Andrea Helmuth

Andrea Helmuth

Alpin Marathon Liechtenstein 2014

Ein Stück vom Fürstenglück

 

Bendern. Die fürstliche Krone auf dem großen weißen und mit Luft gefüllten Startbogen bildet sozusagen das Tor in die alpine Welt. Eine Welt, die über Jahrhunderte als wild, unberechenbar und gefährlich galt.

 

 

 

 

Drohend waren die Naturgewalten – Nährboden für Geschichten und Sagen. Wer auf oder über die Berge musste, setzte sich erheblichen Gefahren aus – freiwillig ging keiner. Wer konnte damals schon ahnen, dass nur wenige Jahrzehnte später ein Phänomen seinen unabsehbaren Anfang nahm – nicht aus Mangel oder Not, sondern aus purer Laune.

Fürstlicher Startschuss

Röbi, der weißhaarige Moderator, heißt alle sportlich Aktiven aus 23 Nationen zum 15. Jubiläums-Marathon in Liechtenstein herzlich willkommen. Wenn ich der Ausschreibung für den 15. LGT Alpin Marathon glauben schenken kann, in welcher mir „Fürstliche Lauferlebnisse“ versprochen werden und ein Bergmarathon, bei dem ich (fast) das ganze Land durchlaufen soll, dann habe ich doch wohl alles richtig gemacht.

Klingt im ersten Moment verrückt, ist es aber nicht, wenn man sich einmal eine Karte betrachtet. Liechtenstein ist das sechskleinste Land der Erde, die direkten Nachbarn sind Österreich und die Schweiz. Gerade einmal hundertsechzig Quadratkilometer misst das größtenteils von Bergen bedeckte Fürstenland. 24,6 Kilometer in der Länge und 12,4 Kilometer in der Breite. Alles in allem angenehme Ausmaße und Eigenschaften für eine Liechtensteinquerung. Aber leicht wird es mir nicht gemacht, denn die meiste Fläche des kleinen Landes ist ja wie gesagt von Bergen bedeckt.

Unter den 932 Läufern stehen acht heute bereits zum 15. Mal an der Startlinie. Auch der 1935 geborene und mindestens zehn Jahre jünger wirkende Roland Thommen ist wieder auf der Marathonstrecke dabei.

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Mit einem Liechtensteiner Dialekt interviewt der Moderator die kleine Gruppe. Leider kann ich fast nichts verstehen. Warum sie noch nicht hier war, fragt er im Anschluss, und nun in einem für mich verständlichen hochdeutsch, die königliche Hoheit Erbprinzessin Sophie von und zu Liechtenstein. Und die schlanke sympathische Monarchin antwortet kurz und trocken: „Bislang hatte mich noch keiner gefragt.“ Otto Biedermann, CEO der LGT Bank erklärt, dass Ausdauer auch im Bankgeschäft wichtig sei. Die Läufer sind bereit, warten nur noch auf den Startschuss. Kurzerhand übernimmt ihre königliche Hoheit, Sophie, die Waffe.

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Peng! Die Spitze, das sind die in den meist ganz extrem kurzen Hosen, liefert sich sofort ihr Wettrennen, als lägen nur fünf Kilometer vor ihnen. Ich, inmitten einer Karawane gemütlicher Läufer, mit längeren Hosenbeinen, folge ihr.

Rhein in Not

Noch sind es knapp zehn Kilometer bis ich zum ersten Anstieg gelange. Was soll mich schrecken? Ich denke an die Älpler, Bauern, Gämsenjäger. Da brauche ich schon einiges an Fantasie, um mir heute vorstellen zu können, welche Beschwernisse und Nöte einstmals die Menschen auf oder über die Berge trieb. Flach wie eine Flunder führt die Strecke erst auf der für den Verkehr gesperrten Schanner Landstraße und im Anschluss auf dem Rhein-Damm entlang. Der Alpenrhein wirkt, als hätte man darin Wäsche mit zu viel Kernseife gewaschen. Wie war das wohl, frage ich mich, als der Rhein hier noch nicht gebändigt war und zum reißenden Fluss wurde? Wenn nach Unwettern oder nach der großen Schneeschmelze im Frühjahr das Wasser und der Schlamm überquollen?

Mein Anfangstempo ist hoch, es ist schwül und schweißtreibend. Es pendelt bei 5:10 Minuten pro Kilometer. Das ist in Ordnung. Ich fühle mich gut und genau so hatte ich mir das vorgenommen. Auf den ersten Kilometern versuchen einen Zeitpuffer rauszulaufen, um dann gelassen in den ersten Anstieg zu gehen. Vor mir tragen Läufer die Shirts von „Hürtzler Bike“, „Finisher Zermatt Marathon“, gefolgt von Superman oder Zoro, aber wer weiß schon so genau wer darin steckt?

Ein weiterer Zermatt-Finisher überholt das Shirt, „kämpfa, kämpfa, chum“ und der Träger des gelben Speed-Bird-Shirts wehrt sich, überholt zu werden. Nun folge ich lange nur noch langweiligen einfarbigen Shirts. Ah da: „Röntgenlauf 2013“. Ich bin abgelenkt. Ein läuferisches Leichtgewicht in knapper Hose rast an mir vorbei. Der darf das, denke ich mir, denn der hatte wohl bloß den Startschuss verpasst. Jetzt will mich so ein Kerl in knielanger Schlapperhose und tätowiertem Arm, Motiv Herz und Krönchen, ebenfalls überholen. Ich wehre mich (kurz). Dann bemerke ich, dass es Marco Büchel ist. Unglaublich, er war bis eben hinter mir!

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Genial, dass ich den ehemaligen Liechtensteiner Superstar des Skilaufes hier erleben kann. Er hat den Kopf gesenkt, dann schaut er rauf zum Berg. Was wohl gerade in ihm vorgeht, frage ich mich. In seinem Blog schrieb er erst kürzlich: „Warum habe ich mir in den Kopf gesetzt, diesen Alpin-Marathon zu laufen? Dabei hatte ich mir beim Zieleinlauf des New York-Marathons vor bald drei Jahren doch geschworen: Einmal und nie wieder“ und „Wettkämpfe habe ich in meinem Leben jedenfalls genügend absolviert“.

Da hat er recht. Neunzig Top-Ten-Platzierungen bei Weltcups, Weltmeisterschaften und bei Olympia. Dann erinnert er sich an seine Teilnahme im vergangenen Jahr beim LGT-Alpin-Halbmarathon Plus und dem guten Gefühl. Er schreibt von Anfängerfehlern in der Vorbereitung, von Schmerzen, Leistungsabfall und von mangelnder Freude. Nun läuft unbeirrt fort.

Liechtenstein muss wohl fußballbegeistert oder größenwahnsinnig sein, denke ich mir, als ich am Stadion von Vaduz vorbeilaufe. 5500 Einwohner hat die Landeshauptstadt, gönnen sich aber ein Stadion mit 6500 Plätzen. Selbstverständlich, dass es jetzt zur Fußballweltmeisterschaft im Stadtzentrum auch eine Großbildleinwand gibt. Am Ortseingang zeigt mir ein elektronisches Schild am Straßenrand, dass ich gerade 11 km/Std. laufe. Eigentlich zu schnell, aber für einen Strafzettel, Gott sei Dank, langsam genug. Rasch im Vorbeilaufen mein Tuch in den Brunnen getaucht.

Public Viewing in der Fußgängerzone (470 Höhenmeter)

Über einige Treppen habe ich die Vaduzer Innenstadt erreicht. Meine Beine spüren die bereits zurückgelegten zehn Kilometer nicht. Der Samstagvormittag ist Einkaufstag. Es geht vorbei an der „Black Box“, dem dreißig Millionen Schweizer Franken teuren Kunstmuseum, in der auch der Fürst regelmäßig seine privat gesammelte Kunst, darunter auch Rubens, dem Volke vorführt. Direkt daneben liegt eine aus Bronze gegossene Unbekleidete auf dem Rücken. Einige hundert Meter oberhalb, auf einem Felsplateau, thront der Fürst. Von einem seiner Fenster des Schosses könnte er direkt auf das Kunstwerk bzw. den nackten Busen der mächtigen Dame blicken. Einen Straßenzug weiter kauft die liechtensteinische Hautevolee, derer von und zu Liechtenstein ein.

In das Vaduzer Idyll ist Bewegung gekommen. In betont legerem und verschwitztem Outfit laufe ich mitten durch die Fußgängerzone. Die „Stadtleut“ tragen Glitzertäschchen oder Designertüten. Vom Postkartenständer grüßt das Fürstenpaar. Eine blonde Dame mit einem kleinen Hund unter den Achseln und Lippen, rot und mächtig wie meine Oberarme, schüttelt beim Anblick der Sportler fassungslos den Kopf.

Aber wo steckt denn Liechtensteins Jugend, wurde die von ihren Eltern etwa ins Ausland geschickt? Die Stadt gleicht einer endlos anmutenden Aneinanderreihung von Geschäften und Boutiquen. Rado, Rolex und Mountblanc. Immobilienhändler stellen Wohnungen und Häuser aus. Der Preis? Auf Anfrage! Restaurants mit Gault Milau Hauben und Michelin-Sternen. Ich meine aber auch ein Durchschnittrestaurant erkannt zu haben. Auf der Werbetafel steht mit Kreide geschrieben: Fitness-Salat „Banker-Lunch“ für 23,50 CHF und die Spagetti mit Tomatensoße für 24,50 CHF.

Die vielen großen und kleinen Banken haben heute geschlossen. Auf einem anderen Schild lese ich: „Samstag verkaufsoffen“. Funktionales Geschäftsambiente eben. Die Geschichte ist mit dem Ort Vaduz nicht zimperlich umgesprungen. Wer weiß, vielleicht genau hier, wo heute die Public Viewing Zone zur Fußballweltmeisterschaft aufgebaut ist und ich über den blauen Mizuno-Teppich laufe, brannten im 16. Jahrhundert die Scheiterhaufen. Es müssen viele gewesen sein. Gilt Vaduz doch weltweit als Zentrum der Hexenverbrennung. Zehn Prozent der Bevölkerung starben auf Scheiterhaufen oder/und erlitten schrecklichste Folter. Oft waren es die Verwandten oder die direkten Nachbarn, die einen anzeigten. Da reichte es schon aus, zu lange und mit schlechtgelaunten Blick auf die Nachbarskuh zu schauen. Wenn diese dann am nächsten Tag weniger Milch gab als sonst, konnte dies schon das Todesurteil bedeutet haben.

Nichts davon droht mir glücklicherweise, nur weil ich gerade den Läufer neben mir überhole. Fröhlichen Blickes laufe ich also weiter in das Beckgässli über die erste Zeitmessmatte bei etwa zehneinhalb Kilometern und einer Zeit von 0:57:05 – für mich reicht es. Länger als 1:10 darf keiner benötigen.

„Best of the World 2014“

Auch Paulo Coelho zog es hierher. Der Bestsellerautor holte sich so manch Inspiration vom Ort im Schatten des Vaduzer Schlosses und genau dort hoch führt mich nun die Strecke. Dabei fängt am Eingang alles noch ganz harmlos an. Dann wird es härter. Direkt nach der Zone für Fußgänger ändert sich die Topografie. Schritt für Schritt entziehen wir uns der Stadthitze. Erst jetzt ist es hügelig. Nicht ganz so bequem gestalten sich die nächsten Meter. Ich schaue auf. Rechts von mir das markante Giebelhaus mit der dunkelroten Farbe ist unverkennbar. Laut Reiseführer bereits erstmals 1338 erwähnt. Die vor Liechtenstein liegenden Voralberger- und Schweizer Gebirgsketten sind es übrigens, die das Fürstentum vor polaren und atlantischen Kalteinflüssen schützen. Daher gedeihen das Obst auf den Streuwiesen und der Wein an den Hängen so gut. Liechtenstein hat eine lange Weinbautradition. Der Wein gilt als ein Exot auf dem Weinmarkt. Man sagt, sie würden ihn am liebsten für sich behalten.

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Dann ändert sich die Perspektive. Verwegen thront die Burg über die Landeshauptstadt Vaduz, der Residenz des Fürsten – das berühmte Wahrzeichen Liechtensteins. Dieses Motiv hat es auf die Titelseite des Magazins National Geographic Traveler gebracht. Das Magazin bewertete den kleinen Alpenstaat Liechtenstein als ‚Best of the World 2014“. Somit zählt das kleine Land zu den Reisezielen, welche man einmal besucht haben sollte.

Erst 1938 zogen die von und zu Liechtensteins in das schöne und über 700 Jahre alte Gemäuer. Bedauerlicherweise ist vom Erbprinzen Alois nichts zu sehen. Vorvorgestern hatte er Geburtstag und jetzt, wo ich schon mal hier oben bin, hätte ich ihm doch gerne persönlich gratuliert und mich auch bei ihm bedankt. Seine Familie ist nicht nur die älteste sondern auch die reichste Monarchie Europas: Ihre Bank, die Liechtenstein Global Trust (LGT), ist seit über achtzig Jahren im Familienbesitz und soll um die hundert Milliarden Schweizer Franken verwalten.

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Das Fürstentum wurde mit der höchsten Auszeichnung „Triple AAA“ geratet. Die LGT ist der Hauptsponsor des Alpin Marathons. Darüber hinaus unterstützt die Bank auch Kultur- und weitere Sportveranstaltungen sowie Sportler. Die Mitarbeiter bekommen Möglichkeiten zum gemeinsamen Training. Fast dreißig von ihnen sind heute mit auf der Strecke.

Wie eine Raupe am Stilfser Joch

Kurz nachdem ich das Schloss Vaduz hinter mir gelassen habe, führt die Strecke noch steiler in den Wald. „Waldiweg“ nennen die das hier. Das habe ich inzwischen gelernt, wenn etwas verniedlicht wird, dann wird es hart. Und nun geht es wirklich in die Höhe, rauf zu den Sommeralpen.

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Wir folgen schwitzend einer Raupe gleich den Serpentinen die sich höher und höher winden. Ein Blick zurück zeigt wie hoch ich schon bin und wer noch alles hinter mir liegt. Das beruhigt. Dennoch, immer ist was: Jetzt sind es meine beiden Hände, die geschwollen sind wie aufgeblasene Hygienehandschuhe oder wie die Euter der Kühe, an denen ich nun vorbeigehe. Ich bleibe einen Moment am Aussichtplateau stehen.

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Was für ein kitschig schöner Blick hinunter ins Rheintal. Auch andere Genießer schätzen diesen Ausblick. Ich stelle fest, manche Menschen wohnen einfach schön. Auf dem weiteren Weg führt übrigens noch immer mit 15 % Steigung, die Strecke am Berggasthof Masescha vorbei. Abseits der Straße wird die Stecke flacher und man sollte nun wieder rennen. Leichter gesagt als getan, nach über einer Stunde des ständigen Bergauflaufens. Und schon ist der Spaß auch wieder vorbei und führt nun weiter auf einen im Zickzack bergauf steigenden Weg.

1.170 Höhenmeter – WalserSagenWeg

Wie mystische Zauberwesen aus einer fremden Welt wirken die Holzfiguren zwischen den alten Bäumen des WalserSagenWeges. Die Streckenführung treibt uns höher in die Berge. Dort kann binnen einer Stunde die Temperatur um zwanzig Grad fallen – wo eben noch die Sonne scheint, folgen Regen im schlimmsten Falle Schnee. Heute wissen wir, oder sollten es zumindest wissen, auf was wir uns einlassen, wenn wir in die Berge laufen. Leinen- und Lederkleidung statt Goretex und andere Membranen. Für die ersten Sommerfrischler, heute Flip-Flop-Touristen, kam der Wetterumsturz unerwartet und endete nicht selten tödlich. Selbst beim besten Wetter stießen, damals wie heute, viele an ihre Leistungsgrenze. Wetterkreuze zum Schutz gegen Unwetter aufzustellen ist seit dem Mittelalter als Brauch bezeugt.

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Auch heute noch sieht man sie zahlreich an Feld- und Wegkreuzen überall in der Landschaft. Sichtbar am Haus und Hof befestigt, stellte man sein Hab und Gut unter Gottes Schutz. Weniger Schutz bot die Armee. Im 18. Jahrhundert rekrutierte der Fürst für sein Land ganze fünf Fußsoldaten und immerhin auch noch einen halben Kavalleristen. Das aber auch nur auf den Befehl des deutschen Kaisers, der dies als Lehnherr befahl, was dem Fürsten gerade einmal egal war. So hat bis heute Liechtenstein, neben Island, Andorra und Monaco, keine eigene Armee.

1.469 Höhenmeter – Gasthof Silum

Die aufziehenden Nebelwolken machen alles noch ruhiger. Licht und Schatten wechseln sich ab. Die im Viereck angelegten Holzhäuserreihen der alten Walsersiedlungen Gross- und Kleinsteg, die nur dank Denkmalschutz bis heute erhalten sind, schälen sich aus dem Weiß, so gespenstisch, dass ich mir zu diesem Wetter gratuliere. Über einen schmalen Almweg am Kulmgrat führt die Strecke sehr schmal weiter angenehm abwärts, ein Überholen ist kaum möglich.

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An dem typischen Abdruck und der Größe erkennt man, dass hier erst kürzlich noch ein Läufer in eine stolze Portion Kuhdung gelaufen ist. Die Grundstücke außerhalb der Häuser sind, so erfahre ich, Gemeindebesitz, während im inneren des Karres das Grundstück Privatbesitz ist. Das Heu für das Vieh war früher jedoch über das komplette Gemeindegebiet verteilt und das Vieh wurde im Winter von Stall zu Stall gezogen, um das im Sommer eingebrachte Heu zu verfüttern. Manch eine rauchdunkle Almhütte kann gemietet werden. Die hölzernen Herzen und Wappen, die einst die Tiere beim Almauf- und -abtrieb zierten, zieren heute die Hauswände – Tradition, die langsam verwittert.

Auf 884 Höhenmetern ist der malerische türkisblaue Stausee Steg erreicht. Schneebedeckte Berge spiegeln sich in ihm. Toll muss das sein, im Winter, bei Flutlicht auf der über fünfzehn kilometerlangen Loipe um den See zu skaten.

Mittagspause für die fürstlichen Wiederkäuer

Idyllisch zwischen den Wiesenhängen verteilt liegen die hellbeigen Kühe wie Kuscheltiere. Bilde ich mir das ein, oder blicken die etwa arrogant zu mir herunter? Noch langsamer wie ich gehe, trottet eine bimmelnde Kuh neben mir her – ihr Euter ist gut gefüllt und prall wie ein Fußball, erschwerte Bedingungen, um mit mir das Rennen aufzunehmen.

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Bunte Wildblumen satt. Schmetterlingsfänger und Blütenpresser kämen hier auf ihre Kosten. „Ahhh, ist das schön“, sagt eine Läuferin neben mir und spricht das aus, was ich gerade denke. Über den Malbunbach laufe ich an der hübschen kleinen Kapelle beim Steg vorbei. Dieses landschaftliche Schmuckstück ist den Bauernheiligen St. Wendeling und St. Martin geweiht, Behüter von Mensch und Vieh.

Teamplayer

Nun bin ich auf 1301 Höhenmeter in Steg. Die LGT HalbmarathonPLUS Läufer sind im Ziel, für mich ist es nur eine Zwischenstation. Staffelläufer übergeben die „elektronische Fußfessel“ mit dem Chip am Klettband rasch an ihre(n) Partnerläufer(in). Wer sich noch nicht wagt, oder sich nach einer Verletzung noch nicht an die volle Marathonstrecke traut, für den ist der Staffelwettbewerb genau richtig. Denn zwei Sportler teilen sich die komplette Strecke. Achtundfünfzig Staffelpaare (Damen, Herren, Mix) probieren es aus.

Darunter die Liechtensteiner Ex-Skirennläuferin Marina Nigg die unter dem Teamnamen „Geschwister Team Nigg“ die Fußfessel von ihrem Bruder Rico übernimmt. 1:52:11 Stunden. Rico hat auf dem ersten fünfundzwanzig Kilometern richtig Druck gemacht. Marina übernimmt die letzten, nicht weniger anstrengenden, siebzehn Kilometer bis ins Ziel von Malburn. Sie steht ein wenig unter familiären Leistungsdruck. In einem Interview bei Radio Liechtenstein sagte sie: „Wenn ich langsam luufe, dann regt er (der Bruder) sich uff“.

In Steg liegt die Wiege des Skilaufs in Liechtenstein. 1950 zieht der erste private Skilift die Wintersportler hoch auf die verschneiten Almen. So eine bequeme Aufstiegshilfe käme mir jetzt irgendwie auch gelegen. Denn kurz nach dem ich aus dem Blickfeld der vielen Zuschauer laufe, muss ich auch schon wieder gehen. So steil nach oben führt der Weg. Was mich schon wieder an Wintersport erinnert.

Der Skisport in Lichtenstein kam nämlich schon vor 1900 auf, als eine der ersten Sportarten überhaupt. Ab 1932 wurde es schon professioneller. Die touristische Entdeckung der Alpen begann. Zu Beginn der 1930er Jahre kamen die Gäste überwiegend aus der Schweiz und Süddeutschland mit den ersten Reisebussen. Die Fahrt endete in Triesenberg, von dort übernahmen „Träger“, dies waren überwiegend junge Bauern aus dem Ort, den Gepäcktransport bis hoch nach Malbun. Für die Malbuner Gäste wird ein Ski- und Tourenführer aus Lech engagiert. Ebenfalls aus Österreich kam auch der erste Olympia-Trainer Liechtensteins, das war im Winter 1935/1936.

Zwei Kilometer geht es gleichmäßig und sachte aufwärts. Meine Gedanken driften ab.

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Ich denke an vergangenen Mittwochabend, als ich mit fünfzig Arbeitskollegen zwischen Hochhäusern am Start des Chase Lauf stand. Gemeinsam mit 71.735 schwitzenden Läufern komme ich immerhin unverletzt nach 5,6 Kilometer durch die Straßen der Frankfurter City ins Ziel. Und jetzt? Ich schaue auf blühende Almen hinab. Pusteblumen, gelbe Butterblumen, blaue Glockenblumen und blauer Enzian, dazwischen der rote Mohn.

Gleichmäßig sind die Schritte der Läufer vor und hinter mir. Niemand spricht, wir kommen langsam, aber gut voran. Unbemerkt hat mich Robert, ihr wisst schon, das 39er Baujahr, überholt.

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Am Sassförkle auf 1771 Höhenmetern ist bei Kilometer 34 der höchste Punkt des Marathons erreicht. Ich bin umgeben von Zweitausendern: Ochsenkopf, Sareiserjoch, Augstenberg und dem höchsten Berg Liechtensteins, dem Gamsgrat.

Lustkurven

Die Werbung spricht von „Lustkurven“ und meint damit den Abfahrtsgenuss beim Wintersport. Nur noch sechs Kilometer bis ins Ziel, welches ich von hier schon sehen und besonders gut hören kann. 4:58 Stunden, die „Heidiland Runners“ sind im Ziel, hallt Röbis Stimme durch das Mikrofon bis hier oben rauf. Namen für Namen schallen durch die Landschaft – im Sekundentakt. Mit Liechtensteiner, oder soll ich sagen, deutscher Präzession läuft Didi Walter, der 5 Stunden Pacemaker, nach genau 4:59:56 Stunden(!) ins Ziel. Fünf Stunden und nur noch vier Kilometer bis ins Ziel – so kann es laufen denke ich und freue mich.

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Durch die Freude, bald das Ziel zu erreichen, werde ich belebt und verdopple meine Schritte. Es ist, als sehe ich ein kleines Licht am Ende des Marathontunnels – fast am Ziel. Aber oh weh! Wie kann man sich täuschen. Am gegenüberliegenden Hang erkenne ich bunte Läuferpunkte, die nicht wirklich schnell vorwärts kommen. „Rodelbahn, Fußgänger rechts gehen“ steht auf einem Schild. Ich kann es nicht glauben, da sollen wir noch hoch und da sollen wir noch rum. „Nee, echt jetzt?“

Jetzt wird mir klar: Der Panoramarundweg wird zur Endlosschleife! Ich passe mich dem neuen Tempo an und werde auf wundersame Weise beruhigt. „Maaarrcoooo Büüüchellll“ (ihr wisst schon, der Rennläufer) ist im Ziel, hallt es mir entgegen. Ich schaue auf die Uhr: Knapp über 5:30 Stunden. Cool! Da liege ich doch gar nicht so schlecht im Rennen – nur noch schlappe zwei Kilometer und ein Teil davon tatsächlich auch nochmal bergab ins Bergdorf Malbun.

Einkehrschwung

Alle Skipisten führen in das einstige kleine Bergdorf. Verlassene, mechanische Aufstiegshilfen in Form von Sechsersessel-Liften stehen am Hang, schaufeln die sportlichen Wintersportler von November bis in den April auf die Zweitausender. Die Windhauben und die angenehm warmen Poheizungen schützen dann die Outdoorsportler vor den Stürmen der Natur am Berg und letztlich auch vor Erfrierungen – zumindest solange sie sitzen. In den Sechzigerjahren sprossen die Hotels wie Pilze aus dem Boden, heute sind dies meist familienfreundliche Hotels – für den verwöhnten Sprössling gibt es vorgeschmierte Butterbrote.

Dennoch ist Malbun übersichtlich. Zwischen Chalets und Matratzenlager, zwischen alpenländischen Bauernhäusern und prächtigen Villen. Für Alpin- und Langläufer, für Snowboarder und Rodler. Von weitem sehe ich den fürstlichen Zielbogen am traditionsreichen roten Alpen Hotel Malbun von 1908 – Halbpension für 7,50 Franken – aber das ist lange her, sehr lange. „Aaaandreaaa Hellllmuth aus Deutschland, hallt es hinter mir. Nach 5:46 Stunden bin auch ich im Ziel.

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Was passt besser zu einem fürstlichen Lauf, als eine funkelnde Kristallfigur vom Co-Sponsor Swarovski. Die limitierte, vier Zentimeter kleine Luxus-Kuh mit Glocke und Hörnern kommt jedes Jahr mit einem neuen Outfit anstelle einer Medaille in die Finisher-Tüte. „Disco Mo“ heißt das diesjährige verspielte Sammlerobjekt der „Lovlots“. Wer also im nächsten Jahr neben dem Funktions-Shirt vielleicht die „Soccer Champion Cow“ in der Tüte finden möchte, sollte starten und finishen. Ich drücke die Daumen.

Wer weiß, vielleicht haben wir diese ausgefallene Auszeichnung Ihrer Königlichen Hoheit, der Erbprinzessin Sophie, zu verdanken, die wie ich hörte, gerne bei Swarovski einkauft.

Zwei Wochen nach meinem Lauf im Großherzogtum Luxemburg konnte ich nun auch das Fürstentum Liechtenstein kennenlernen. Ich sitze auf der Sonnenterrasse eines kleinen Restaurants. Um mich herum eine Gebirgskulisse, hinter der die Sonne versinkt. Vor mir auf dem Tisch Reiseführer, Broschüren und eine Flasche Wein mit fürstlichem Etikett.

Angeblich trifft hier jeder auf jeden. Den Fürsten jedenfalls habe ich heute nicht mehr getroffen. Dafür jede Menge anderer netter Leute. Leider wird es Zeit für mich aufzubrechen, denn: BAUERN, DIE ZU WEIHNACHTEN NOCH IN MALBUN SIND, BEKOMMEN ES, so will es die Legende, MIT DEN BÖSEN GEISTERN ZU TUN. Ich bin zwar kein Bauer, aber das Schicksal will ich lieber nicht herausfordern.

Gesamtzeit/Höhenmeter/Streckenprofil für den Marathon: Sollzeit 7 Stunden/Steigung 1.870 HM, Gefälle 720 HM/Punkt-zu-Punkt-Strecke

Anreise: Auf der A 96 nach Österreich durch den Pfändertunnel. Weiter über Feldkirch nach Liechtenstein. Das Autobahnnetz von Liechtenstein hat 0 Kilometer Autobahn. Zweimal in der Woche donnert der „Orient-Express“ auf der neun Kilometer kurzen Bahnstrecke auf seinem Weg zwischen Venedig und London durch das Land. Es gibt keinen Bahnhof und keinen Flughafen. Die nächsten Flughäfen befinden sich in Zürich oder München.

Währung: Schweizer Franken. Der Euro wird in der Regel akzeptiert.

Internet: www.tourismus.li, www.liechtenstein.li

Übernachtungstipp: www.turna.li Neu renoviertes Hotel mit großen Zimmern (bis fünf Personen) direkt am Ziel, Sauna, Schwimmbad und ab 5:30 Uhr bereits großes Frühstücksbuffet.

Wettbewerbe: Neben dem Marathon wird ein Staffelmarathon (25 km und 17 km)
sowie einen Halbmarathon Plus von 25 km angeboten. Neu dabei der 33M-Cup. 33M bedeutet, drei Länder, drei Monate, drei Marathons – eine Wertung. Dabei handelt es sich um den LGT Alpin Marathon Liechtenstein, den Zermatt Marathon und dem Allgäu Panorama Marathon.

Temperatur: 20°C

Verpflegung: Wasser, Competition „Orange“, Long Energy „Citrus“, Energieriegel, Liquid Sachet, Bouillon, Cola, Bananen, Orangen, Brot

Ergebnisse gesamt Männer:
1. Stefan Hubert, Jahrgang 1986, CH-Bad Ragaz 3:07.57,3h
2. Ralf Birchmeier, Jahrgang 1982, CH-Buchs SG 3:13.59,9h
3. Arnold Aemisegger, Jahrgang 1976, FL-Triesenberg 3:15.32,6h

Ergebnisse gesamt Frauen:
1. Jasmin Nunige, Jahrgang 1973, CH-Davos Platz 3:40.55,3h
2. Lea Bäuscher, Jahrgang 1982, D-Friedberg 3:45.15,5h
3. Michelle Maier, Jahrgang 1989, Deutschland 3:45.44,3h

Finisher (Marathon): 517 gesamt, 421 Männer, 96 Frauen

Angemerkt: Shuttlebusse

Resümee: Ideal um die alpine Landschaft aus halber Höhe zwischen Gipfel und Tal zu durchqueren und die richtige Jahreszeit um die Bergblumenblüte zu erleben.