Andrea Helmuth

Andrea Helmuth

Azores Triangle Adventure 2016

Expedition ins Trailreich

 

Zwei Stunden kämpft die Fähre gegen den rauen Wind und die hohe See. Wie ein Fausthieb trifft mich ihre eiskalte Gewalt, als die Welle auf dem obersten Deck zusammenschlägt und mir eine Salzwasserdusche beschert – trocken sollte ich heute nicht mehr werden. Tropfnass und die Glieder von den letzten Tagen traktiert, stellt sich mir die Frage: Wie bin ich hierhergekommen, mitten in die Wetterküche des Atlantiks? Das Azorenhoch ist heute definitiv woanders!

 

 

 

 

 

„Sei froh, jetzt ist das Schlimmste überstanden“, sagt Luís beim Verlassen der Fähre. Mein Magen sagt etwas anderes, als würde mein Frühstück von innen dagegen trommeln.

Wo einst der Leuchtturm von Capelinhos fast vollständig in Asche versank, veranschaulicht ein unterirdisches Museum die vergangenen Naturkatastrophen und dort suchen wir Schutz. Es ist Sonntag und ausgerechnet auf der Königsetappe, die neben der anspruchsvollen Strecke auch mit einer gesonderten Wertung gefeiert werden wird, stellt uns ein Naturspektakel auf die Probe. Auf Regen und Blitz folgt ein lauter Donnerschlag; leise beginnen Zweifel an mir zu nagen.

Die Pflichtausrüstung wird von der Crew gründlich überprüft. Einzelne haben regentonnengroße Rucksäcke, meiner hat die Größe einer Clutch. Skeptisch wird dieser beäugt und doch ist alles darin: Stirnlampe, ein Liter Wasser, Riegel, Regenjacke, Wärmefolie, Handy. Unverhofft schleudert das breite Tor des gegenwärtigen Mausoleums auf. Mit wildem Beifall laufen alle hinaus, aber schon der dritte Schritt endet für alle Läufer abrupt und unausweichlich in einem tiefen Wasserloch. Schlagartig tausche ich die bedrückende Übelkeit gegen abscheulich nasse Füße. In diagonaler Körperhaltung kämpfe ich tapfer gegen die Naturgewalten und meine saftigen Schuhsohlen. Zurück bleiben die Fotografen und ein Startbogen, den der scharfe Wind in ein Häufchen Elend verwandelt hat.

Die Umgebung wirkt surreal, eine ausgestorbene Mondlandschaft im Nirgendwo. Die Schönheit ist brutal – entstanden durch Eruption, die alles menschliche und pflanzliche Leben erstickte. Karg und staubig in schwarzgrau und Beige, weiter oben grün und saftig. Wolkenfetzen ziehen um den Berg, die Sonne kämpft gegen sie an.

Dabei hatte das Abenteuer am Freitag so warm und sonnig auf Pico seinen Anfang genommen. Nur sechs Kilometer trennen die Insel Pico, mit dem gleichnamigen Berg, von der Insel Faial. Wo üblicherweise die Atlantikwellen erbarmungslos gegen die Küste branden, steuerten wir sanft hinüber. Wenige Meter von der einst tragödienbehafteten Walfanghölle, an der heutzutage Touristen zum whale watching gefangen werden, startete das Azores Triangle Adventure. Abgelenkt durch die gutgelaunten und meist portugiesischen Läufer in knalligen Shirts, attraktiven gebräunten und glattrasierten Waden, machte es mich nicht misstrauisch, als Mario, der Renndirektor, an uns appellierte, neben einem fairen Wettkampf besonders die Schönheiten der drei Inseln zu genießen.

Wie hart es wirklich werden würde, von der Küste bis auf den Gipfel des Pico zu laufen, konnte man durch das Höhenprofil auf der Startnummer nur erahnen. Das Meer im Rücken blinzelte ich gegen die grelle Sonne. Alles überragend wuchs der Vulkankegel im Gegenlicht. Breite Wege wurden zu schmalsten Pfaden, die an Lavasteinmauern entlangführten. Sie grenzen die Weinstöcke ein und schützen sie vor Wind und Kälte. Wie ein engmaschiges Netz überziehen sie einen Teil der dafür typischen Insel. Die Mauern sind überwuchert von Barrieren aus Gestrüpp, dessen Dornen mir tief in die Waden schnitten, bevor knietiefer Morast meiner misshandelten Pelle Linderung brachte. Verschwitzt stieß ich durch die feuchte Wolkenzone. Ich spüre noch den kalten Schauder, der sich durch meinen Körper zog, als die nassen Bindfäden lautlos auf mir versanken. Die Silhouette eines massigen Bullen mit furchterregenden Hörnern schälte sich gespenstisch aus dem Dunst der Flora – fremd und unheimlich. Gemächlich kaute er auf dem Flatterband unserer Wegmarkierung. Geduckt und mit angehaltenem Atem schlich ich von dannen. Mein Temperament fand ich erst beim Anblick der letzten Verpflegung am Casa da Montanha wieder. Essen, Trinken und Wasser nachfüllen. Das musste reichen für den Auf- und Abstieg. 1.032 Höhenmeter auf nur circa drei Kilometern(!) lagen noch vor mir.

Der übertreibt doch, dachte ich, als mir der Ranger einen GPS-Sender entgegen streckte. Schon wenig später sollte mich dichter Nebel verschlucken.

Es ist tröstlich, ein kleines rotblinkendes Pünktchen auf dem Display der Ranger zu sein. Hochkonzentriert, den Blick angestrengt auf die Strecke gerichtet, kletterte ich weiter über den schlangenförmig geformten Lavastein. Die glatten hohen Stufen, die teils losen Lavabrocken forderten selbst den geländegängigen Exzentrikern und Profis alles ab. Stunden später stieß ich durch den letzten Rest feuchter Watte. In gleißendem Sonnenlicht lag kurz unterhalb des kantigen Gipfels auf 2.253 Meter das Ziel.

Wenig Zeit zur Freude – schwere Beine provozierten schwere Gedanken; besonders bei der Vorstellung, retour gehen zu müssen. Zurück im Hotel blieben mir nur 30 Minuten für eine Dusche, Wechsel der schlammverkrusteten Startnummer und dem Auswählen des Lauf-Ensembles für den zweiten Tag. Mein Gang lahmte auf dem Weg zum Buffet. Das ist der Preis, den man für den kräftezehrenden Abstieg zahlt. Dessen ungeachtet, schien vor Mitternacht niemand zur Ruhe kommen zu wollen.

Am Samstagmorgen, als die Uhr in der schwach erleuchteten Rezeption 5:30 Uhr zeigte, spürte ich die Müdigkeit. Ich nutzte die 2,5 Stunden Fähr- und Busfahrt zu und auf der Insel São Jorge zum Dämmern. Erst das zweite Frühstück mit hochaufgetürmten Wurst- und Käsebroten und viel heißem Kaffee machten mich im Kopf munter, die Beine dagegen fühlten sich merkwürdig fremd an und die Lunge drohte kurz nach dem Start zu protestieren.

Tief atmete ich den salzigen Duft feuchter Meeresluft ein, bevor ich durch einen verschlafenen Ort lief: Brunnen, Kirche, Friedhof. Niemand außer uns, so glaubte ich, hatte es eilig. Überzogene Lavafelder mit dichtwachsenden Büschen bilden das Rückgrat der langgezogenen Insel. Ohne Uhr und Kilometerangaben verlor ich das Gefühl für Zeit und Entfernung.

Ich erinnere mich noch jetzt an das Tosen des Wasserfalls, der sich am „Trail of the Cliffs“ den Steilhang hinunterstürzt und an den Geruch der fauligen, moosbedeckten Baumstämme. Ich bin gewiss kein Botaniker und jede Topfpflanze findet bei mir verbürgt ihren Tod, aber ich bin noch immer berauscht von dem smaragdgrünen Idyll, den Paradiesvogelblumen, den exotischen Einwanderern und den Massen an filzig behaarten Sträuchern. Ich erinnere mich an den Zieleinlauf, als das Meer tobte, so laut war, dass ich den Moderator lange nicht hören konnte und unterwegs dachte: die attraktivsten Grundstücke mit Blick aufs Meer haben auf São Jorge neidlos die Rindviecher.

Am Marktplatz von Horta spannt sich ein Regenbogen vor den Pico – ein ehrenhafter Zieleinlauf für ein Abenteuer durch die Falten und Furchen der Azoren. Nur noch wenige Kilometer, die dritte Etappe, das letzte Ziel. Und ich bin froh, nach der Übelkeit, den Blasen an den Füßen und dem Gewitter, den Lauf beenden zu können.

Einerseits. Andererseits hätte ich noch so viel über das Wetter lernen und berichten können. Alle reden davon – ich bin dort gelaufen, wo es gemacht wird. Malerischer als auf den Azoren kann Sauwetter nicht sein.

 

1. Etappe: 29 km, 2.530 HM – From Vineyards to the Mountain Trail (Pico) 2. Etappe: 27 km, 2.250 HM – Fajãs Trail (São Jorge) 3. Etappe: 43 km, 2.200 HM – Volcanoes Skymarathon (Faial)

 

Andrea’s Beitrag zu dieser Veranstaltung ist in Ausgabe 3/2017 (Nr. 179) des „Running“-Laufmagazins erschienen. Erhältlich am Kiosk und im Zeitschriftenhandel.