Andrea Helmuth

Andrea Helmuth

Azores Trail Run 2014

Born to be wild

 

„Freitag schön, Samstag schön, Sonntag noch schöner. Verantwortlich dafür ist Hoch „Guido“, das sich von den Azoren ausbreitet und am Wochenende Deutschland erreicht“, sagt der Diplom-Meteorologe am Ende der Nachrichten. Die Entscheidung fällt sofort. Da will ich hin, zum meteorologischen Laboratorium. Dort, wo das schöne Wetter für uns gemacht wird und wo es gleichzeitig weit im Norden, Schiffen auf hoher See das Leben zur Hölle machen kann. Dort, wo die Naturgewalten toben, der Atlantik seine Stürme ausbrütet und Vulkane kochen.

 

 

 

„Beam me up, Scotty!“ Mithilfe von Google Earth zoome ich mich in rasender Geschwindigkeit vom Weltall hinab auf den Globus. Je näher ich komme, desto deutlicher werden die Konturen. Am Ende des Bremsweges finde ich mich gut versteckt, wenn auch mit einer neonfarbenen Rettungsweste, in den Weiten des schwarzblauen Nordatlantik zwischen Europa und Amerika wieder. Das Meer ist sehr tief. Ich bin umgeben von spiellustigen Delphinen, Walen die auf der Durchreise sind und fünfzehn weiteren Rettungswesten. Weit unter unserem knallroten Gummiboot tummeln sich weit mehr als fünfhundert Fischarten.

Der Vulkanismus formte diese besondere Unterwasser-Topografie. Für die Meerestiere bedeutet das Nahrung im Überfluss. Noch bis 1982 wurde hier der Pottwal gejagt von Azorischen „Whalers“, wie sie Herman Melville in „Moby Dick“ beschreibt. Es fällt mir nicht schwer, mir diese Zeiten vorzustellen. Den Walfängern von Faial und Pico sagte man Ehrlichkeit, Bescheidenheit und besonders Tapferkeit nach. Die Enkel dieser Männer, die den blutigen Kampf gegen die Macht einer entfesselten Natur, gegen Kälte und Sturm auf sich nahmen, nennen sich heute „Whale watcher“ und sind gemeinsam mit mir auf einer unblutigen Fotojagd. Die Möglichkeit, die Vielzahl der mächtigen Meeressäuger aus nächster Nähe zu sehen, sucht weltweit ihresgleichen.

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Insel der Weltumsegler

Was das mit Trail-Laufen zu tun hat? Ich verrate euch die neuste Entdeckung. Denn „…das Schönste, das wir entdecken können, ist das Geheimnisvolle“, wusste schon Albert Einstein. Einen Klecks auf dem Globus zu finden, zu dem nicht sofort ein Bild im Kopf aufsteigt, ist kaum mehr möglich. Auf der Suche nach den letzten echten Paradiesen der Erde und nicht nach Inselzielen aus dem Hochglanzkatalog, ehrte das amerikanische Magazin „National Geographic Traveller“ das Archipel vor kurzem zur zweitschönsten Inselgruppe der Welt (!). Die Insel Faial gehört zu Portugal und wurde bislang vom Massentourismus verschont. Ein Paradies für Naturliebhaber und Individualisten. Das „Whale watching“ ist im Grunde das meditative Eintauchen in eine andere Welt. Weit draußen auf dem Meer beginne ich zu erahnen, was mich erwartet:

Der westlichste Trail Run Europas

Trotz des leichten kühlen Windes am frühen Morgen stehen Mário Leal die Schweißperlen auf der gebräunten Stirn. Mit so vielen Laufverrückten hat der auf der Insel lebende Veranstalter, der selbst Trail-Läufer ist, für seine erste Austragung des Laufes nicht gerechnet. Erst im Februar hatte Mário die Ausschreibung auf Facebook gepostet und innerhalb von drei Monaten drückten zehntausend User den „Like“-Button.

Die Vision von einem Ultra-Trail Run hatte der 39jährige sympathische Azorer bereits 2011. Die abgelegenen Ebenen, die freundlichen Bewohner und die Typographie Faials bieten einfach die ideale Umgebung für einen Trail-Lauf der Extraklasse. Ob Streckenlänge (48 oder 21 Kilometer) oder Schwierigkeitsgrad, ob Genussläufer oder Extremtrailer. Dieses neue Ereignis und die anwesenden Stars der Ultra Trail Szene ziehen die Medien an und jeder möchte und bekommt sein Interview.

Carlos Sá (Sieger Badwater und UTMB), Telmo Veloso, Armando Teixeira (Portugal), Mirko Righele (Italien), Sebastien Nain (der sympathischste Franzose, den ich je getroffen habe) und Daniel Calleja (Spanien) werden starten. Auch Anna Frost ist dabei. Die Weltenbummlerin und Lebenskünstlerin ist bekannt als Spezialistin im Berglauf und bei Salomon unter Vertrag. Ich kenne die unkomplizierte (1981 geborene) Neuseeländerin von den 4Trails. Sie hat die Brücken hinter sich abgebrochen, lebt heute in einem kleinen Van, um unabhängig zu sein. Sie lebt ihre Leidenschaft – das Laufen und das Reisen. Wer träumt nicht davon? Auf den Azoren ist sie, wie auch ich, zum ersten Mal.

Gewaltige Urkräfte formten einst den Archipel. Diagonal führt der Streckenverlauf von Küste zu Küste durch 450 Millionen Jahre altes Gebiet, über teils uralten Transportwegen, rauf zum Cabeço Gordo, dem mit 1.043 Metern über N.N. höchsten Gipfel der Insel und um den wildromantischen Kraterkessel herum bis hin zum erst vor 57 Jahre entstandenen jüngsten Fleckchen Portugals, dem erloschenen Vulkan von Capelinhos. Faial ist die fünftgrößte der neun Azoreninseln und liegt im Zentrum des Archipels. Ihr nächster Nachbar ist die gerade einmal neun Kilometer entfernte Insel Pico, deren gleichnamiger Berg heute zum Greifen nah scheint. Jedes Jahr gehen tausende von Atlantiküberquerer wie einst Kolumbus im Hafen von Horta zu einem Zwischenstopp vor Anker. Dort malen sie farbig den Beton der Mole an.

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Die Ruhe vor dem Sturm

Noch müde krame ich in meinem Rucksack und schaue aus dem Fenster des voll besetzten Reisebusses, der uns vom Race-Hotel an den Start in dem kleinen Ort Ribeirinha bringt. Draußen Sonnenschein und blauer Himmel. Vereinzelt sind Auswanderer(wohn)träume zu verkaufen; „a venda“ darunter eine Telefonnummer – ich notiere sie nicht.

Ruhig ist die Stimmung in der Gruppe von Outdoor-Enthusiasten. Mein Rucksack ist schwer. Trotz des angekündigten schönen Wetters und den Verpflegungsmöglichkeiten habe ich ihn gefüllt mit Regenjacke, Wasser, Riegeln, Gels und meinem Handy für den Notfall. Ist das die berühmte Ruhe vor dem Sturm? Abenteuerliche Visionen für einen Lauf der ungewöhnlichen Art bestärken meine Vorfreude. Nur Mário weiß, was uns erwartet.

Lauf auf dem Vulkan

Es ist 9:00 Uhr, wir sind gestartet. Sofort zieht mich die Natur in ihren Bann. Im Herbst 1957 wurde die Insel Faial von hunderten Erdstößen gerüttelt. Den Osten der Insel hat es hierbei besonders stark getroffen. 1998 erschüttert nochmals ein weiteres schweres Erdbeben den Osten der Insel Faial. Die Bewohner wurden nachts von dem Erdbeben der Stärke 5,8 auf der Richterskala überrascht. Acht Menschen starben, über 1000 wurden obdachlos, es gab viele Verletzte und mehrere hundert Häuser waren binnen Minuten zerstört. Die schweren Schäden an vielen Häusern sind bis heute zu erkennen. Die milde Temperatur zieht kleine Stratocumulus-Wölkchen am hellblauen Himmel entlang. Nur der auf 2.351 Metern gelegene Pico schämt sich scheinbar noch und versteckt sich im Nebel. Über ein schmales asphaltiertes Sträßchen laufen wir nur ein kurzes Stück bevor die Strecke uns inmitten des Naturparks Faial führt. Diese wurde erst kürzlich von der Europäischen Union zur European Destination of Excellence (EDEN) gekürt.

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Vorbei geht es an Häusern aus schwarzem Lavasteinen, die Meereswellen donnern gegen ihre Klippen. Ich habe die Küstenstraße verlassen. Über alte Dorfverbindungswege führen in die Erde geschlagenen Stufen steil hinauf. Auf verschütteten Wegen, markiert mit an Bambusstangen befestigten Schildern und Flatterbändern, wo einst Esel oder Ochsenkarren Güter in die nächsten Dörfer gezogen haben, laufen wir entlang.

Rua dos Emigrantes

Ich treffe auf ein anscheinend verliebtes Paar. Immer wieder halten sie sich an den Händen, vielleicht zieht er sie aber auch nur? Er, so erzählt er mir, stamme aus Porto (Lissabon). Sie sei hier aufgewachsen, aber das sei schon viele Jahre her. Viele verließen die Insel. Sie alle haben ihre Geschichten. Auf Faial sollen heute mehr Kühe leben als Menschen und auf jeder Insel der Azoren gibt es eine Rua dos Emigrantes, eine Straße der Auswanderer. Die letzte große Auswandererwelle war in den Jahren 1957/58, als mächtige Vulkanaktivitäten dreizehn Monate lang tobten. Von den einst 30.000 Bewohnern blieben noch 15.000. Die meisten von ihnen emigrierten in das nicht weitentfernte Amerika. Manche kommen aber zurück, und sei es nur zu Besuch oder als Touristen. So manch einer Immobilie sieht man an, ob sein Besitzer gerade aus dem Ausland zurückgekehrt ist. Das Haus hat dann eine typisch amerikanische Veranda und einen Carport.

Über eine Wiese führen die Pfeile geradewegs auf den einstigen zwanzig Meter hohe Leuchtturm – das Skelett an der Ponta do Ribeirinha, welcher vom 1998er Erdbeben übrig geblieben ist. Große und noch viel mehr kleine Risse ziehen sich durch das verbliebene Mauerwerk. Schilder warnen vor Einsturzgefahr.

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Inselcross

Der Weg wird dichter. Nur ein Pfad ist freigeschlagen, es sieht es aus, als hätte Gott sich mit der Axt ausgetobt. Am Weg steht einer von vielen Farmern, die geholfen haben, die historischen Wege kilometerweit freizuschlagen. Er lächelt, freut sich, fotografiert zu werden. Im Hintergrund lächelt der Pico – was für ein Postkartenmotiv. Weiter zeigt die Landschaft Faials ein Bild der Extreme.

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Das Wetter macht mir heute keinen Strich durch die Rechnung, das habe ich mir fest vorgenommen. Irgendwo in Europa treibt es sich rum, nur selten hier. „Immer, wenn wir schlechtes Wetter kriegen“, erklärt mir bei der Anreise der nette Taxifahrer, „dann wandert das Azorenhoch nach Mitteleuropa.“ So einfach ist das. Das ist das Erste, was ich über das Wetterphänomen auf den Azoren gelernt habe.

Die Azorer sprechen von drei Jahreszeiten – und die alle an einem Tag. Da ist es schon mal subtropisch und mild und im nächsten Moment stürmisch und feucht. Nur Schnee fällt hier nicht. Alles in allem also eine natürliche Bewässerungsanlage für das extrem grüne Archipel. Ich bin vorbereitet, auf das Schlimmste gefasst. Erst recht, wenn man wie ich, geschätzte sieben Stunden Outdoor unterwegs sein wird. Die Ignoranz der Wetterlage kann ungeahnt folgenreich sein. Dass jedoch selbst im Schatten der Bäume subtropische Hitze herrscht, hatte ich nicht geahnt.

Weiter laufe ich durch Wälder von Eukalyptusbäumen, aus denen Koala-Bären grüßen würden, gäbe es sie denn hier. Nur ein einsamer Fotograf hängt versteckt im Baum, rechts und links erstrecken sich riesige Farnwälder und haushohes Schilf. „Der direkte Weg ins Universum führt durch einen wilden Wald” wusste schon John Muir. Die Inseln sind ein einziger botanischer Garten mit rund 900 Farn- und Blütenpflanzen, allein 59 Arten wachsen nur hier.

Auch Mark Twain reiste mit einem Esel über die alten Wege. Ohne Steigbügel und mit einem Sattel, von dem er sagt, er sei so breit wie ein Esstisch. Die Maultiertreiber trieben die Tiere so an, bis die Reiter nach einem schmerzhaften Galopp herunterfielen. Froh darüber, laufen zu dürfen, komme ich im unteren flacheren Teil rasch voran. Wo die Straßen schmal werden, da wird es erst so richtig schön.

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Walk on the wild side

Im menschenleeren Inselinneren beginnt eine grüne Landschaft mit Feldern und Weingärten. Kühe grasen auf saftigen Kuhweiden, vereinzelt auch unter Palmen. Ich frage mich, ob diese saftigen Wiesen der Grund dafür sind, dass die Kuhfladen so gigantisch sind. Zack – schon führt die Strecke ins Geräusch. Dunkler Zedernwald, meterhoher Farn, Bambus, Lorbeerbäume, Vogelgezwitscher. Gleich liegt das Dickicht hinter mir. Weiße Callas blühen wild am Wegesrand, sonst nur bei mir zuhause in der Blumenvase. Haushohe Hortensienhecken, die nur leider noch nicht blühen, säumen den schmalen Weg zum Vulkan der Insel und meinem persönlichen Etappenziel.

Gleichmäßig steigen die grünen Hänge zur großen Caldeira in der Inselmitte an. Mein Blick schweift über die grünen Steilhänge, den kleinen Anwesen der Farmer sowie den kleinen, aus Lavastein erbauten Steinmäuerchen am Wegesrand. Ich genieße diese Natur von unglaublicher Schönheit und Stille und bin gedanklich bereits Lichtjahre von Zuhause entfernt.

Nach zehn gelaufenen Kilometern schmecke ich die saftigen süßen Orangenspalten und die salzigen Nüsse an der Verpflegung. Höhe und Steigung dieses wahrhaft majestätischen Vulkans, der sanft aus dem blauen Fluten des Atlantiks bis in die Wolken aufsteigt, sind kaum zu erahnen – bis man den ersten Fuß setzt und mit dem Aufstieg beginnt. Auf den saftigen Wiesen grasen gutgenährte schwarzbunte Kühe, die keine Glocken und auch keine Ställe kennen. Aus ihrer Milch wird der salzige, hellgelbe Weichkäse gemacht, den wir morgens auf dem Frühstücksbuffet finden.

Die Straße klettert bergan und gewährt eine atemberaubende Aussicht: Das Meer, der Himmel, die Nachbarinsel Pico, der nun endlich die letzte Wolkenhülle fallen lässt. Auch die lang gestreckte Insel São Jorge zeichnet sich schwach am Horizont ab. Von weitem sehe ich den Kegel des Cabeco Gordo mit der rotweisen Antenne auf seinem Gipfel.

Inselüberschreitung

Es ist Mittag. Am Himmel und in meinem Bauch. Ich stelle fest, dass der Parkplatz bei der Caldeira auch einfacher, aber nicht so abenteuerlich, zu erreichen gewesen wäre. Nur wenige Autos parken hier. Zwei einsame Wanderer klatschen mir zu. Ob sie wissen, was ich hier treibe?

Neue Stufen aus Holz erleichtern nur bedingt die ersten Meter nach oben. Der Holzpfad wird schmaler, hat jetzt nur noch ein Gerüst aus knorrigen Ästen. Ich gewinne an Höhe, es wird windiger und kühler. Nicht auszudenken, was der gleiche Weg bei schlechtem Wetter bedeuten würde. Das Naturschauspiel, welches sich mir bietet, übertrifft meine Erwartungen bei weitem.

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Unendlich beeindruckt blicke ich in den Krater. Wolken wallen über den moosgrünen Kraterrrand, machen die Luft weich und etwas diesig, die Kontraste mild. Die Existenz einer Hölle ist beim Anblick der Hunderte von Metern tiefen Caldera nicht zu leugnen. Vulkanische Kräfte formten diesen Höllenschlund. Das Innere ist sumpfig und mit Moosen übersät. Der einstige Kratersee versickerte durch den Ausbruch des Capelinhos-Vulkans 1957/58 durch Risse im Erdboden.

Seit Stunden freue ich mich auf den kommenden Teil der Strecke. Endlich beginnt die spannende, etwa sieben Kilometer lange Einsturzkrater-Umrundung gegen den Uhrzeigersinn. Reisehandbücher warnen davor, die Umrundung bei schlechtem Wetter zu machen – das haben wir heute definitiv nicht! Auf einem sehr engen Pfad, keine zwei Fuß breit, klatscht rechts das Meer an die Küste, links geht es steil in die Tiefe der Caldeira. Obwohl nur auf einer Höhe von etwa 900 Metern, verschlägt es mir dennoch den Atem. Zwischen Zedern, Wacholder und Farnen, ist dies ein fast unwirkliches Bild von Abgeschiedenheit und Stille.

Noch immer ist die höchste Stelle des Kraterrandes Cabeço Gordo („Fetter Kopf“) nicht erreicht. „Gehobener Schwierigkeitsgrad“, heißt es in der Ausschreibung. Das Höhenprofil, das ein wenig nach softem Gummibärchen klang, ist heftig und man benötigt so einiges an Kondition, um nicht auf halber Strecke schlapp zu machen.

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Prägend

Ich denke an meine Tochter Natascha, die mit ihrem Freund Christian just zur gleichen Zeit in der Nähe des Polarkreises ihren zweiten Marathon läuft. Das heißt, ich hoffe, dass sie läuft. Wie sie auf diese außergewöhnliche Idee kam? Keine Ahnung, ich weiß auch nicht von wem sie das hat! Ihr Lauf hat nur geringe Höhenmeter, jedoch aufgrund des sozusagen nicht vorhandenen Trainingszustandes weiß ich aber, das sich beide quälen, vielleicht sogar genau in diesem Moment – ich weiß aber auch, sie werden es schaffen, denn irgendwie ist doch alles nur eine Frage des Willens und den haben beide.

Doch zurück in meine Welt. Kaum schau ich auf, hat der Berg Pico sein Wolkenkleid gewechselt. Nun ziert sein schwarzes Antlitz ein Seidenschal aus Schleierwolken. Völlig unspektakulär ist die höchste Stelle erreicht. Mühsam und somit zeitraubend sind die nächsten Kilometer, denn das Abwärtslaufen über die wahllos verteilten Grasbüschelbrocken wird zur Tortur. Ich wüsste zu gerne, wie die Profisportler hier durchbrettern. Bevor ich darüber länger nachdenken kann, muss ich klettern. Die Hände suchen Halt, an Steinen oder in dichten Sträuchern. Ich bin wirklich glücklich, was sag ich, dankbar darüber, dass es auf der Insel keine Schlangen oder andere gefährliche Tiere geben soll.

Durchatmen! Weiterlaufen! Serpentinenartig führt der Weg durch einen unglaublich zartgrünen Wald, wie ich ihn noch nie gesehen habe. Der rostrote Schotter knarzt unter den Schuhen. Dieses Naturwunder im Kopf noch nicht verarbeitet, bin ich auch schon mitten drin im nächsten Sinnesrausch.

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Azoren oder Amazonas

Durch eine enge Waldschneise in Faials verwunschenen Naturpark schlängeln sich die kilometerlange Levada und ich. Die Levadas der Caldeira waren einst Teil eines Wassersammelsystems, das ein Wasserkraftwerk in Varadouro speiste. Durch das Erdbeben von 1998 wurden weite Teile der damaligen fast zehn kilometerlangen Levada zerstört. Heute ist der Wasserweg wieder hergestellt und ich springe immer wieder über diese offene Wasserleitung oder steige über kleine Mäuerchen, um die Seite zu wechseln. Es ist gar nicht so einfach, nach so vielen gelaufenen Stunden mit steifen Knochen noch elegant über die auseinanderstehenden Tritthilfen zu balancieren. Nach und nach bekomme ich Gefallen daran und die Schritte darüber werden lockerer und mutiger. Auch wenn die Knochen schmerzen, macht es Spaß, immer wieder über die Steine hinweg zu springen. Schlagartig wird es wieder drückend schwül. Wäre die Holzbrücke, über die ich nun laufe, eine Hängebrücke, dann könnte man glauben, ich wäre am Amazonas.

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Nach der Brücke beginnt der Wald und ich fühle mich wie im Dschungel. Es geht abwärts. Bis eben hoffte ich, mich dem uneingeschränkten Genuss des Laufens hingeben zu können. Jetzt aber wird das Gefälle steil und steiler. Um mich herum dampft es vor Feuchtigkeit. Der eben noch trockene Boden wird nass und nässer. Braunes Schlammwasser rinnt die Erde hinunter. Der Boden bietet den Schuhen keinen Halt mehr. Erst rutsche ich, dann versinke ich. Die Folge: Ein Erdrutsch mit Kamera.

Inzwischen ist die Strecke der Ultra-Trail-Läufer und der „Trail der 10 Vulkane“-Läufer identisch. Der Weg hat nun ein fast gleichmäßiges Gefälle. Ich hoffe, mein Tempo ist hoch genug, damit der Wind die Kamera wieder trocknet. Am historischen Waschhaus der Frauen, dem Casa das Lavadeiras, hoffe ich auf Reinigung, aber hier gibt es schon lange kein Wasser mehr.

Die Macht der Natur

Sensationelles tut sich vor mir auf. Plötzlich ist neues Land in Sicht! Ich bleibe stehen, genieße den kilometerweiten Fernblick. Die Vulkankegel sehen von hier oben aus wie das Rückgrat eines grünen Dinos. Am Ende, sozusagen am Kopf des Drachens, ist der Ponta dos Capelinhos, die Halbinsel mit der bizarren Küstenlinie, zu sehen.

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Augenscheinlich ist das Ziel in Sicht- und Hörweite, dabei ist es doch noch mindestens vier Kilometer entfernt. Keine halbe Stunde und ich bin im Ziel, denke ich noch und verwerfe diesen Gedanken im gleichen Augenblick. Bis zu meiner Hüfte gehen die Naturstufen, der Farn streichelt meine geschundenen Beine. Der Aufstieg ist steil, jeder Atemzug schmeckt nach Schweiß. Ich suche Halt an hageren Wurzelarmen. Die letzten Kilometer geht es auf schmalen steinigen Pfaden der Küste entgegen.

Tiefschwarze Vulkanasche trifft auf stahlendblaues Meer

Dann geht alles viel zu schnell. Die Landschaft, einst unheimliches Naturspektakel, wird zum Landschaftsfilm – ich wünsche ihn mir in slow-motion. Das Gestein unter meinen Füssen gleicht einer Wüste aus Schlacke und Schotter. Kurz darauf ist es nur noch eine einfarbige Kulisse im müden Licht des Nachmittags, die sich sanft geneigt zur Küste zieht, die links und rechts mitgezogen wird – eine Mondlandschaft aus Asche und Staub. Ich stelle mir vor, wie vor nicht ganz so langer Zeit der Atlantik ein explosives Gebräu kochte, weiße Wolken aus Wasserdampf daraus empor schossen und das Meer zu brodeln begann.

Ich stelle mir vor, wie mehr als 30 Millionen Tonnen Lava und Asche beim Ausbruch des Vulkans Capelinhos genau hier niedergingen. Kann man sich das überhaupt vorstellen? Dabei sind es die gleichen Naturkräfte, die die Azoren überhaupt erst haben entstehen lassen. Die Bewohner konnten sich retten, die Häuser und Felder sind bis heute verloren. Nur ein Teil des 1902 erbauten und einstmals größten Leuchtturm Portugals, ragt nicht mehr von der Küste, sondern nun weit entfernt, aus dem schwarzen Sand. Auf dem braunschwarzen Ascheboden wachsen einige wenige kleine Büsche. Durch das feuchtwarme und niederschlagsreiche Azorenwetter soll es nur 100-200 Jahre dauern, bis sich komplett das saftige Grün über diese dunkle Vulkanlandschaft legt. Im unterirdischen „Centro de Interpretação do Vulcão dos Capelinhos“ ist die dramatische Geschichte des Vulkanausbruchs dokumentiert, das Museum sogar preisgekrönt.

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Ich gleite über hunderte Meter tief verschüttetes Leben. Feinster, von der Sonne gewärmter Aschestaub fließt über die Schuhe, setzt sich wie schwarzer Puderzucker in die Schuhe und wird mich, wenn er mir Zuhause entgegenkommt, an diesen einzigartigen Augenblick erinnern. Ich spüre nicht mehr, dass ich laufe, ich schwebe, lasse mich von den Gefühlen tragen. Es ist sensationell – niemals vorher habe ich so einen Zieleinlauf erlebt. Es ist zum Weinen schön.

Bewegend

Ich stecke meine Beine in das eiskalte und aufschäumende Wasser des Atlantiks. Ich bin am Tiefpunkt des Trails angelangt. Geografisch, nicht mental. Ich denke an den Genuss auf den letzten Kilometer bis ins Ziel. Sie waren triumphierend wie einen Sieg – in der Gewissheit, dass dies der Anfang von etwas Neuem ist. Einige Läufer machen Momentaufnahmen: Über Whats-App texten sie „EWETL“, was so viel heißt wie: Es war ein toller Lauf! Ein Trail-Paradies der Extraklasse.

Helfer- und Siegerehrung

Neugierig fiebern nicht nur die Profisportler der Auswertung des Zieleinlaufs entgegen. Die Spannung steigt: Auffällig ist ein regelmäßiges, eruptives Zucken mit den Beinen und das Trommeln der Fingerspitzen auf den Tischkanten. Volonteers und Läufer füllen den festlich gedeckten Raum und reden aufeinander ein. Mario ist sich des bedeutenden Augenblicks bewusst. Mit einem üppig bestückten Buffet, guten Weinen, Folklore und der Siegerehrung geht der lange Tag zu Ende.

Anna Frost wird ihrer Favoritenrolle gerecht und gewinnt das Rennen. Aber es gibt noch mehr Kandidaten für das Podium. Nach der fünften Sardine und dem dritten Rotwein stellt sich so langsam jenes diffuse, aber wohlige Gefühl der Erschöpfung und Zufriedenheit ein, das nur sportliche Anstrengung zu verschaffen vermag, die durch den schönen Lauf und jetzt auch noch durch einen Pokal, belohnt wird.

Fernweh

Von den letzten Tagen sind 1926 Bilder (!) auf der Speicherkarte. Schnell lade ich die Aufnahmen auf das Notebook und bin neugierig. Das war ein Foto-Shooting nach meinem Geschmack. Die meisten kamen wegen des neuen Trail-Laufes, aber was ich auf der Insel sah, ist weit mehr als das. Eine Stunde bleibt mir noch bis zum Abflug. Es zieht mich nochmals an den Weltumsegler-Hafen. Ein weißer Katamaran hat die Leinen gelöst, um davon zu segeln, hinaus auf den Atlantik, vielleicht rüber nach Amerika. Möwen gleiten mit ausgebreiteten Flügeln über den Wind. Ruhig verlässt das Schiff den Hafen und verschwindet am Horizont.

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Resümee: Es doch noch möglich, im Meer der Neuerscheinungen ein verborgenes Trail-Paradies zu finden. Was auf der französischen Insel La Réunion der „Grand Raid“, auch „die Diagonale der Verrückten“ genannt wird, ist auf der Azoreninsel Faial „die Diagonale der Genießer“. Der 48 km lange Ultra-Trail von Küste zu Küste zeigt die Insel in ihrer Entstehung von Ost nach West, durch Geologie und Geschichte. Weitab vom Massentourismus, ungeeignet für High-Life- oder verwöhnten All-Inklusive-Touristen. Wer von seinem Urlaub Meer, Strand und Wärme erwartet, ist hier falsch am Platz. Was man bekommt, ist die unvergessliche Begegnung mit der Natur, als perfekt inszeniertes Spektakel mit buntem Rahmenprogramm. Die einzige Unbekannte bleibt das Wetter.

INFOS: Gesamtzeit/Höhenmeter/Streckenprofil für den Faial Coast to Coast Ultra-Trail, 48 KM: 10 Stunden/ 2.500 HM/ 90 %Trail-Anteil

Der Weg zum Trail: Es gibt zwei Möglichkeiten der Anreise: Von Frankfurt am Main mit einem Direktflug der SATA Airline auf die Hauptinsel Sao Miguel. Von dort fliegt man weiter nach Faial oder man nimmt, wie ich, den Weg über Lissabon, mit einer Übernachtung und etwas Zeit in Lissabon, dank der Zeitverschiebung. Von Lissabon flog ich nach Terceira. Ein Erlebnis der besonderen Art ist der nochmals zwanzig Minuten andauernde Flug mit einer Propellermaschine der SATA nach Faial. Mit ein wenig Glück schaut beim An- oder Abflug von Faial die schwarze Spitze des Pico als Wolkenbrecher aus der dichten weißen Wolkendecke hervor. Das Hotel Horta ist gut mit dem Taxi zu erreichen.

Homepage und Anmeldung: http://www.azorestrailrun.com

Reiseformalitäten: Es reicht der gültige Personalausweis bzw. Reisepass. Die Landessprache ist portugiesisch, es wird aber auch gut englisch gesprochen. Die Landeswährung ist der Euro.

Internet: www.visit-azoren.de

Veranstalter: Athletik Club Blue Island

Wettbewerbe: Die beiden Trail-Läufe „Spur der 10 Vulkane“ und „Ultra-Trail Faial“, unterscheiden sich nach ihrer Länge und ihren Schwierigkeitsgraden. Der Trail „Spur der 10 Vulkane“ hat eine Länge von 21,1 Kilometern. Einen deutlich größeren Höhenunterschied zeichnet der 48 kilometerlange „Ultra-Trail Faial“ mit 2.500 Höhenmetern und teils schwierigem Geläuf aus.

Zeitlimit: Zehn Stunden für den Ultra-Trail Run

Temperatur: 25°C am Wettkampftag. Gemäßigtes Klima ganzjährig. Selten steigt das Thermometer über 25 oder unter 15 Grad.

Verpflegung: Wasser, Iso, Cola, Nüsse, Marmelade, Kuchen, Rosinen, Bananen, Orangen. Man trifft ausnahmslos auf freundliche Menschen und wird umsorgt statt abgefertigt. Bis auf die vielen Helfer trifft man mehr Kühe als Menschen.

Gepäcktransport/Rücktransfer: Vorhanden und perfekt organisiert

Angemerkt: Im Paketpreis eingeschlossen sind der Besuch des botanischen Gartens der die Vielfalt der Pflanzenwelt der Azoren, darunter zahlreiche einheimische und gefährdete Arten vereint.

Neben der Besiedelungsgeschichte der Azoren, ihrer Flora und Fauna und den Lebensgewohnheiten der Wale gibt es noch einen weiteren Höhepunkt: Das Einpflanzen eines Baumes „Footprint – SOS Laurel Azoren“ Projekt.

Vorträge, Shuttle-Service, Pastaparty, Dinner zur Preisverleihung, Funktions-Teilnehmer-Shirt, Buff-Tuch und statt einer Medaille erhält jeder Teilnehmer eine schön geschnitzte Kunststoffplatte.

Die Übernachtungen erfolgen im Viersterne Hotel Horta, nur fünf Gehminuten vom Hafen entfernt. Die Zimmer bieten einen Blick auf den Hafen und die Insel Pico.

Kosten je nach Programmauswahl, Aufenthaltsdauer und Anmeldephase: von 25,00 EURO (reine Anmeldegebühr) bis 409,00 EURO (Komplettpaket mit 5 Übernachtungen)

Tipp: Der Azoren Trail allein ist schon kein schlechter Grund, die Insel zu besuchen. Aber nicht der einzige! Die Azoren sind ein guter Ausgangspunkt, um Wale und Delphine zu beobachten. Die Chance, tatsächlich Wale zu sehen, ist sehr hoch.

Zeitmessung/Preise: BiB in der Startnummer. Altersklassenwertungen (Zehnjahresschritten). Plätze 1-3 ausgefallene Pokale. Die erste Frau/Mann erhält einen Startplatz und die Reise für das kommende Jahr auf die Insel.

Gewinner Herren
1. Armando Teixeira, Salomon Portugal PORT 4:03:12
2. Mirko Righele, ITA 4:10:03
3. Telmo Veloso, Desnível Positivo 4:12:41

Gewinner Damen
1.Anna Frost, Salomon Running AUST 4:35:54
2.Ana Gonçalves, ALIVE FITNESS CLUB PORT 5:17:33
3.Susana Simões, Desnível Positivo PORT 5:23:23

Finisher: 103 Ultramarathon Läufer, keine DNF!