Lecher Höhenhalbmarathon 2015
Lecher (Ultra) Höhenhalbmarathon
Von gesunder Bergluft allein bekommt man noch keinen Muskelkater, wenn aber eine Veranstaltung am Arlberg stattfindet, wo alles ein wenig außerordentlicher ist und die Topographie sich in so hohe Falten legt, dann garantiert schon. Wer aber hat bei einem Höhenhalbmarathon auch schon die flachen Wege im Sinn?
Ich bin vorbereitet. Ich habe gestern Abend gut gegessen, gut geschlafen, gut gefrühstückt und ich bin rechtzeitig am Start. „Stellenweise Sonnenschein“, versprach die Wettervorhersage am Vorabend. Es gab eine Zeit, da wäre es mir nicht im Traum eingefallen, im Sommer aus der hessischen Tiefebene nach Lech zu fahren. Jetzt aber ist Sommer und die Berge sind da, im Sommer wie im Winter, in braun oder weiß. Die Startaufstellung erinnert mich an meinen ersten Skikurs. Vorne stehen die, die es sich leisten können; keine Rabatte für Neuankömmlinge. Für einige sind die Steigungen eher willkommen als abschreckend. Doch auch für gut trainierte Bergläufer ist der Lauf mehr als eine regenerative Fitnesstour. Für die ersten Gewöhnungskilometer ist der Anstieg nicht geeignet. Kuhglockengeläut mischt sich unter mein Keuchen und Japsen.
Aber gibt es etwas Schöneres als sich an der frischen Luft auszutoben? Vor mir liegt eine Strecke von rund 23 Kilometern und ca. 1.000 Höhenmetern, dabei geht es einmal um das Karhorn herum. Nach dem ersten steilen Aufstieg frage ich mich, wer eigentlich durch die Elektrozäune geschützt wird? Die Läufer eilen zur Seite, die Kühe haben Spaß daran uns den Weg zu versperren. Idyllisch, wie vom Fremdenverkehrsbüro platziert, liegt das Bergvieh wie Kuscheltiere zwischen den Wiesenhängen voller blühender Bergblumen verteilt. Bilde ich mir das ein oder blicken die etwa arrogant zu mir herüber? Mein Blick schweift über das grandiose Gebirgspanorama von Wöster, Karhorn, Rüfikopf und Omeshorn. Über einen Pfad führt ein Weg in gemächlichen Schleifen zur Bodenalpe (1.430 m).
Schnell stellt sich heraus, dass dieser Lauf etwas für wanderfreudige, strapazierfähige Teilnehmer ist. „Ruhig atmen. Ganz ruhig atmen“, wie ein Mantra wiederhole ich innerlich diese Worte. Nicht ganz freiwillig lasse ich also meine gewohnte Durchschnittsgeschwindigkeit hinter mir. Wer an dem folgenden steilen Anstieg über einen Wiesenhang noch rennen kann, der ist dann auch gut eine Stunde vor mir im Ziel. Wer allerdings die Strecke mit geöffneten Augen läuft oder wie ich gerade wandert, ohne viel Lärm zu machen, der findet ganz schnell eine Einheimische (Kuh) zum kuscheln.
Dann Wurzelstufen. Natürlich krumm und schief. Sie verlangen höchste Aufmerksamkeit. „Autsch“, ich hätte es wirklich wissen müssen, dass meine bunten Triathlon-Ballerinas hier „auf den Spuren der Walser“ das falsche Schuhwerk sind. Dafür wird der Ausblick immer imposanter. Unterhalb des Karhorns liegt wie ein Postkartenmotiv vor mir die ehemalige Walsersiedlung „Bürstegg“ (1.716 m).
Immer im Blick die markanten und schroffen Zinnen des Karhorn! Weiter schnaufe ich mich vorwärts, Richtung Steffisalpe Seilbahn, die Oberschenkel leisten körperliche Schwerstarbeit. Bergauf gilt es das richtige Maß zwischen schnell und langsam zu finden. Wer zu schnell läuft – und dieser Verlockung erliegen viele – endet oft am Wegesrand. Läuft man zu vorsichtig, wird man schnell zum wandernden Verkehrshindernis, wie die uns entgegenkommenden Touristen, deren Karohemden sich um die Wander-Wampen spannen. Abschätzige Blicke, einige feuern uns an, andere mustern uns streng. In der Spitzengruppe – und nicht nur dort – geht es ernsthaft und zuweilen auch verbissen zu. Unterdrückte Wutausbrüche sind nicht ungewöhnlich, wenn man Lederhosen-Helden, die man auf den engen Wegen nicht überholen kann, den freien Lauf behindern und so den geforderten Schnitt zum Gewinnen ruinieren. Es ist ja nicht so, dass wir in heldenlosen Zeiten lebten. Auch ich will mich abheben, schließlich habe ich eine Startnummer am Trikot, ein Branding, das Sportlichkeit signalisiert.
Bald ändert sich die Situation. Der Weg wird breiter und meine Gedanken kreisen darum, dass man derart leere Pisten nur bei schlechtem Wetter, im Sommer oder Herbst haben kann. Mühsam geht es über eine Skipiste voran. Dann ist an der Bergstation der Saloberbahn (2.044 m), der höchste Punkt des Laufes ist geschafft. Fast könnte man glauben, dass alles was nicht Wald oder Felsen ist zu irgendeiner Skipiste gehört. „Übrigens, hinter uns läuft ein Rindvieh“, ruft ein anderer Läufer. Toller Witz! Mir wird mulmig, der meint es ernst. Ich drehe mich um: Noch langsamer wie ich gehe, trottet eine Kuh neben mir her – ihr Euter ist gut gefüllt und prall wie ein Fußball, erschwerte Bedingungen, um mit mir das Rennen aufzunehmen. Hier am Saloberkopf sind im Winter die Pistenflitzer unterwegs. Skifahren, unkontrolliert und chaotisch – nicht am Arlberg. Damals wie heute Kaderschmiede für Skilehrer der nächsten Generation und Tiefschnee-Enthusiasten. Ich laufe durch ein weitläufiges Skigebiet, auf dem es sich lohnt den einen oder anderen Foto-Stopp einzulegen. Nur die durchtrainierte Skilehrerin die mich locker überholt erinnert mich daran, dass ich hier zum Laufen bin und die Strecke nicht für mich exklusiv haben kann. Was ist jetzt los? Plötzlich entwickelt sich eine Eigendynamik. Es kribbelt unwillkürlich unter meinen Fußsohlen. Gemeinsam stürzen wir uns geradewegs abwärts über das Schotterfeld am Saloberkopf.
Laktat wird in die Schenkel geschüttet, an diesen Hang werden mich meine Oberschenkel noch Tage erinnern. Die Natur kann es dem Läufer aber auch nicht recht machen: Nach dem Glücksgefühl des Bergablaufens, hat sie einen neuen Berg gesetzt. Keine Schneekanonenskelette stören das Bergidyll im Sommer, auch wenn ein Strandkorb der Partnerstadt Kampen und ein neun Meter hohes Herz aus Stahl ein wenig surreal anmutet. Unter dem Gejohle einer Hochzeits-Gesellschaft laufen wir an der Rud-Alpe (1.560 m) vorbei. Es heißt: „Wer sich in Lech das Ja-Wort gibt, kann sich sicher sein, dass erst der Tod die Eheleute scheidet.“ Von der „Hütte mit Kochmützen-Niveau“ rase ich weiter über die Piste des Schlegelkopfs hinunter in das Promenadenleben Lech`s.
Am Ende der Promenade endet auch die Strecke des Bikeparks. Ihr gegenüber bringt die Bergbahn im Winter die Skifahrer, jetzt jedoch die Radfahrer wieder zurück auf den Berg.
Für mich ist es nur noch ein letzter flacher Kilometer. Dann die Hand in Siegespose ausgestreckt laufe ich durchs Ziel. Aprés-Run und Livemusik, die Berggipfel leuchten im Hintergrund.
Es sind genau diese landschaftlich schönen Läufe, bei denen die Zeit für mich am Ende keine Rolle spielt, sondern der Erfolg vielmehr am anhaltenden Muskelkater gemessen wird, und Himmel, war ich erfolgreich!