Macau Marathon 2015
Sprung ins Glück
Ein letztes Mal klickt der Karabinerhaken meines Klettergurtes in die oberste Sprosse der Leiter. Streckenbesichtigung aus 338 Metern Höhe. Der Wind zerrt an meiner Jacke. Ich höre mein Herz pochen, lauter als den Lärm von der Stadt unter mir. Dort öffnet sich eine Welt, die sich in der Dämmerung wie ein fluoreszierender Teppich der Verheißung entrollt.
An der Spitze ist nur noch Luft nach oben. Unten durchschneiden Schnellfähren aus Hongkong und Containerschiffe aus aller Welt das Wasser unter der schlanken Sai-Van-Brücke, die eine schnurgerade Linie über den Perlfluss in die Landschaft zeichnet. Ein Blick vom höchsten Punkt der Stadt gewährt tiefe Einblicke auf das was mich in Macau erwartet. Ein schönes Wort – Macau. Klingt wie Kakao, süß und hell oder dunkel und bitter, als seien viele Versprechungen an einem Ort gehäuft. Macau ist Yin und Yang. Chinatown und Lissabon. Kommerz und Kultur. Mit M, wie Marathon, A wie aufregend, C wie Casinos, A wie anders und U wie UNESCO-geschützt, so wie etwa die bekannte Fassade der Basilika São Paulo. Wo im 16. Jahrhundert Portugiesen mit ihren Karavellen kreuzten, breitet sich heute ein Hochhausdschungel aus. In der Nähe der Altstadt sticht das Kasino „Lisboa“ in Form einer Lotusblüte heraus. Ich sehe die Insel Taipa mit dem Olympic Stadium. Dort befindet sich die Startnummernausgabe und da geht es jetzt hin.
First come, first serve
Zweisprachig sind die Straßen beschildert, einsprachig sind die Taxifahrer. Die weltbesten Sterneköche kochen in Macau und die makanesische Küche ist bekannt als Insel der Kreativen. Schnelligkeit wird belohnt und ich erhalte zu meinem Starterbeutel einen Gutschein für reichlich Kohlehydrate. Ein kulinarisches Crossover sind die acht unterschiedlichen Nudelgerichte.
Übrigens, die Zahl Acht steht in China für Unendlichkeit und Glück, nur das Schlürfen am Nachbartisch jagt mir einen Schauer über den Rücken. Schaurig und für Macau untypisch ist auch das viel zu kühle Wetter. Deshalb findet das ultimative Nudelerlebnis nicht wie geplant auf dem Hoteldach mit dem weltgrößten Outdoor-Wellenbad statt, sondern in einem der vielen Restaurants des Galaxy – einem gigantischen Komplex aus Luxushotels mit gehobener Gastronomie, einer Shopping-Mall und Casinos.
Casinos wie Traumwelten deren Lichter die Meute gieriger Zocker wie Motten das Licht anlockt.
Ich komme aus dem Staunen nicht heraus. Alles ist möglich, wie auch kilometerlange Wandelhallen mit Luxusmarken aus aller Welt, Gebäude europäischer Städte nachempfunden, Fassaden mit gedimmtem Tageslicht aus List und Halluzination – bis zum Platzen aller Träume.
Viele suchen ihr Glück im Casino und ich meine Startnummer
Ein unfreiwilliger Adrenalinkick lässt Körper und Geist erstarren. Hecktisch greife ich immer wieder in meine Jackentaschen. Es ist der Beginn einer Jagd nach einer verlorenen Startnummer im funkelnd ausstaffierten Glücksspieldschungel. Ich haste durch Menschenmassen und die weitläufige Altstadt von Venedig, in deren künstlich angelegten Kanale Grande venezianische Gondeln dümpeln.
Ich springe zwischen Traumerfüllungsmaschinen, Black-Jack-Tischen zum Roulette. Macaus Glücksspielwahnsinn hat Las Vegas im Hinblick auf Besucherzahlen und Umsatz weit abgehängt.
Die erschöpften Spielergesichter nehmen mich nicht wahr – bittere Resultate werden mutwillig geschluckt. Gerade will ich kapitulieren, als das Wunder geschieht. Ein Kniefall und ich halte meine Startnummer mit dem Timing Chip wieder in meinen Händen.
Ich will mir gar nicht vorstellen… Abgekämpft geht meine Casinonacht zu Ende. Furchen ins Gesicht gegraben, falle ich müde ins Hotelbett, die rote Startnummer längst fest an mein rotes Trikot geheftet. Rot, auch ein Symbol des Glücks und der Kraft – auf das werde ich bauen.
Am Ende der Nacht ist Marathon
Übernächtigt löst um sechs Uhr morgens das grelle Weiß des Flutlichts im Olympic Stadium den Charme des Surrealen aus. Den Start verfolge ich weit hinten stehend auf einer Leinwand, inmitten der Massen unter denen ich stecke, ist es, als bewegte ich mich in Zeitlupe. Bei einer Bruttozeitmessung und einem Zeitlimit von 5 Stunden ist das alles andere als angenehm.
Aus dem Stadion heraus führt die Strecke auf den Cotai-Strip. Das Galaxy, aufwändig beleuchtet, taucht wie ein Schloss mit vielen Türmchen und Giebelchen in der Morgendämmerung auf, die sich wie ein Weichzeichner über die bizarren Gebilde eigenartiger Schönheit legt. Ich lasse mich Verführen von der Farbenpracht der frühen Stunde und dem Rhythmus meiner Schritte.
Seit zehn Jahren ist das historische Zentrum UNESCO-Weltkulturerbe. Zu diesem Anlass streift der Marathon die Spuren vergangener Zeiten und das älteste Bauwerk Macaus, den Gebetstempel A-Ma. Der Duft von Räucherwerk wabert mir entgegen. Sanfte Klänge aus blechernen Lautsprechern und ältere Damen beim Tai-Chi. Nur ein kurzer Stopp. Sie lächeln mir zu und ich stelle mir vor, wie sie mir sagen: „Fürchte dich nicht vor dem langsamen Vorwärtsgehen, fürchte dich nur vor dem Stehenbleiben“, einem chinesischen Sprichwort.
Mit Ruhe und Gelassenheit laufe ich weiter. Hier waren schon andere: Abenteurer, Kolonialherren und Spieler. Daran gemessen sind wir Läufer heute wohl die sanftesten Invasoren. Wie ein sepiafarbenes Bild wirkt nun die Szenerie, Farbtupfer oder Menschen abseits der Strecke suche ich vergebens. Ein Feuerwerk aus Musik, Farben und Kostümen erlebe ich erst am Nachmittag bei der Parade der Nationen in der Altstadt; dann aber ist auch ganz Macau auf den Beinen. Während die alten Gassen in den Hintergrund rücken, liegen die Sai-Van-Brücke und der Macau-Tower vor mir.
Hinter und vor den Panoramascheiben stehen sicherlich auch heute wieder Wagemutige; sie kommen aus der ganzen Welt, nur für diesen einen Sprung. Bevor ich auf die zweite Schleife durch das Outback der Macau-Universität einbiege, treffe ich an der Begegnungsstelle im Unterwassertunnel auf die Läufer, die mich vor einigen Kilometern noch lächelt und leichtfüßig überholten.
Nur noch wenige Meter trennen mich von der Ziellinie, der schweren Medaille und dem schönen Handtuch. Ideal geeignet, um damit meine Angst- und Schweißtropfen der vergangenen Tage und Stunden abzutrocknen: Kopfüber in den freien Fall und auf der Jagd nach meiner verlorenen Startnummer.
Eine Besteigung des Macau-Tower ist nichts für schwache Nerven, man muss sich aber auch nicht unbedingt hinauf wagen, um dann den Marathon zu genießen. Am Ende siegt immer das Glück. Ich habe meines in Macau gefunden und zur Erinnerung vier Finisher-Shirts erhalten: Für den Skywalk, für den Skyclimb, für den Skyjump und eines für den Marathon.
Bildimpressionen auf traillounge.de: Macau, Skywalk und Skyclimb
Andera’s Beitrag zu diesem Marathonlauf ist in Ausgabe 2/2016 (Nr. 172) des „Running“-Laufmagazins erschienen. Erhältlich am Kiosk und im Zeitschriftenhandel.