19 (30,4KM) und nach einem weiteren kurzen Anstieg von knapp 200‘ (60HM) steigen die 10KM-Läufer in ihr Rennen ein und wieder einmal bin ich froh über die Distanz, für die ich mich hier heute entscheiden habe.

Dieser Punkt heißt „Inspiration Point“ und gibt durchaus Inspiration und Motivation für die verbleibenden Kilometer. Ab jetzt geht es auch nur noch bergab und ungefähr auf der Höhe von Meile 22 (35,2KM) kann man in der Ferne bereits den Strand, Pope Beach, sehen, auf dem uns der Zieleinlauf und das Barbecue erwarten.

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Nach dem Queren einer Brücke bei Meile 24 (38,4KM) biegt man bereits auf die verlängerte Zielgerade ein. Auf einem Radweg entlang des Highway und kurze Zeit später durch die Valhalla Historical Estates laufen wir in Richtung Strand.

Phase fünf – Akzeptanz

Bei Meile 26 ist das Zieltor in Sicht und ich kann es kaum fassen, mit meiner Mama Hand in Hand ins Ziel zu laufen.

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Das hätte ich nun wirklich nicht schöner träumen können. Nachdem wir uns am Strand etwas ausgeruht und unsere Füße im See gekühlt haben, gönnen wir uns ein frisch gegrilltes Hotdog und Cookies. Mit schweren Beinen machen wir uns danach auf den Weg zur Shuttlebus-Station, um mit einem von diesen klassisch-gelben Fahrzeugen wieder zurück Richtung Hotel zu fahren.

Meiner Mama fehlen jetzt nur noch zwei Kontinente für ihr Ziel, auf jedem einen Marathon zu laufen und mir… Naja, wenn ich darüber nachdenke, dann habe ich tatsächlich nie davon geträumt einen Marathon zu laufen. Aber jetzt, mit dem notwendigen Abstand zu Atemnot und Gelenkschmerzen nach der Ziellinie muss ich feststellen, dass Marathontraining eigentlich glücklich macht. Es macht müde und hungrig. Man schläft mehr. Isst mehr. Und wen würde das nicht happy machen?

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Genau zehn Jahre nach meinem ersten Marathon laufe ich freudestrahlend Hand in Hand mit Natascha über die Ziellinie. Keine andere Mutter könnte in diesem Moment glücklicher sein! Andrea Helmuth