Azores Columbus Trail Run 2016
Insel, die aus Träumen geboren
„Ich bleib hier!“, sagt Natascha entschlossen und fährt sich dabei mit der Hand über das angeschlagene Schienbein. Die kleine Kapelle von Anjos ist wie ein Wartezimmer zwischen Gestern und Morgen. 1493 gab auf es auf der kleinen Insel mitten im Atlantik nichts Großes, nur raue Winde, Fischer und die Angst vor Piraten. Draußen tobt der Wind um die Statue von Christoph Kolumbus. Standfest als wäre allein er Herr der Lage. Innerhalb des alten Gemäuers könnten wir ewig bleiben und zurückblicken.
„Lust auf einen Spaziergang in der freien Natur?“, frage ich meine Tochter etwa eine Woche vor unserer Abreise auf die Azoren. Ich verspreche ihr einen Abenteuerspielplatz und mehr als einen lockeren Dauerlauf. Uns trennen üblicherweise 600km und Nataschas Trainings-Terrain beschränkt sich auf die urbanen Trails von Berlin. Es wird Zeit, dass sich das ändert. Kurzentschlossen sagt sie zu.
Dann ist es soweit: Wind fährt uns in die Haare, wir sind berauscht von der salzigen Meeresluft, es ist wie Sturzlüften für Herz und Hirn; so als wären wir aus dem Winterschlaf erwacht. An der Südküste der Insel Santa Maria, hinter den trutzigen Mauern der Festungsanlage Sáo Brás mit einer Aussicht über Hafen und Meer, ist gerade der 1. Columbus Trail Run gestartet.
Die Zuschauer auf dem gegenüberliegenden Hang peitschen uns Läufer begeistert an; beobachtet durch Ferngläser, wie die Spitze mit irrsinniger Geschwindigkeit durch eine schmale, von Felswänden flankierte Rinne Richtung Osten rast – dort wo sonst jeder Sonnenaufgang in großer Stille geschieht.
Es geht hoch, kurz und steil. So geht es Schlag auf Schlag. Das Temperament geht mit uns durch. Dennoch, bald trennen uns Längen von den Schnellsten und unsere anfängliche Euphorie wird auf ein Normalmaß kalibriert. Dann als die Spitze der Läufer als winzige Farbtupfer aus unserem Blickfeld entrücken, kehrt Ruhe und Rhythmus in das Mutter-Tochter-Duo ein.
Weit im Westen liegt New York. Natascha zeigt aufs Meer hinaus. Im Osten Portugal – und wir sind mittendrin, ist das nicht verrückt? Ich Summe still vor mich hin „…Insel, die aus Träumen geboren…“. Ausgelassen springen und klettern wir über ein von der Brandung überspültes Felsplateau.
Das Herz pumpt schnell und angestrengt, ja es scheint Feuer gefangen zu haben „…Fieber, das wie Feuer brennt…“. Wir laufen weiter über alte steinige Verbindungswege. Diese urtümlichen Pfade waren Jahrzehnte unter Gestrüpp verschwunden. Bäume, halb entwurzelt, legen ihre langen Zweige über karge Böden. Die Wege zwischen den winzigen Dörfern sind weit und führen mal über Farmerstraßen, einer surreal erscheinende roten Wüste Barreiro da Faneca und über Weideflächen, die nur durch Zäune oder Tore unterbrochen werden. Die Azoren waren lange Zeit isoliert. Es ist als ob ein Schleier diese Insel überzogen hatte. Und es ist immer noch so. Die Strecke führt entlang des Wasserfalls Cascata do Aveiro, der sich von 110 Metern Höhe herunter in die Tiefe stürzt.
Natascha zögert. So etwas muss man sich trauen. Aber Spaß macht es dann irgendwie doch. Vor allem, wenn man sicher auf der anderen Seite ist. Aber die Aussicht ist phantastisch. Wiederholt beteuern wir wie großartig unser Insel-Abenteuer doch ist. Erinnerungen, die bleiben. Am Horizont ist wieder ein Etappenziel zu sehen, hier etwa der an einem steilen, exponierten Felsen thronende Gonçalo Velho Leuchtturm.
Das Besondere aber an Santa Maria sind immer wieder die Begegnungen. Zwei Azorer, ihre Gesichter von Wind und Wetter gegerbt, lächeln zufrieden. Alltag ist andernorts. Termine scheinen für die beiden keine Rolle zu spielen. Die Mittagssonne lässt das weiße Fell der Kühe kontrastreich gegen das saftig grün der Wiese leuchten.
Ich frage mich, ob diese saftigen Wiesen der Grund dafür sind, dass die Kuhfladen so gigantisch sind. Mit ihren Knopfaugen schauen sie uns fragend hinterher; für die Wiederkäuer sind wir eine flüchtige Abwechslung auf ihrer wenig berührten Insel. Könnte so das Paradies aussehen? Das Zeitlimit ist großzügig und so verfliegen die Stunden ohne auch nur ein einziges nörgelndes „sind wir bald da?“ vom Nachwuchs. Stoppen kann sie jetzt nur der Hunger.
Während ich ihr das Trinkwasser in den Rucksack fülle, strahlt meine zierliche Tochter glücklich über den maßlosen Schokoladengenuss! Unsere salzigen und roten Gesichter verraten die Anstrengung auch beim Abstieg auf der bereits von Wildwuchs eroberten schmalen Treppe durch von Basaltsteinmauern gesäumte alte Weingärten zur Bucht Sáo Lourenço hinunter.
Über Felsen, wo sich sonst nur die Agaven in die Spalten krallen, klettern wir auf allen Vieren die steilen Hänge wieder hinauf. Es ist mühsam. Ein Triumphbogen weist den Weg ins Ziel. Wann haben wir zum letzten Mal beim Laufen so gelacht? Jäh platzt die Endlosstrophe, die mich seit Stunden fast in den Wahnsinn trieb aus mir heraus: „Santa Maria, Insel die aus Träumen geboren …“,„Bitte nicht“, fleht Natascha. „… Glück für das man keinen Namen kennt …“.
Andera’s Beitrag zu diesem Marathonlauf ist in Ausgabe 5/2016 (Nr. 175) des „Running“-Laufmagazins erschienen. Erhältlich am Kiosk und im Zeitschriftenhandel.