Zermatt Ultra-Marathon 2014
Über den Dächern von Zermatt
Die Berge fordern jedes Jahr ihre Opfer. Auch mich hat es erwischt – ich bin besonders einem verfallen. Nur wegen ihm bin ich hier.
Schon die Anreise in die Alpenrepublik und das auf 1.600 Meter ü. M. liegende Zermatt beginnt mit der Erkenntnis, dass man sich von alten Gewohnheiten verabschieden darf. Ohne Vignette läuft nix, die Toiletten sind aber überall kostenfrei. Kandersteg, im Berner Oberland, gleicht einer Sackgasse und liegt im Talgrund, umrahmt von steilen teils noch schneebedeckten Felsflanken.
Seit 1913 gibt es in Kandersteg den Lötschbergtunnel. Er gilt als einer der wichtigsten Schienenverbindungen der Alpen. Für 27,00 CHF werden wir samt Fahrzeug gerüttelt und geschüttelt. Die Bahnfahrt ist nostalgisch und erspart den Autofahrern 160 Kilometer Landstraße bzw. 2,5 Stunden Zeit. Die rumplige und quietschende Fahrt ins Licht dauert nur zehn Minuten. Länger braucht der Zug nicht, um die Kohlensäure aus der Cola zu schütteln und uns tiefer in die Bergwelt zu transportieren.
„Willkommen im Wallis“
Fünfzig Kilometer und einige Tunnel später ist in dem Ort Täsch aber endgültig Schluss mit Autofahren – weiter geht’s nun wirklich nicht. Von hier aus heißt es Gepäck schultern und umsteigen in den Zug. Keine zwölf Minuten später stehen meine Tochter Natascha, ihr Freund Christian und ich am Freitagnachmittag mitten im Gewusel von Zermatt. Das Bergsteiger- und Skifahrerdorf ist rot- weiß beflaggt.
„Vorsicht!“, wieder surrt eines der Elektrotaxis mit der Aufschrift „Tag und Nacht“ daher, deren Fahrer sich scheinbar einen Spaß daraus machen, zackig und mit engen Kurven um die Touristen zu fahren. Die schmalen Straßen in dem Matterhorndorf sind zwar auto-, damit aber nicht verkehrsfrei. Elektrotaxis, Hotelshuttlecars und einige wenige Pferdekutschen befördern die Gäste von A nach B. Ein Zermatt-Marathon-Plakat ist groß über die Hauptstraße gespannt.
Gleich neben dem Bahnhof befindet sich ein großes weißes Festzelt, an seiner Außenseite ein weiteres Plakat. Durchweg lese ich den gleichen Spruch: „…am schönsten Berg der Welt“. Das ist nicht als Versprechen gemeint, sondern als Herausforderung: Eine Werbung für den Zermatt Marathon. Irgendwo hier zwischen den unzähligen Souvenirläden, der bekannten Hamburgerkette im Alpenstyle und Juweliergeschäften mit Armbanduhren weit über fünfzigtausend Euro das Stück finden wir kurz darauf in einer Seitenstraße unser Hotel. Das Rot der Geranien ist auch hier die bestimmende Farbe, wie an den vielen Balkonen der Holzhäuser. Fast könnte man glauben, sie seien in bergesnähe Pflicht; viele Gebäude stehen unter Denkmalschutz.
Noch ein Schokoladenpudding mit Sahnehaube und ab ins Bett. Ich lese noch, dass sich in Europa über sechsundsiebzig Viertausender erheben- die Hälfte davon rund um Zermatt. Schon 1902 ist Bergsteigen zur Modesache geworden, noch heute kommen jährlich etwa 4.000 Bergsteiger und noch mehr Skiläufer. Das einstige Bergbauerndorf zählt zu einem der exklusivsten Skiorte der Welt. Wer den Ultra-Marathon in Zermatt bucht und den weiten Weg auf sich nimmt, der will aber das Matterhorn mit eigenen Augen sehen und erleben, denke ich. Auch ich bin hier – nur wegen ihm, dieser überspitzten Pyramide, die genauso aussieht, wie ein perfekter Berg aussehen muss: Ein dreieckiger Zacken, der spitz in den Sonnenauf- oder Untergang ragt und ganz zart an seiner Spitze leuchtet. Er ist mit 4478 Metern Höhe nur der siebthöchste Gipfel der Alpen, aber freilich einer der berühmtesten Berge.
Schnell schlafe ich ein. Mein Herz klopft heftig, von der Höhe oder vor Aufregung? Ich träume von einem Foto mit mir vor dem Toblerone-Matterhorn, ein Klecks frisch geschlagener Sahne auf seinem Haupt. Traumbilder, die nicht aus dem Kopf wollen – doch Träume sind unzuverlässige Führer. Das zeigt sich an diesem Morgen. Als ich nach dem Frühstück zum Bahnhof laufe, sind die Berge und auch das Matterhorn noch im Nebel.
Deutsch-österreichische Liaison
Natascha und Christian haben noch Zeit, denn der Halbmarathon mit Start in Zermatt beginnt erst um 10:25 Uhr. Der Zug zum Start für die Marathon und Ultramarathonläufer fährt bereits um 7:10 Uhr. Das ist wohl die begehrteste Uhrzeit für die meisten Läufer, denn es ist eng im Gang vor den vollbesetzten Abteilen. „Nicht mehr weit. Eins-, zwei Stationen vielleicht noch“, sagt Klaus, der mit mir zum Start fährt für Spitzenfotografie.
Kurz darauf hält der Zug in Täsch. Weitere Mitreisende steigen ein, drücken sich zu uns. Herzhaft lachen wir über den Zufall. Es sind Angelika, Eberhard und Jutta. Der Zug fährt an, wir merken es nicht. Sind schon vollkommen in Geschichten und Erlebnisse vertieft. „2003 habe ich beim Zermatt Marathon Eberhard kennengelernt, wir sind zusammen gelaufen, er war mein erster Autor“, erzählt Klaus. „Ob ich das Matterhorn heute überhaupt zu sehen bekomme?“, klage ich. Diesen Sommer wollen Angelika und ich gemeinsam mit einem befreundeten Bergführer unseren ersten Viertausender besteigen. „Dazu haben wir uns das 4.164 Meter hohe Breithorn ausgesucht, welcher als nicht zu schwer gilt“, freut sich Eberhard.
„Ich war schon auf dem Matterhorn!“, plaudert Jutta und schmunzelt dabei. Was? Der Berg, von dem die „NZZ am Sonntag“ schrieb: „Das Matterhorn ist der Berg, den Bergsteiger belächeln und von dem die anderen reihenweise runterfallen“. Der Berg, der mehr Opfer gefordert haben soll, als jeder andere Berg der Welt? Das Matterhorn ist nicht nur schön, es gilt als einer der schwierigsten zu besteigenden Berge der Alpen. Er wurde erst vor 149 Jahren, übrigens als letzter aller Viertausender der Alpen, bestiegen und auch die Erstbesteigung endete mit einer Tragödie. Jutta strahlt und erzählt weiter. „Wir mussten biwakieren, keiner durfte einschlafen, es war so kalt.“ Ihr Begleiter war ein junger Bergsteiger aus Österreich, kannte sich aus in den Bergen. Ein Jahr später heiratete Jutta diesen Bergführer. Jutta, geboren 1938 (!) läuft besonders gerne anspruchsvolle Marathons und Ultras, bevorzugt in den Bergen, demnächst am Eiger – ihr Mann Josef begleitet sie überall hin. Plötzlich wird die Zugtüre geöffnet.
Kilometer 0 bis 21,1 Kilometer (ca. 600 Höhenmeter)
St. Niklaus liegt im tiefsten Tal der Schweiz. Die Bewohner wollten immer schon weiter hoch hinaus. So gehört der Ort zur Geburtsstätte des Alpinismus und verfügt über eine lange Tradition von sogenannten Berggängern. Heute wimmelt der blumengeschmückte Ort nur so von Sportlern. „Hey Urs, gehst du heute Skifahren, gestern ist Neuschnee gefallen!“, scherzt Anni. Zumindest steht Anni auf ihrer Startnummer. Urs hat etwas anderes vor. Etwa 1.400 glückliche Sportler aus 43 Nationen warten auf den Startschuss. Der Andrang für eine Startnummer zum Ultra-Marathon war groß, bereits im März waren die 600 Startnummern restlos ausverkauft. Auch für den neu hinzugefügten Halbmarathon waren die Startnummern innerhalb kürzester Zeit ausverkauft.
Die Sportler stehen hier, warten aber weder auf die Gornergratbahn noch auf die nächstbeste Gondel. Nach Skilaufen sieht im Moment nun wirklich keiner aus, auch wenn der ein- oder andere für die heutige Temperatur vielleicht doch ein wenig zu warm angezogen ist. Einige stellen die bemalte athletische Muskulatur zur Schau, andere lassen einen Bauch erkennen. Finisher-Shirts werden gemustert, anerkennende wie kritische Blicke getauscht. Die Individualität lässt sich besonders an der Farbe der Startnummer ablesen. Blau ist die Farbe der Marathonläufer, rot die der Ultra-Marathonläufer. Staffelläufer tragen die Farbe grün auf der Nummer.
Offenkundig gilt: Ganz vorne stehen die Profi- und Modelathleten. Sie starten fünf Minuten vor dem Hauptfeld. Patrick Wieser, der amtierende Schweizer Meister (2:18 Stunden beim Zürich Marathon) und zweimaliger Gewinner des Zermatt Marathon ist zur Enttäuschung vieler leider nicht am Start. Rippenprellungen zwingen ihn zur Absage. Je weiter die Zeit vorrückt, umso mehr überträgt sich die Nervosität auf jeden Einzelnen. Ich treffe auf den 80-jährigen Roland. Ich erkläre ihm, wie beeindruckt ich von seiner Leistung vor drei Wochen in Liechtenstein war, als er mich bei Kilometer dreißig im Anstieg locker überholte. Uns alle hier verbindet die Liebe zu den Bergen und das Ausloten der eigenen Grenzen. Die Berge unterscheiden nicht zwischen Profis und Amateuren, nicht zwischen Jung und Alt.
Gipfelstürmer
Schweizer wünschen es präzise. Es ist 8:35 Uhr und knapp 18 Grad, die Elite-Läufer sprinten los. Gefühlte zehn Minuten später beginnt endlich auch für die Läufer im letzten Startblock der Wettlauf auf den Gipfel des Gornergrades. Die Regeln des Rennens sind einfach. Es gibt nur eine Richtung: nach oben! Das bekomme ich auf gleich zu spüren.
Kurz nach dem die engen Gassen von St. Niklaus mit ihren teils über 200 Jahre alten Speichern, die auf Stelzen und runde Steinplatten stehen, steigt die Strecke auch schon an. Von den Spitzenläufern ist weit und breit schon lange nichts mehr zu sehen. Aber ich erkenne einen „Fitnessparcours“, bei uns eher als Trimm-dich-Pfad bekannt. Wer hat´s erfunden? Ein Schweizer. Mitte der 60er Jahre war es Trend, durch Klimmzüge oder Sit-ups an den Stationen aus Metall und Holz zu trainieren. Bald darauf waren über 4500 Trimmpfade in den USA der Renner. Mir ist heute keiner mehr bekannt. Dabei wäre schon so ein einfacher Pfad ein gutes Mittel gegen die die Sinne betäubende Monotonie von Laufbändern und Steppern in stickigen Fitnesstempeln.
Die Straße ist nass, der Nebel klammert sich noch fest an die Baumspitzen. Das erste Highlight: Neben mir fährt der Zug mit Panoramafenstern und dem rotweißroten Anstrich in den Nationalfarben. Glückliche haben sich einen Sitzplatz, natürlich auf der richtigen Seite, ergattert. Andere stehen dichtgedrängt dahinter. Sie winken und fotografieren. Besonders für Touristen aus Übersee gehört eine Fahrt mit dem Glacier-Express zum festen Bestandteil einer Europa-Reise. Die lange flache Gerade ist wie geschaffen für die nächsten Gewöhnungskilometer.
Die vielen Läufer um mich herum erlauben ein gemächliches Dahinjoggen. Es herrscht eine entspannte Atmosphäre, Zeit für neue Perspektiven und Muße für die Landschaft. Felsbrocken, groß wie ein VW-Käfer liegen am Wegesrand. Ländlich entspannt blickt das Weidevieh zu diesem Biotop von Menschen. Ich kann meinen Blick nicht abwenden vom Laufschritt eines großgewachsenen Läufers vor mir. Bei jedem Schritt schiebt er, den Unterarm angewinkelt, energisch von vorn nach hinten – es gleicht einem Hobeln an einer Hobelbank. Ich denke mir, bis er im Ziel ist, hat er sicherlich sein Gesellenstück bearbeitet.
Die Sonne kommt endlich aus den Wolken, sofort ist es schwül, aber es sieht nun vielversprechend aus. Nach einigen Kilometern spüre ich die ersten Gewöhnungseffekte und ich finde mich damit ab, dass hier schon kein Laufschritt mehr möglich ist. Ganz anders sehen das die Bergbewohner, wie zum Beispiel Armand Biner, Mitarbeiter bei der Zermatter Bergbahn. Er empfindet die Strecke von St. Niklaus bis Zermatt mit immerhin fast fünfhundert Höhenmetern als „verhältnismäßig flach“ und so sagt er weiter: „Ab Zermatt geht’s vor allem fast nur noch bergauf“. Na dann genieße ich zur Ablenkung das alpenländische Kolorit mit den sattgrünen Almen, den rundherum hohen Bergen, den rauschenden Flüssen und den rotweißen Zügen.
Spitzenaussicht
Die schneebedeckten Gipfelspitzen zieht bereits aus der Ferne meinen Blick auf sich und betont den vor mir liegenden Höhenunterschied. Einige Läufer vor mir mussten eben noch an dem Bahnübergang warten. Jetzt ist der Zug durch. „Wie heißt dieser Berg?“, frage ich einen hier Beheimateten an der Bahnschranke. „Welcher?“, seine trockene Antwort. Jetzt bemerke ich, wie skurril meine Frage war. Um uns herum sind nur Berge. Na, ich meine genau diesen vor uns, der schneebedeckte Breite dort. Breithorn! Breithorn? Ja, Breithorn. Das Breithorn ist der höchste vollständig in der Schweiz liegende Berg und wurde auch als erster bestiegen – allerdings noch nicht von Angelika und Eberhard.
Der auf 1.439 Meter ü. M. und dennoch in der Talebene gelegene kleine Ort Randa ist erreicht. Noch sind es etwa zehn Kilometer bis nach Zermatt. Am Ortsausgang, wo früher Kühe oder Schafe grasten, gönnen sich die etwa 430 Einwohner einen 9-Loch-Golfplatz. Die Sonne spiegelt sich im Metall der Golfschläger von der anderen Straßenseite bis herüber zu mir – ich möchte nicht tauschen. Kurz darauf, oder besser bei Kilometer 15, ist das „Dorf vor den Toren Zermatts“ erreicht. Die Strecke führt mitten durch den Ortskern und die Stimmung ist südländisch temperamentvoll.
Nicht nur das religiöse Leben in Täsch ist sehr rege. Die Kirchgemeinde lebt von den Einheimischen, aber auch von den Einwanderern aus Portugal. Hier werden die heiligen Messen in deutscher und portugiesischer Sprache gehalten. Heute spielen vor der Kirche die Guggamusiker: „Mit 66 Jahren da fängt das Leben an…“ – Irgendwie grotesk, so direkt neben dem Friedhof.
Auf der Strecke herrscht eine fast unheimliche Stille, weit unter mir fährt die auf „H0“ geschrumpfte rotweiße Zahnradbahn. Über die Holzplanken des Hohsteg überqueren wir den Fluss “Matter Vispa“ und schlängeln uns auf schmalen Pfaden hinauf bis zum Ortsanfang von Zermatt. Die fliegende rotweiße Intensivstation der Air Zermatt steht für Notfälle bereit – nicht nur zur Bergrettung.
„Runners welcome“
Piep, piep. Ich laufe über die Zeitmessmatte bei Kilometer einundzwanzig. Strahlender Sonnenschein begleitet mich bei meinem Stadtdurchlauf. 14 Grad und Mittagszeit, sagt mir die Digitalanzeige am Geschäft eines Juweliers. Zum Einsamkeit genießen ist heute der falsche Zeitpunkt. Die Sommer- oder Tagestouristen stehen indes ein wenig ratlos herum und fragen sich, wo sie hier hineingeraten sind.
Die meisten entsprechen dem Standardbild des modernen durchtrainierten Sportlers – tragen aber weder Snowboard noch Carving-Ski an den Füßen. Die fünfhundert Läufer des Halbmarathons sind ebenfalls schon unterwegs. Unter ihnen auch zwei Bergläufernovizen aus Berlin – Natascha und Christian. Kaum wurde der Halbmarathon zur Anmeldung freigeschaltet, haben die beiden sich dafür angemeldet. Zum Glück, denn der Halbmarathon war blitzschnell ausgebucht.
„Seid ihr verrückt?“, empörte sich meine kluge Tante, als sie vor einem halben Jahr von der Läufer-Idee der beiden erfuhr und riet dringend davon ab. Sie meinte, ein Berglauf sei für Berliner Flacheier ungeeignet, davon wollen sich die beiden aber lieber selbst überzeugen.
Ich laufe indes mitten durch das quirlige Treiben auf Zermatts Hauptdurchgangsstraße. Vorbei an unüberschaubarem Matterhornkitsch, Walliser Wurstdelikatessen und gebackenen Matterhörnlis, unzähligen Ski Service- und Bike Rental Geschäften, denn auch in diesem Punkt wird Zermatt den Standards eines Alpensportorts gerecht. Alle Sprachen der Welt feuern mich an, andere fotografieren. Dazwischen Ski- und Snowboardfahrer auf dem Weg zum Sommer-Skigebiet „Matterhorn Glacier Paradise“.
„No Sports“
Tradition und Moderne liegen nebeneinander. „Sun Valley“, „Everest“ und „Yukon“ heißen die Häuser und Chalets. „Zermatter Grand Hotel“ steht in Goldbuchstaben auf dem 1879 eröffneten Hotel. Ihm gegenüber das älteste Hotel Zermatts, das „Monte Rosa“, mit seinen roten Fensterläden. Hier logierte schon 1881 Theodore Roosevelt, zukünftiger Präsident der USA, Walt Disney oder auch 1894 Winston Churchill der übrigens im gleichen Jahr die Dufourspitze mit einem Bergführer bestieg. Weiter führt die Strecke am modernen Matterhornmuseum mit alter Geschichte und dem 1900 erbauten Gemeindehaus vorbei. In der Seitenstraße am Kirchplatz befindet sich der Bergsteigerfriedhof. „Am Matterhorn geblieben“ steht auf einem Stein. Die Kosten für einen Bergführer zur Begleitung auf das Matterhorn betrug 1894 laut einer Verordnung einhundert Schweizer Franken, ein zusätzlicher Träger kostete siebzig. Viele Bergführer wurden Opfer ihres Berufes.
Auf den Postkartenständern der Stadt sehe ich IHN zum ersten Mal. Nun laufe ich direkt auf ihn zu. Edelmütig zeigt er sich, umhüllt von Wolken, gibt nur wenig von sich preis. Ich bin sofort dem Zauber des Matterhorns erlegen, der Kostbarkeit für den Augenblick. Gibt es denn so etwas? Genau jetzt führt die Streckenführung in die entgegengesetzte Richtung. Das Bedürfnis, mich umzudrehen wird ständig größer. Mühelos gondeln die Touristen im Matterhorn Express über meinen Kopf hinweg hinauf auf 2.900 Meter zum „Trockener Steg“. Nun folgt ein Höhentraining im Schnelldurchlauf.
Langatmig laufe ich über den Dächern von Zermatt. In Gedanken laufe ich nicht aufwärts, sondern fahre mit Skiern, mal in kurzen, mal in weiten Schwüngen den Hang hinunter. Es funktioniert, mein Schritt wird für einen kurzen Moment einfacher und dynamischer. Die Strecke des Zermatt Marathons folgt dem Weg der Gourmets. Eine Stunde und zwanzig Minuten nach Tufteren, zeigt das gelbe Schild den Wanderern.
Ich bin auf 1.800 Meter Höhe. Nicht nur die Serpentinen nehmen mir heute den Atem. Bei Kilometer dreißig und 2.200 Metern ü. M. schnaufen viele noch mal durch. Mehr als eintausend Höhenmeter liegen noch vor uns. Mountainbiker stürzen sich in Rüstungen über die Skipisten und einstigen Rinderalmen Zermatts in die Tiefe. Wenig hat hier noch mit dem Reich von Heidi und dem Geißen-Peter zu tun, nur dass ich mich fühle wie der Alm-Öhi kurz vor dem Ruhestand.
Roland zieht wieder einmal an mir vorbei. Mit seinen achtzig Jahren ist er sehnig und durchtrainiert, lässt sich von ein paar Hügeln doch nicht aufhalten, fegt in großen Schritten über die Strecke und setzt zu Höhenflügen an. Kurz starte ich ein Verfolgungsrennen, das ich nicht gewinnen kann. Ich stolpere hinter ihm her. Als Bergläufer mit einer Startnummer um den Bauch will man sich abheben von den üblichen Tagesausflüglern, den Wanderurlaubern und ganz zu schweigen vom gemeinen Spaziergänger. Ich habe die Geschwindigkeit eines Skitourengehers. Dem Wanderer soll’s recht sein.
Und ewig lockt das Matterhorn
Immer wieder lugt der Zipfel des Matterhorns hinter den Wolken hervor. Immerzu zeigt er sich in einer anderen Facette, verändert sich von Kilometer zu Kilometer. Wenig später stehe ich am Ausstieg der schnellsten Standseilbahn der Schweiz. Die unterirdische Standseilbahn Sunnegga ist einigen vielleicht noch als „Alpen-Metro“ bekannt. Dort ist eine weitere Verpflegungsstation aufgebaut.
Dankbar trinke ich die warme, salzige Brühe und verweile einen Moment. In weniger als fünf Minuten fährt das spacige Gefährt fast geräuschlos die Wintersportler oder Sommertouristen zur „Sonnenecke“ von Zermatt. Ich schaue mich um, kann mir den gleichen Platz im Winter vorstellen: Wie ich hier stehe, mit Snowboard oder Ski, wie ich mich nicht entscheiden kann, ob ich rechts- oder links hinunter schwingen soll. Die Aussicht ist der beste Energieriegel für den Kopf.
Über einen schmalen Trail geht es nun aber auch für mich, wenn auch nur zu Fuß, bergab. Vor mir liegt ein Streckenprofil wie eine Hängematte: Erst seicht abwärts, um am Ende steil aufragend auszulaufen. Mich überkommt das Bedürfnis, hier Skifahren zu dürfen. Die salzige Brühe macht Durst, ich denke nur noch ans Trinken, da ist auch schon der Weiler „Grünsee“ mit dem gleichnamigen See auf 2.300 Meter ü. M. erreicht. Ein großer Becher Wasser wird mir schon entgegengestreckt.
Noch völlig dehydriert verstehe ich erst gar nicht, was Eberhard hier macht. Der Ort ist sehr abgelegen und nur über Bergwege erreichbar. Ich setze mich zu ihm auf den Stein. „Ich warte auf Angelika“, erzählt er mir. Eberhard war mit den Halbmarathonläufern gestartet. Ja klar, warum sollte man auch sonst da oben sitzen? Er ruft mir noch hinterher: „Hier beginnt der schönste Streckenabschnitt!“ Schon bin ich auch mittendrin auf einem wunderschönen abwechslungsreichen Trail, der an der Wintersportinfrastruktur, also den Fangnetzen endet. Heute ist alles und jeder gesichert. Was waren das noch für Zeiten, als wir uns mutig und ohne Helm und Rückenprotektor die Hänge runterstürzten?
VIP-Lounge der Gipfelprominenz
Das Riffelalp Resort auf 2.222 Metern ü. M. ist tatsächlich so etwas wie die VIP-Lounge der Gipfelprominenz. Wo sonst fährt schon eine elektrisch betriebene Trambahn knapp oberhalb der Waldgrenze in Höhen, wo man selbst vom Hotelpool nie den Blick auf das Matterhorn verliert. Man muss schon die goldene Plastikkarte zücken, um hier Urlaub machen zu dürfen. Dahinter steckt eine amerikanische Erfolgsgeschichte. Ärmliche Bauern waren die Vorfahren von Art Furrer. Als junger Mann liebte er das Skilaufen entgegen der strengen Regeln der Schweizer Skischule. Freestyle kannte man noch nicht, er machte es einfach und wurde damit zum Sonderling. Ohne Sprachkenntnisse wanderte er nach Amerika aus.
Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten wurde er schnell zum „Crazy Swiss Man“. Amerikanische Berühmtheiten lernten bei ihm das Skifahren. Als reicher Mann kehrte er zurück und baute auf der Riederalp zum Leid der einen, zur Freud der anderen. Auch wenn das ganze Areal einem Freizeitpark gleicht, mag ich diese Geschichte.
Vierzig Kilometer liegen hinter mir, nur noch fünf Kilometer mit achthundert Höhenmetern vor mir. Ehrgeiz und Aufmerksamkeit erfordert die weitere Topographie der Strecke. Selten ist das Hörnli im Blickfeld. Ich komme nur langsam voran, erachte meinen Laufschritt als ökonomisch. Es kann nicht falsch sein, sich die Erfahrungen der Einheimischen zu Nutzen zu machen. Wie zum Beispiel den Laufschritt des einstig ältesten Bergführers der Welt, Ulrich Inderbinen. Er starb im Alter von einhundert Jahren. Bis dahin allerdings bestieg er nachweisbar 371 (!) Mal das Matterhorn, das letzte Mal mit neunzig Jahren. Bergtouristen, die mit ihm unterwegs waren, beklagten sich nicht selten über sein mehr als gemütliches Aufsteigen. Unangenehm wurde es immer, wenn sie von anderen Bergführern mit ihren Gruppen überholt wurden. Letztlich war es aber der erfahrene Inderbinen, der am Ende meist vorne dabei war. Noch heute hat man Respekt vor dem „Uli-Schritt“.
Gipfel-Polonaise
Unendlich langsam, im „Uli-Schritt“, beginnt die Gipfel-Polonaise hinauf zum Riffelberg. Die Gornergratbahn bietet den Alpinvoyeuren eine exquisite Gelegenheit, den Leidensweg der Extremläufer zu verfolgen. Für die Passagiere im Zug ist es wie Bergfilme anschauen in natürlichem Ambiente. Einige Mitfahrer feuern uns an, wecken ganz kurz den Ehrgeiz.
Auf den letzten Metern vor der Bahnstation Riffelberg werden wir von den Dudelsack-Musikern akustisch und von den im Wind wehenden Schottenröcken optisch unterstützt. Die kleinen Schweizer Fähnchen markieren die letzten anstrengenden Höhenmeter in Richtung Ziel – Halbmarathon oder Marathonziel wohlgemerkt.
Humorvoller nahm es wohl Mark Twain im Jahre 1878. Unnötig zu erwähnen, dass Mark Twain natürlich schon vor mir hier war und vor mir über die Riffelbergbesteigung berichtete. Am Riffelberg, mit dem ältesten Hotel der Zermatter Berge, beginnt für die Ultraläufer die eigentliche Herausforderung. Einigen Bergläufern genügen die 42 Kilometer und es genügt ihnen, das Marathonziel erreicht zu haben. Andere fragen sich vielleicht, ob das Ziel nicht doch zu hoch gewählt war. Viele müssen noch ganz hinauf.
Kilometer 42
3,4 Kilometer und 514 Höhenmeter liegen nur noch zwischen Marathon und Ultramarathon. Hatte ich schon erwähnt, dass die Gornergratbahn von Zermatt bis hinauf zum Gornergrat, also meinem Tagesziel, nur 28 Minuten benötigt? Ich denke an Natascha und Christian. Ob sie wohl oben auf mich warten? Sehr steil zieht sich der (Abfahrts-) Hang hinauf.
Bergläufe verlangen Ausdauer – nicht nur körperlich. Man muss geduldig sein, anders mit der Zeit umgehen, die schneller rast als ich laufen kann. Ich gehe ein langsames Tempo. Vor mir ein einzelner Läufer und hinter mir ein einzelner Läufer. Die Szenerie gleicht einem einzigen großen Schweigemarsch. Nur die hellgekräuselten typischen Walliser Schwarznasenschafe sind heute noch langsamer. 1927 hatten viele Bauern Nebenjobs wie Bergführer oder Träger. Mit Maultieren und Sätteln aus Holz führten sie die feinen Damen von Welt auf den Gornergrat. Ein Sesselträger erhielt sechs Schweizer Franken Tageslohn. In winzigen sogenannten „Teehäuschen“ an den Wanderwegen boten die Bäuerinnen Getränke, Bergblumen oder Souvenirs der fußfaulen Gesellschaft an.
Fast könnte man ungeduldig werden, würde mein Herz nicht so rasen. Zur Eile gibt es (noch) keinen Grund. Zu viele Läufer ohne Konkurrenzkampf. Man motiviert sich gegenseitig, riskiert nichts mehr, es geht ruhig und gesittet zu. Ich liege noch in der Zeit, will jeden Schritt genießen. Ich male mir verführerische Pulverschneebilder aus. Was mir als Skiläufer nicht passiert, verändert sich als Läufer.
Die Szene wird dreister. Ich spüre die „Schwarze Skipiste“ mache mir plötzlich Gedanken um Steigung und Gefälle, erlebe die Unterschiede schmerzhaft. Kilometer vierundvierzig – noch immer ist das Ziel nicht zu sehen. Ich laufe bis zu den Knöcheln durch ein regenerierendes „Kältefass“ aus Schneeresten.
Ein Blick hinauf lässt keinen Zweifel: Nun beginnt der härteste Teil des Ultras. Die Felswand ist so steil, dass die Zuschauer am Ziel scheinbar über den Läufer thronen. Die Schenkel brennen. Kraxlerei statt Lauferei. Ich erkenne Natascha in ihrer farbigen Jacke. Wir winken uns zu. Momente der Emotionen. Das aufmunternde „Hopp-hopp“ der Zuschauer nehme ich das erste Mal wahr. Die ersten Gipfelbezwinger dieses Tages sind schon lange und glücklich im Ziel.
Endlich nehme ich Natascha in die Arme. Sieben Stunden und achtzehn Minuten nach dem Aufbruch in St. Sankt Niklaus erlebe ich dieses Gefühl dann selbst. „Glückwunsch, Startnummer 5615!“ Bei 5 Grad Außentemperatur freue ich mich über die wärmende Thermofolie, der Läufermütze im Überraschungspaket und einen Sitzplatz in der Gornergratbahn.
Resümee: „Ultra“ ist ein Präfix aus dem Lateinischen – mit der Bedeutung „darüber, hinaus“. Beim Zermatt-Marathon kann man mit dem Ultra noch „darüber hinaus“ gehen. Über Grenzen, die manch einer so noch nicht kannte. Zermatt bietet für jeden das Nonplusultra! Apropos Nonplusultra: Im nächsten Jahr finden hier in Zermatt der World Mountain Running Championship statt.
Wer bisher glaubte, dass die Schweiz teuer sei, Berglaufen anstrengend und Zermatt eine Reise wert, der hat nach meiner heutigen Erfahrung damit Recht. Aber ich komme wieder, koste es was es wolle.
Gut zu wissen:
ULTRAMARATHON (45,595 Kilometer)
8 Stunden und 5 Minuten Zeilimit, 2.500 Höhenmeter, Natur-, Wander- und Gebirgswege
Wettbewerbe: Neben dem Ultra-Marathon (45,595 KM) werden ein Marathon (42,195 Kilometer), ein Halbmarathon (21,1 Kilometer) und ein Staffelmarathon (2er-Teams absolvieren je eine Halbmarathon-Distanz. Der erste Läufer geht von St. Niklaus nach Zermatt auf die Strecke, der zweite Läufer von Zermatt auf den Riffelberg) angeboten. Neu dabei der 33M-Cup. 33M bedeutet, drei Länder, drei Monate, drei Marathons – eine Wertung. Dabei handelt es sich um den LGT Alpin Marathon Liechtenstein, den Zermatt Marathon und dem Allgäu Panorama Marathon.
Temperatur: Start 18°C – Ziel 5°C
Verpflegung: Wasser, Iso (PowerBar), Cola, Bouillon, Bananen, Verschiedene PowerBar Produkte (Energieriegel, Gel, Ride Shots und Waffeln)
Zeitmessung: Nettozeit per Datasport Chipsystem
Läuferpaket: Funktionelles Finisher-Shirt, Medaille, Kleidertransport ins Ziel, Pasta-Party-Gutschein, Finisher-Foto, Gratis-Fahrt von Freitag bis Sonntag auf folgenden Strecken: Brig-St. Niklaus-Zermatt (MGBahn), St. Niklaus-Grächen (Postauto), Zermatt-Gornergrat (GGB) und Zermatt-Sunnegga (Standseilbahn Zermatt Bergbahnen).
Sieger Ultra
Männer
1. von Allmen Konrad, Olten 3:58.11,0
2. Bärtschi Ruedi, Adelboden 4:21.49,5
3. Heiniger Stephane, Yvonand 4:22.49,1
Frauen
1. Ogi Helene, Kandersteg 5:00.49,0
2. Dusch Kerstin, Baar 5:14.15,5
3. Käppeli Susanna, Oberurnen 5:18.34,5
507 Finisher
Sieger Marathon
Männer
1. Michieka Paul Maticha, Immensee 2:55.04,8
2. Cardona José David, Kolumbien 3:03.47,5
3. Saban Mustafa, BUL-Sofia 3:04.20,5
Frauen
1. Camboulives Aline, F-St Jorioz 3:29.36,3
2. Tobon Leidy Johana, Kolumbien 3:38.50,0
3. Mereni Timea, H-Budapest 3:41.55,0
739 Finisher