Andrea Helmuth

Andrea Helmuth

Marathon Deutsche Weinstraße 2014

Zum Wohl die Pfalz

 

Den ersten und zweiten Becher trinke ich noch aus, am nächsten wird nur genippt, am übernächsten ebenfalls; dann noch einmal, und noch einmal. Die Plastikbecher sind gefüllt mit purem Pfälzer Traubensaft – hochprozentig.

 

 

 

 

 

Ein fast perfekter Lauf, abgesehen von Begleiterscheinungen, die diese ungewöhnlichen elf Trinkpausen mit sich bringen (können). Nicht nur die Wirkung des spritzigen, leichten Getränks lässt mich entspannt und rosarot auf die noch vor mir liegenden Kilometer schauen. Gleichmäßig unrhythmisch sind meine Schritte. Ich schlurfe mich in Trance und liefere mir dabei Zweikämpfe mit Weinbergschnecken und rosaroten Panthern. Nicht umsonst sagt man, Wein sei ein idealer Begleiter.

„Eher soll die Welt verderwe, als vor Dorschd en Pälzer sterwe“

Bekanntlich soll am Tag vor einem Marathon ausreichend Flüssigkeit zu sich genommen werden und so wird den Läufern am Samstag an der Bushaltestelle am Start-/und Zielbereich in Bockenheim, eine Weinprobe angeboten. Von dort startet die Besichtigungstour, die den Läufern und auch den Laufinteressierten bequem einen Überblick über die Marathon- und Halbmarathonstrecke gibt. Der Weinstraßen Marathon ist ein Höhepunkt im Rausch der Pfälzer Festfreude. „Wer jetzt nicht dabei ist, muss dann leider wieder zwei Jahre warten, um auf der Deutschen Weinstraße die Laufsaison zu starten“, sagt Cheforganisator Rolf Kley von der Dürkheimer Kreisverwaltung.

„In Bock`rem geht´s los uff de Woistroß Ihr Leit…“

Der Versuch, vorab einzuchecken, um Zeit und Nerven zu sparen, scheitert. Anders als ursprünglich geplant, beginnt für mich der Weinstraßen Marathon leider erst sonntagsfrüh. Es ist ein wenig zu spät in der Nacht zuvor geworden, als dass ich im Moment ein Ausbund an Fröhlichkeit wäre. Noch immer bin ich überwältigt von den Eindrücken und Erlebnissen der letzten Tage auf der Insel Malta.

IMG_2014-03-30_Marathon Deutsche Weinstraße 2014_500x333_009_IMG_0638

So komme ich mit quietschenden und qualmenden Reifen dennoch rechtzeitig in Grünstadt an, wo die Shuttle-Busse zum Glück auch schon bereit stehen.

„Kummen gut hääm!“

Ist es zehn, oder vielleicht doch erst neun Uhr? Die gestrige Reise und die unsensible Zeitumstellung stecken mir in den Knochen. Für Stimmung am Startplatz um das Haus der Deutschen Weinstraße sorgt ein Song der Höhner: „Wenn nicht jetzt wann dann? Wenn nicht hier, sag mir wo und wann. Wenn nicht du, wer sonst.“ Das haben sich die 2.931 Starter bei der Anmeldung wohl auch gedacht. Dichtgedrängt laufe ich durch das Haus der Deutschen Weinstraße, welches brückenartig die Weinstraße überspannt. Es geht auf der B 271 Richtung Süden. „Kummen gut hääm!“ steht auf einem über die Straße gespannten Plakat.

IMG_2014-03-30_Marathon Deutsche Weinstraße 2014_500x333_010_IMG_0642

Gemeinsam mit Renate und Bernd bin ich viel zu weit vorne gestartet. Ständig werden wir überholt. Es ist ein frühlingshafter Morgen, es ist Sonntag und ich bleibe gelassen. Die warmen Tage und das mediterrane Klima der Pfalz haben die Mandelbäume in den vergangene Wochen rosa gefärbt. Besonders hier auf dem Streckenabschnitt zwischen Bockenheim und Asselheim, der für seine Mandelbäume bekannt ist, ist dieser Anblick eine wahre Streicheleinheit für die Seele. Überhaupt blühen überall an der Weinstraße die Mandeln, die Kirschen und der Weißdorn.

„Zwische Grünstadt und Derkem do nemmscht der mol Zeit…“

So heißt es schon im Weinstraßenlied von Kurt Dehn. Der Marktplatz wurde herausgeputzt. In Grünstadt, einst die Residenz der ehemaligen Grafen von Leiningen, lockt auf dem Carrières-sur-Seine-Platz am Alten Rathaus in der Fußgängerzone die erste Verpflegung.

IMG_2014-03-30_Marathon Deutsche Weinstraße 2014_500x333_011_IMG_0676

Ich werde mit einem rosafarbenen Schwamm, der in einer mit Riesling gefüllten Wanne schwimmt, geködert. Den tropfenden Traubenschwamm in der Hand frage ich anfängerhaft, was ich damit anstellen soll? So kommt es, dass ich bereits am frühen Morgen, um kurz nach zehn Uhr, den ersten Riesling genieße, quasi im Selbstversuch, als Experiment. Es gab eine Zeit, da wäre es mir nicht im Traum eingefallen, am Tag vor dem Marathon Wein zu trinken und schon gar nicht während des Marathonlaufens. „Die Weisheit eines Menschen misst man nicht nach seinen Erfahrungen, sondern nach seiner Fähigkeit, Erfahrungen zu machen“, sagte George Bernard Shaw. Der sollte es wissen, schließlich ist der irische Schriftsteller ein Nobelpreisträger.

„Ja an de Woistroß muß mer ab und zu mol soi…“

Wo sonst traubenbehangene Weinberge sind, laufen farbige Läuferpunkte entlang der knorrigen, noch splitternackten Rebknorze, die zu tausenden schnurgerade in Reih‘ und Glied stehen. Zwischen den Reihen sprießt frisches, junges Gras. Die vielen Feldwege sind kurvenfrei und meist asphaltiert, Bäume und Hecken sind dagegen Mangelware. „Isch kumm aus dä Palz“, tönt ein kommunikationsfreudiger Läufer und gesellt sich zu mir. Seine Offenheit ist entwaffnend. Die Pfälzer Frohnatur fühlt sich sichtlich wohl. „Un wi ald bischd´n du?“, und deutet gleichzeitig auf ein Schild mit einer kleinbeerigen, schwarzen Traube auf gelben Grund.

IMG_2014-03-30_Marathon Deutsche Weinstraße 2014_500x333_012_IMG_0723

Auf Pfälzer-Hochdeutsch erklärt er mir, dass auf beinahe 85 Kilometern die so markierte Route verläuft. Von Bockenheim im Norden bis nach Schweigen, an dem einstigen deutsch-französischen Schlagbaum zum Elsass. Um das Jahr 1934 erlebten auch die Winzer eine schwere Zeit. Es gab zu viel Wein und zu wenig Abnehmer. Ein erheblicher Preisverfall war die Folge. Ein Plan musste her. Mit geringem materiellem Aufwand wurde die Idee der Deutschen Weinstraße ins Leben gerufen und diese bereits 1935 mit einem Festakt feierlich in Bad Dürkheim eröffnet. Der Plan ging auf: Bis heute werden die Touristen mit Trauben angeködert, was den Weinabsatz steigert und die Region belebt.

Weck, Worscht unn Woi

Bei Weck, Worscht unn Woi treffe ich auf zwei Kerle im figurbetonten, rosafarbenen Einteiler. Schnell wird mir klar, die kommen wie ich aus Hessen und sind erfahrene Weinstraßen Marathon-Läufer.

IMG_2014-03-30_Marathon Deutsche Weinstraße 2014_500x333_013_IMG_0767

Wein rinnt meine Kehle hinunter, quillt ins Gehirn und macht sich sofort in meinem Körper bemerkbar. Der Fremdschämeffekt für die zwei rosa Panthermännchen vergeht mit dem ersten Schluck.

Die ersten zehn lustigen und hügeligen Kilometer liegen hinter mir, als ich durch das kleine Dorf der Mühlen und Brunnen, Kleinkarlbach, laufe. Hier trennen sich die Wege der Marathon-/ und Halbmarathonläufer und ich freue mich über mehr Bewegungsfreiheit bei schwankendem Gang. Etwas weiter schützen die Ausläufer des Haardtgebirges die WeinBERGE. Um mich herum höre ich es keuchen und schnaufen, der erste große Anstieg nach Bobenheim am Berg. Für einige bereits eine Bewährungsprobe. Weit geht der Blick über das Pfälzer Land, ich sehe die rauchenden Schlote im zwanzig Kilometer entfernten Ludwigshafen. Wenn, wie Naturpsychologen herausgefunden haben wollen, allein der Anblick einer sanft geschwungenen, hügeligen Landschaft Glücksgefühle auslöst, kann auch der Veranstalter mehr als zufrieden sein. Am höchsten Punkt der Marathonstrecke strahlen die schwitzenden Läufer über das ganze Gesicht. Die Pfälzer Frohnatur klopft mir auf die Schulter. „Alla hopp, lass unsch do käh Wurzle schloche“. Wir begeben uns wieder auf die Strecke.

„Un in Wacherem kriegscht widder Dorscht…“

„Runter schmeckt’s bekanntlich besser als rauf“. Die zwei Panther eilen hastig an mir vorbei, wollen möglichst schnell die nächste Verpflegung erreichen. Mit Renate und Ludwig laufe ich ein Stück gemeinsam durch Weisrem (Weisenheim am Berg). Und tatsächlich, am nächsten Weinstand gable ich die beiden rosa Raubtiere wieder auf. Nicht nur hier sind alle fröhlich, haben ein Lächeln im Gesicht. „Das macht richtig Spaß“, sagt eine Läuferin berauscht neben mir. Obwohl Weine eine große Ruhe und Gelassenheit ausstrahlen sollen, wird es nun in unserer Verkostungsgruppe doch ganz schön hektisch.

IMG_2014-03-30_Marathon Deutsche Weinstraße 2014_500x333_014_IMG_0807

Zwischen Glas und Lewwerworschtbrot müssen Erinnerungsfotos gemacht und sofort auf Facebook gepostet werden. Wie von selbst laufen die Beine abwärts in den Edelweinort Leistadt mit dem barocken Rathaus. Am anderen Ende des Rathausplatzes sitzt unterdessen eine große Gruppe beim FC Leistadt und gönnt sich ein Weißwurst-Frühstück. Nach einem kurzen Anstieg rollt es weiter abwärts und es sind noch knapp drei Kilometer bis nach Bad Dürkheim.

„Doch is do grad Worschtmarkt do bleibt der kä Wahl…“

Von weitem sehe ich schon das größte Weinfass der Welt in Bad Dürkheim. 1,7 Millionen Liter soll es fassen, kann es aber nicht; das Fass ist vielmehr eine werbewirksame Idee, besonders für das Restaurant in seinem Inneren.

IMG_2014-03-30_Marathon Deutsche Weinstraße 2014_500x333_015_IMG_0837

Eine Reservierung sei zu empfehlen, rät mir die Pfälzer Frohnatur. Nicht ganz so groß, aber dafür zahlreich, lagern die Fässer bei dem Küfer Wilhelm Eder. Von Bad Dürkheim in die weite Welt werden diese Fässer von einem der größten Holzfassvertriebe Europas verkauft. „Uff de Worschdmarkt (Wurstmarkt) gehe jährlich 600.000 Leut“. Mit einem dialektischen Babbelfeuerwerk klärt mich die Pfälzer Frohnatur auf. Es ist das größte Weinfest der Welt, welches sich Wurstmarkt nennt, früher aber eher ein Fischmarkt gewesen sein soll.

Schon hat die Pfälzer Frohnatur die nächste Geschichte parat und ich staune nicht schlecht: „Eine Gondelbahn in Bad Dürkheim?“. Warum sollte ein Ort, der das größte Weinfass der Welt sein Eigen nennt, nicht auch über eine eigene Seilbahn verfügen? Zum Verständnis muss man wissen, dass der Kurort gerade einmal 130 Meter hoch liegt und die Höhendifferenz zum gegenüberliegenden Gipfel, dem Teufelstein, lediglich 165 Meter beträgt. Wäre es nach dem Betreiber der Seilbahn gegangen, baumelten die 43 Gondeln auch noch heute über die Rebstockreihen. Aber die Eigentümer der darunterliegenden Grundstücke wehrten sich. Eine Enteignung misslang. Heute, 33 Jahre später, erinnert nur noch eine abgefackelte Talstationsruine an die kurze Ära der Bad Dürkheimer Gondelbahn.
Trunken vor Glück, vielleicht aber auch einfach nicht mehr ganz nüchtern, bin ich froh, nach fünf Monaten endlich wieder einen Marathon zu laufen. Weder Verletzungen noch andere Gründe haben mich gehindert, es hat sich schlicht und einfach nur nicht ergeben. Schnell war das Frühjahr da, bald folgt Ostern und Pfingsten und schwupp die wupp ist das erste Halbjahr um. Ich tue mich immer schwer im Training und ganz besonders hasse ich einsame lange und langweilig Läufe. Es ist für mich einfacher, jede Woche einen Marathon zu laufen als 26 Wochen lang keinen. Beim Dürkheimer Laufclub regenerierte ich meine wintermüden, knirschenden Gelenke bei schönen Läufen, netter Gesellschaft und guten Gesprächen über die Rebenhügel des Leiningerlandes.

IMG_2014-03-30_Marathon Deutsche Weinstraße 2014_500x333_016_IMG_0898

Mitten auf dem Stadtplatz/Römerplatz, sozusagen im Mittelpunkt des Marathons, prosten mir die Panther von weitem zu. Auf der ganzen Strecke schwärmten sie schon von dem Lewwerworschtbrot von Rainer vom LC Bad Dürkheim, der mich überschwänglich begrüßt.

IMG_2014-03-30_Marathon Deutsche Weinstraße 2014_500x333_017_IMG_0902

Die rosaroten Panther wirken angeschlagen, der Wein ist leer. Unter der Live-Moderation durch Henning, ebenfalls vom LC Bad Dürkheim, laufe ich dann aber auch endlich weiter, denn noch zwanzig nicht zu unterschätzende Kilometer liegen noch vor mir.

Harmonie im Kurpark

Lustwandelnd führt der Weg nun durch Tempo-30-Zonen. Vor den Cafés herrscht großer Andrang. Hier werden die süßen Gelüste befriedigt, die Auslagen werden dem gerecht. Menschen in kurzen T-Shirts und noch kürzeren Hosen, die Sonnenbrille auf der Nase, die Jacke über den Arm gehängt, schlendern die Salinen rauf und runter. Die kurenden Herrschaften sprechen von ihren Anwendungen wie Läufer von Marathons. Urplötzlich werde ich langsamer und spüre nur noch den körperlichen Wunsch nach Entspannung. Das Kurhaus könnte dieses Wellness-Bedürfnis stillen. Aber in der Sonne ist kein Platz mehr frei. Auch dem Klischee „Tango nach dem Fango“ wird man in der Kurstadt gerecht. Es fließt die Isenach. Kühl und klar, wie gereinigt ist die Luft entlang der Saline und der Kureffekt wirkt nach.

IMG_2014-03-30_Marathon Deutsche Weinstraße 2014_500x333_018_IMG_0939

Das war nicht immer so. Kriegerische Auseinandersetzungen, Missernten und wechselnde Konfessionen hinterließen im 17. bis 19. Jahrhundert Verwüstungen, Plünderungen, Hungersnöte und Seuchen. Die pure Not vertrieb die Bewohner aus der Heimat. Von der Pfälzer Frohnatur erfahre ich, dass unter deutschen Auswanderern die Pfälzer die stärkste Gruppe bildeten. Auch bei dem gerade erst 18jährigen Heinrich Hilgard war es nicht nur die Sehnsucht nach der Ferne, welche ihn zum Auswandern bewegte. Im Oktober 1853 mit nur 20 Dollar Startkapital ging es aus der Pfalz über Hamburg nach New York. Einige Jahre später wurde aus Heinrich Hilgard, Henry Villgard einem der bedeutendsten Eisenbahn-Tycoone in den USA. Sein Großvater war langjähriger Verwalter der Bad Dürkheimer Gradierwerke und genau von hier aus verläuft die Marathonstrecke zurück nach Bockenheim.

Alla hopp!

Wer den Lauf beenden muss, kann ab jeder Verpflegungsstelle vom Deutschen Roten Kreuz nach Bockenheim zurückgebracht werden. Fast gebe ich auf, also ich meine das Weintrinken, und fange an, zu mischen. Der Weinkenner zuckt zusammen: Weinschorle – ein Gemisch aus Wein und Wasser, dennoch ein schaurig schönes Gesöff.

Es wird ruhiger auf der Strecke und in meinem Langzeitgedächtnis fängt es an zu arbeiten. Vor mehr als zwanzig Jahren wurde ich familiär zur (un)freiwilligen Arbeit im Weinberg verpflichtet. „Alla hopp! Gud des de do bischd. Isses des erschde mol, des de lääse tuuscht?“ Was, ihr versteht nichts – macht nichts, so erging es mir auch, bei meinem ersten Mal.

Es begann an einem kühlen Samstagmorgen im September. Ich war Anfang dreißig und erstmals zum „Herbschten“ (Traubenlese) in der Pfalz. Hier werden die Trauben noch mit der Hand gelesen. Auf dem Hof von Onkel Hans, irgendwie nannte ihn jeder Onkel Hans, wuselten viele Helfer umher. Neben Ackerbau und Milchwirtschaft gab es dort auch Weinbau. Meine komplette Familie war zu dieser Zeit im Einsatz, von meiner sechsjährigen Tochter bis zu meiner Schwester und unseren Eltern, ja selbst meine Arbeitskollegen, die heute übrigens eine eigene Weinhandlung betreiben, halfen mit. Wir alle waren an diesem Tag als die sogenannten „Leser“ eingeteilt.

Ein Trecker mit einem Planwagenanhänger stand zur Abfahrt in die Wingert (Weinberge) bereit. Im Wagen duftete es nach Lewwerworscht und Bauernbrot. Hinten auf der schaukelnden Roll wurde die Fahrt durch die Wingert über die rumpeligen, schnurgeraden Betonplattenwege zum Erlebnis. Mir war es ein Rätsel, wie Onkel Hans genau wusste, an welcher Reihe er stoppen musste – in Deutschlands zweitgrößtem Weinanbaugebiet. Auf einer Fläche von etwa 23.500 Hektar wird in der Pfalz Wein kultiviert. Den größten Anteil hat dabei die helle Weintraube, also der Riesling, bzw. der Weiß- und Grauburgunder. Für mich sah daher jede Reihe gleich aus, wenn es nicht gerade ein Dornfelder Weinstock war.

Am hauseigenen Wingert angekommen sagte Onkel Hans: „Alla hopp! Do häscht erschd mol dei eichen Schäär uunen Ehmer füa dei Trauwe.“ Wie gesagt, es gibt beim „Herbschten“ die Leser und die Träger. Die Träger holen sich die prall gefüllten Eimer bei den Weinlesern und leeren diese auf den Anhänger. Ich wollte besonders fleißig sein und schnitt und schnitt. Die Gudde ins Gröbche, die schlechten ins… KREISCH! Eckel überkommt mich. Zwei Augen schauen mich aus einem behaarten Körper an. „Alla kumm, schmees die kla Spinn do mit na“ tönt es schon von hinten… Was schlicht schimmlig oder edelschimmlig, was zu grün und damit noch zu sauer ist, werde ich wohl nicht mehr enträtseln. Wie das endete? – Dieser Jahrgang wurde nicht zum Spitzenjahrgang gewählt und zur Leserin bin ich gänzlich ungeeignet. Aber fürs Öffnen der Flaschen und zum Trinken des Weines reicht es allemal.

Übrigens rasiert bei Onkel Hans mittlerweile ein Monster von Traubenvollernter die Reben und das Lesen von Hand ist vielerorts nur noch als Event buchbar. „S`isch Äns!“, (Es ist ein Uhr) ruft die Pfälzer Frohnatur und ich bin mental wieder zurück auf der Strecke.

„In Ungstä und Derkem do trittscht uff´s Pedal…“

Unberührtes Land ist das hier schon lange nicht mehr. Die ersten Winzer in Ungstein sollen vor rund 2000 Jahren die Römer gewesen sein, die ihren Wein noch mit Füßen traten. Davon zeugt eine gut erhaltene römische Villa mit Herrenhaus, Bad und Nebengebäuden, die sich auf der linken Seite der Laufstrecke befindet. Die Weinlagen hier tragen klingende Namen wie: „Honigsack“, „Kirchenstück“ und „Himmelsreich“.

„Do kann mer drinke was mer will do schmeckt de Woi…“

Es gibt doch noch Gerechtigkeit in dieser Läuferwelt. Häufig werden marathonfreudige Genießer an den Verpflegungsstellen mit Wasser und Obst abgespeist. Noch nach Stunden des kräftezehrenden Laufens werden Bananen und Äpfel aufgetischt. Ein Gel, ein paar Nüsse oder Orangen sind gewöhnlich schon der kulinarische Höhepunkt. Der Läufer nimmt es resigniert hin, schließlich ist er durstig und hungrig. Doch hier ist alles anders. Es wird geschlemmt und Wein verkostet. Viel Wein. Die Pfälzer lieben ihn. Die Pink Panther lieben ihn. Ich liebe ihn auch. Aber, nein danke, keinen weiteren Becher Riesling mehr. Noch liegt ein weiter Weg vor mir. Schwindelgefühl – der Wein betäubt meine Schmerzen, bringt den Asphalt zum Wanken. Ich stolpere auf der Suche nach weiteren Fotomotiven, quasi Fallobst. Immerhin ist die Richtung klar, um ins Ziel zu gelangen.

Beim Start sah alles noch ganz einfach aus. Nirgendwo sonst wird der Wein in Form von getränkten Weinschwämmen degustiert. Alkohol macht gesprächig. In der Hand noch immer den hochprozentigen Schwamm und meine Pfälzer Frohnatur stammelt fröhlich alkohol-geschwängerte Sätze, erzählt mir irgendetwas von einem reichen Onkel aus Amerika.

„In Kallstadt do schmeckt a de Saumage foi…“

Schaulustige säumen die schmale Hauptstraße des Edelweinortes Kallstadt. Auf die 1.200-Einwohner-Gemeinde kommen unglaubliche 30 Weinbaubetriebe – darunter bestehen einige bereits in der 5. Generation. Rechts und links ich sehe altes Fachwerk, erbaut zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert.

IMG_2014-03-30_Marathon Deutsche Weinstraße 2014_500x333_019_IMG_1005

Auch die Weingüter der Familien Heinz und Trump müssten irgendwo hier zu finden sein. „Heinz“ und „Trump“ sind keine seltenen Namen hier in Kallstadt. 1840 war der damals 31-jährige Johann Heinrich Heinz nur einer von Millionen Auswanderern, die im 19. Jahrhundert ihr Glück im entfernten Amerika suchten. Und gerade einmal 45 Jahre später startete auch der damals erst 16 Jahre alte Friseur (Friedrich Drumpf) Fred Trump sein Abenteuer. Er ist der Großvater Donald Trumps. Jawohl, dem Multimilliardär Donald Trump mit den glitzernden Wolkenkratzern in New-York.

Heinz und Trump wollten mehr als die kleine Pfälzer Landidylle und begaben sich auf eine gefährliche und lange Schifffahrt, ohne zu wissen, ob sie jemals ihr Zuhause wiedersehen würden. Erst sein Sohn, der Ketschup Milliardär Henry John Heinz, besuchte 1898 erstmals den Geburtsort seines Vaters. Der Ketchup-Magnat war in der ganzen Welt zuhause, aber Urlaub machte er immer in der Pfalz. Für die Kinder war er der klassische reiche Onkel aus Amerika. Ab dem ersten Weltkrieg gab es keine Urlaube mehr. Erst der Ur- Ur-, Enkel, Andre Heinz nahm 2002 den Kontakt zur deutschen Familie wieder auf. Die Familien Heinz und Trump sind dank Katharina Heinz, geb. Trump (1897–1987) auch miteinander verwandt. Mich faszinieren diese uramerikanischen Biografien, besonders solche mit einem Happy End! Mein Blick fällt auf die Dorfkirche in der 1902 die Großeltern Donald Trumps heirateten.

Saumagen zum Essen und zum Trinken

„Arebligg“ ruft die Pfälzer Frohnatur und macht mich auf die nun folgende, kulinarische Krönung unserer Exkursion aufmerksam: Auf der Speisekarte der „Saumagenstube“ stehen Weine und regionale Gerichte. So auch der rund und prall gefüllte Magen, in dem hellgelbe Brocken schwimmen. Appetitlich sieht das für mich jedenfalls nicht aus. Dabei, so erklärt mir die Pfälzer Frohnatur, seien die eingeweichten Brocken im Pfälzer Saumagen doch nur gute Kartoffeln, Schweine- und Hackfleisch – also nichts Unappetitliches. Mit Saumagenwein gibt es ihn an der Verpflegung zum Kosten. Saumagen wird in Kallstadt auch ein Weinbaugebietes bezeichnet; auf ihm wächst vor allem Riesling. Man vermutet, dass er den Namen aufgrund der sackförmigen Parzellen erhielt.

IMG_2014-03-30_Marathon Deutsche Weinstraße 2014_500x333_020_IMG_1010

Sackförmig war Anfang des 19. Jahrhunderts auch die Kopfbedeckung der Pfälzer Winzerinnen. Und so nannte man jene Hüte ebenfalls Saumagen, wie auch sonst? Vor lauter Saumägen, bin ich dankbar, weiter laufen zu können und nicht probieren zu müssen.

Wer hat an der Uhr gedreht? Ist es wirklich schon so spät? Soll das heißen, ja ihr Leut, mit den Panthern ist Schluss für heut? Die rosaroten Panther hatten schon vor längerem ihren Abgang. Es herrschen ungewöhnlich warme 22 Grad und bereits dreißig Kilometer sind gelaufen. Ich frage mich, wie die rosa Riesling-Schlotzer wohl über den nächsten großen Anstieg nach Herxheim am Berg kommen wollen. Heiliger Schutzpatron der Winzer, steh‘ ihnen bei.

„In Herxem do kannscht uff´m Himmelreich soi“

IMG_2014-03-30_Marathon Deutsche Weinstraße 2014_500x333_025_IMG_1022

Gegen Schweißdrüseninkontinenz hilft nur eine Rieslingnebel-Dusche. Und die bekommen die Läufer in Herxheim am Berg. Begeistert laufe gleich zweimal hindurch. Mit dieser „Geruchsvisitenkarte“ laufe ich an einer der vielen Straußenwirtschaften vorbei, die es bereits seit dem Jahr 791 per Erlass Karls des Großen geben soll. Nicht nur ich spüre den Alkohol, aber ich reiße mich zusammen. Die Strecke führt weiter über die einzige und für heute gesperrte Hauptverkehrsstraße mitten durch den Ort, vorbei an Wohnhäusern, Höfen und Weingütern. Auf einer Anhöhe sitzt ein Helfer und beobachtet die zu ihm aufsteigenden, letzten Reste der ursprünglichen Läufermassen.

IMG_2014-03-30_Marathon Deutsche Weinstraße 2014_500x333_021_IMG_1045

Wie zum Trost wird auf dieser Kuppe der letzte Rieslingschwamm gereicht. Ich wringe den vollgesaugten, bereits warmen Schwamm mit dem Renommiertropfen deutscher Winzer über mir aus. Gutgelaunt und beschwingt laufe ich weiter.

Golfgarten

Hier zwischen Reben und Obstbäumen messen sich nicht nur die Läufer in Jahrgängen. Wer wollte, der könnte heute auch z. B. Schnuppergolfen beim Golf Club Deutsche Weinstraße e.V. Unglaublich: Der 400-Seelenort Dackenheim gehört zwar zu den kleinsten Orten des Landkreises Bad Dürkheim, verfügt aber tatsächlich über einen eigenen Golfplatz, auf dem die Löcher nach den sie umgebenden Rebsorten und den entsprechenden Obstsorten benannt sind.

IMG_2014-03-30_Marathon Deutsche Weinstraße 2014_500x333_022_IMG_1096

Neun Kilometer liegen noch vor mir. Ich laufe und der Verkehr steht. Ich folge dem Weinstraßen-Signet weiter und laufe entlang der gesperrten Hauptstraße, auf der sich an jedem Tag über zehntausende Autos durch den malerischen Ort Kirchheim quälen, weiter Richtung Grünstadt. Kaum ein anderes Weindorf der Region, klärt die Pfälzer Frohnatur mich auf, besäße eine solche Fülle barocker Winzerhöfe.

IMG_2014-03-30_Marathon Deutsche Weinstraße 2014_500x333_023_IMG_1098

Insgesamt 30 Bauten und Gebäudeteile gelten als schutzwürdig. Ich frage mich, ob dies vielleicht der Grund ist, warum wir nicht durch den Ort laufen? Wieder in Grünstadt angelangt, koste ich den Grünstädter Wein, von dem sich auch schon der Philosoph Immanuel Kant inspirieren ließ. Das 1729 gegründete Leininger-Gymnasium, an dem ich jetzt vorbeilaufe, gilt als eines der ältesten Schulen Deutschlands.

Ein starker Abgang

Müde kämpfe ich noch immer mit Pfälzer Weinbergschnecken. Andere sitzen bereits im schönen Pfalzhotel, vielleicht sogar bei Pfalzschneckennudeln und Pfalzschnecken-Secco. Erleichtert atme ich auf, denn ich erkenne das Haus der Deutschen Weinstraße, von dem aus ich heute Morgen gestartet bin.

IMG_2014-03-30_Marathon Deutsche Weinstraße 2014_500x333_024_IMG_1123

Nur noch wenige Meter und die Pfälzer Frohnatur und ich erreichen das Ziel. Die beiden rosa Panther habe ich leider nicht mehr getroffen, denke aber, dass sie noch gut über die Runde gekommen sind. Ich jedenfalls freue mich über meine neue Medaille in Traubenform. Und so sonnig wie heute das Wetter war, so strahlt auch das Finisher-Shirt mit der Aufschrift: „Ich war an der Deutschen Weinstraße dabei!“

Zurück in der Heimat macht sich Ernüchterung breit. „Der Kopf tut weh, die Füße stinken, höchste Zeit noch einen Wein zu trinken“. Zum Wohl die Pfalz!
Resümee: Ein Marathon-Straßenfest, das bei traumhaften Frühlingswetter alle begeisterte.

Info:Gesamtzeit/Höhenmeter/Streckenprofil: Zielschluss nach 5:30 Stunden/495 Höhenmeter auf überwiegend asphaltierten Straßen

Anreise: Sehr gut organisierter Shuttle-Bus mit ausreichend Parkmöglichkeiten vorhanden

Veranstalter und Ausrichter: Kreis Bad Dürkheim, TSG Grünstadt, TSV Bockenheim
Temperatur am Veranstaltungstag: 22°C

Verpflegung: Kleine Marathonmesse mit Nudelparty am Vortag. Elf Verpflegungsstellen

Kosten: Die Nachmeldegebühr beträgt 49 Euro für den Marathon.

Siegerehrung: Ehrung für die Gesamtsieger Frauen/Männer (Plätze 1 – 5), der/die schnellste Pfälzer Läufer(in). Die flotteste Mannschaft bei den Frauen/Männer (Plätze 1 – 3). Keine Altersklassensiegerehrung, jedoch erhalten diese (Plätze 1 – 3) ein Weinpräsent.

Marathonsieger:

Männer
1 Kinde, Yonas (ETH) CA Belvaux 02:23:47 (neuer Streckenrekord)
2 Chepkwony, Richard (KEN) 02:25:01
3 Sturm, Marco (GER) SWC Regensburg 02:29:08

Frauen
1 Kiprono, Prisca (KEN) 02:50:24
2 Staeves, Anne (GER) LG Trampeltier 03:30:34
3 Groch, Andrea (GER) TSG Kaiserslautern 03:31:54

818 Finisher

Angemerkt: Laufinteressierte können ihren Voyeurismus live von der Strecke im Internet verfolgen. Eine ganze Menge virtuelle Augen in Form von Webcams stehen an verschiedenen Streckenabschnitten und senden alle paar Sekunden Bilder ins Netz.

Vorgemerkt: Jetzt schon vormerken den Jubiläumslauf 10. MARATHON DEUTSCHE WEINSTRASSE am 10. April 2016!