Andrea Helmuth

Andrea Helmuth

Brüder Grimm Lauf 2012

An Hessen führt kein Weg vorbei

 

Es war einmal eine Läuferin, die lief und lief und lief… bis nichts mehr ging. Extreme Gereiztheit, depressive Verstimmungen und Schwankungen der Herzfrequenz sind die unmittelbaren Auswirkungen. Damit steht man noch nicht mit einem Fuß im Grab, sondern man leidet nur unter Entzugserscheinungen. Dass Verrückte daran ist, die Schmerzen kommen nicht etwa vom vielen Laufen, sondern vom ständigen Sitzen, sagte man ihr.

 

 

 

 

Erst nur ein fast harmloser Schmerz, mehr so ein Ziehen im Gesäß. Je länger ich lief, desto besser fühlte ich mich… Plötzlich sind die Schmerzen nicht mehr auszuhalten. Beim Sitzen, beim Stehen und auch beim Laufen geht gar nichts mehr. Noch fünf Tage bis zum Start des Brüder Grimm Lauf (BGL). Montag, Arzttermin und Medikation mit Schmerz/-entzündungshemmenden Tabletten sowie einer Überweisung zum MRT. Diagnose: Verdacht auf Bandscheibenvorfall.

Dienstag, vergebliche Anrufe bei Radiologen: „In sechs Wochen, da können wir Ihnen frühestens einen Termin anbieten“. Noch drei Tage bis zum BGL. Dann, endlich, der erlösende Anruf: „Können Sie am Freitagmittag zum MRT kommen?“. Und wie ich kann, schließlich ist Brückentag und ich habe Urlaub.

Noch fünf Stunden bis zum Start des BGL. Mit den Medikamenten sind die Schmerzen auszuhalten. In Hanau holen die ersten Läufer bereits ihre Startnummern ab, während ich nun in dieser Röhre liege. Um mich herum ohrenbetäubender Lärm. Im Märchen geschehen Wunder, denke ich. Wenn ich jetzt einfach fest daran glaube?

Nach einem grandiosen „…und wenn sie nicht gestorben sind“ – Finale im letzten Jahr, wollten wir unbedingt das Märchenbuch des Brüder Grimm Laufes noch einmal aufschlagen. Märchen erzählen von Wünschen und Sehnsüchten, Missgunst aber auch von Freundschaften. Diese Geschichte bedient sich wahrem Erlebten und bekannter Volksmärchen der Brüder Grimm. Die Kapitel handeln von einem gejagten Mädchen mit roter Kappe, einer bösen Königin, die erbost darüber ist, dass ihre Stieftochter schneller sein soll, sieben kleinwüchsigen Männern, einer alte Dame, die es schneien lassen könnte, es aber hat bleiben lassen und einem Geschwisterpaar, welches sich trotz guter Markierung im Hessischen Wald vielleicht verläuft. Ebenso treten zahlreiche, von Tieren abgeleitete Figuren oder vermenschlichte Tiergestalten wie extremste Extremläufer, Genuss-, Team- oder Einzeletappenläufer sowie viele andere, in den Fokus dieser Geschichte.

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In diesem Jahr wird das Jubiläum der vor 200 Jahre erschienenen ersten Märchenausgabe gefeiert. In dieser Zeit verstand man unter der Wetterau das Gebiet zwischen Vogelsberg, Odenwald, Taunus und Spessart. Die Stadt Hanau liegt fast in der Mitte dieser Region. Hier am Neustädter Markt beginnt die Deutsche Märchenstraße, die auch uns über Steinau an der Straße, unserem Zielort in zwei Tagen, führen wird. Die Märchenstraße verläuft jedoch noch weiter über Kassel, Göttingen bis nach Bremen. Der Marktplatz, seit jeher ein beliebter Treffpunkt und Sammelplatz, ist somit auch der ideale Startpunkt zur ersten Etappe.

Mittendrin im Geschehen thronen seit 1896 die Gebrüder Grimm auf ihrem Denkmal und bilden seit 28 Jahren ein beliebtes Fotomotiv für die Läuferinnen und Läufer. Die Grimms, um 1785/86 als Nachkommen eines Amtsmanns geboren, verbrachten einen Teil ihrer Kindheit in Hanau. 27 Jahre später hatte Napoleon in Hanau seinen letzten Sieg auf deutschem Boden. Zuvor setzten die Franzosen die Vorstadt in Brand. Einige Häuser in der Judengasse (heute Nordstraße), in der Hospitalstraße und am Paradeplatz (heute Freiheitsplatz) gingen in Flammen auf. An das Geschehen erinnern verschiedene Gedenksteine. Es war die Schlacht 1813 im Rahmen der Befreiungskriege gegen die französische Besatzung. Napoleons Weg nach Westen war offen. Heute halten Polizisten uns Etappenläufern auf den ersten Kilometern durch die Hanauer Stadtmitte den Weg frei.

Freitag, 17.30 Uhr, Start der 1. Etappe „Rotkäppchen“

Sie hat begonnen, die unendliche Geschichte des Brüder Grimm Lauf. Vor uns liegen 15,4 Kilometer auf der Rotkäppchen Etappe. Von nun an heißt es: In zweieinhalb Tagen auf fünf Etappen von Hanau nach Steinau an der Straße zu laufen. Die kürzeste Distanz beträgt 14 die längste Etappe 18 Kilometer. Sehr gut trainierte Läufer schaffen die Strecke in der Gesamtwertung in 4:39 Stunden – freilich um den Preis, von den umliegenden Sehenswürdigkeiten nicht mehr als ein paar flüchtige Eindrücke zu erhaschen. Die Genussläufer werden am Ende etwas um die 10 Stunden unterwegs sein.

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Wer einmal hier war, kommt meistens wieder. Daher erstaunt es uns wenig, als wir unter den etwa 500 Läufern viele bekannte Gesichter entdecken. Der 1938 geborene Kalli Flach, von der LT Höchst, hat keinen BGL ausgelassen und steht heute bereits zum 28. Mal am Start. Der Extrem-Extremläufer René Strosny möchte es auch noch mal wissen. 2005 errang er hier den 2. Platz auf der, in seinen Worten, „Kurzstrecke“. Denn was für die meisten von uns schon eine gewaltige Herausforderung darstellt, reicht für ihn noch nicht einmal zum Warmwerden.

Seit Mai ist in den Kinos der Dokumentarfilm „I want to run“ zu sehen. Diesen Film sollte kein Läufer verpassen. Leider läuft er bislang noch nicht in Hessen. René ist Protagonist in diesem Film, der vom Europalauf 2009 handelt. Nach 64 Etappen und 4487 Kilometern erreichte er das Ziel am Nordkap in 407 Stunden. Schaut euch den Film an, wenn ihr Wissen wollt, auf welchen Platz René damals lief. Im August dieses Jahres wird es wieder einen Europalauf geben. Die Streckenführung wird die Teilnehmer von Dänemark bis nach Spanien führen. Wer vielleicht nach dem Brüder Grimm Lauf noch nicht genug gefordert ist, der kann sich der Herausforderung „Europalauf“ stellen. Schade, für diese Ausgabe ist er mal wieder ausgebucht!

So unauffällig René sich zwischen die vorderen Läufer gemischt hat, umso auffälliger ist seine Lebensgefährtin Angela. Nur die Laufschuhe passen farblich nicht zu dem kurzen bunten Sommerkleid. Mit 127 Frauen ist das weibliche Geschlecht stark vertreten. Eine Läuferin ist aus Frankreich angereist. Auch wenn keine Etappe „Froschkönig“ heißt, so trifft sie hier vielleicht ihren Prinzen. Denn Frösche haben in Frankreich bekanntermaßen nur eine kurze Lebenserwartung.
Das Tempo ist hoch. Ich hoffe darauf, dass sich dies bei den nächsten Etappen ändern wird. Kilometer 8 ist erreicht und wir laufen den Limes Radweg entlang. Weiter geht es in Richtung Erlensee. Das Römerbad in Rückingen, ein Relikt eines einstmals großen Kastells, ist eines der ältesten Artefakte der Region. Der Limes, Teil des UNESCO Weltkulturerbe, verläuft quer durch den Ort und ist durch Schautafeln und Markierungen sichtbar. Meine Schmerzen im Knie und im Rücken werden stärker. In diesen Minuten wechseln Momente voller Selbstbeherrschung mit solchen starken Selbstzweifeln ab.

Vor ein paar Stunden hatte der Radiologe zu mir gesagt: „Sie haben keinen Bandscheibenschaden, Sie können laufen“. Er meinte aber sicherlich von seiner Praxis bis zu meinem Auto. Obwohl mir Kay nicht wirklich helfen kann, genügt es schon, dass er einfach da ist. Mitten im Wald lenkt mich der Anblick des Klosters St. Wolfgang, welches als ein Teil einer Ruine von der tiefstehenden Sonne angestrahlt wird, von meinen negativen Gedanken ab. Für diejenigen, die hier einfach vorbeilaufen sei gesagt: Das Kloster St. Wolfgang befindet sich ungefähr in der Mitte zwischen den Ortschaften Hanau-Wolfgang und Niederrodenbach, jeweils etwa 1,5 km von den Ortsrändern entfernt. Die Klostergründung geht auf die Zeit zwischen 1490 und 1494 zurück. Größere und kleinere Gruben im Wald stammen vermutlich von dem Abbau des Erzes.

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An der Klosterruine wartet bereits der Wolf, in Gestalt eines Radfahrers. Das Mädchen mit der roten Kappe läuft beherzt weiter. Nur noch sechs Kilometer liegen vor ihr, bevor sie in dem um 1600 gegründeten Ort Neuenhaßlau Zuflucht finden kann. Das Raubtier mit dem großen Hunger und den großen Zähnen hat die Verfolgung aufgenommen. Als sie bereits den heißen Atem des Wolfes in ihrem Nacken spürt, ist sie nicht mehr weit entfernt vom ersten Etappenziel in Niederrodenbach. Gerade als der Wolf auf seinem Rad schon seinen Rachen öffnet um sie mit seinen Zähnen zu packen, läuft sie unter tosendem Applaus der Zuschauer gerade durch das Zieltor der Bulau Sporthalle in die schützenden Arme des Moderators.

Der radelnde Wolf entpuppt sich als Besenwagen. Große Augen, nicht nur bei der Großmutter. Der erste Läufer erreicht das Etappenziel in 0:52 Minuten, die erste Frau in 1:03 Stunden. Andere haben sich bei der Großmutter oder an den Verpflegungsständen wohl etwas länger aufgehalten oder vielleicht unterwegs die Flasche Rotwein getrunken? Wie auch immer, wer das Ziel erreicht, egal in welchem Zustand, der darf und wird bestimmt morgen wieder starten.

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In der Bulau-Halle liegen unsere Taschen bereit. Das Duschen sparen wir uns, schnell etwas Trockenes übergezogen und ab zum Pendelbus, der schon auf uns Läufer wartet. Für diejenigen, die sich nicht zurückfahren lassen, wird die große und geräumige Halle zur Massenunterkunft. Dort liegen schon die nur einen Zentimeter dünnen Isomatten ausgerollt auf dem Boden. Ein Teilnehmer ist sogar mit einem Klappbett angereist, besagter schläft sicherlich wie die Prinzessin auf der Erbse. Die schnellen Läufer haben noch die große Wahl, in welcher Ecke sie ihr Nachtlager aufbauen wollen. Bei einem 6er Schnitt ist man für solch eine luxuriöse freie Platzwahl leider schon zu langsam und muss dann sehen, in welche Lücke man passt. Die Sonne geht unter. Es wird kühl. Der süße Duft der ungeduschten Läufer beginnt sich zu verflüchtigen.

Samstag, 9.30 Uhr, Start der 2. Etappe „Dornröschen“

Die Bevölkerung von Niederrodenbach lebte hauptsächlich vom Reichtum an Holz, von der Landwirtschaft und von der Viehzucht. Man könnte meinen, dass hier hinter einer Dornenhecke der Bulau Halle die Schöne ihren 100jährigen Dornröschenschlaf verbringt. Nach und nach treffen immer mehr Läufer ein.

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Die letzten Isomatten werden zusammengerollt, das Klappbett der Prinzessin zusammengefaltet und an den Gepäcktransporter gerollt. Der Startschuss fällt und nach ein paar hundert Metern haben wir den Ortskern von Niederrodenbach erreicht. Mehr als ein Jahrtausend führte nur ein schlechter Weg durch das Kinzigtal. Heute sind es Autobahnen, zwei Bundesstraßen, die Eisenbahn – und ein Fahrradweg. Über diesen Radweg erreichen wir, am Rande des Vorspessarts, den kleinen Ortsteil Oberrodenbach. Aus dem Talkessel heraus laufen wir über einige Hügel. 14 Kilometer liegen vor uns. 1,5 Kilometer beträgt der Anstieg zum 233 Meter hohen „Käfernberg“. Irgendwie hatte ich diese Steigung in meiner Erinnerung vom Vorjahr völlig verdrängt.

Kurz bevor wir oben angelangt sind, treffen wir auf Michael. Er macht uns darauf aufmerksam, die Kamera knipsbereit zu haben. Tatsächlich haben wir von hier oben eine wunderbare Sicht auf Somborn und Gondsroth. Jetzt nur noch die Beine locker über den Asphalt nach unten rollen lassen immer den anderen, vor uns laufenden, hinterher. Der Zieleinlauf befindet sich in der Gemeinde Neuenhaßlau. Diese wird im Jahr 1219 erstmals als „Hasela“, d.h. Hasel(nuß), urkundlich erwähnt. Trödeln rächt sich. Im Ziel wurde Dornröschen wahrscheinlich bereits vom ersten Läufer wachgeküsst, auf uns warten immerhin noch tonnenweise Bananen. Sonja, sonst auch nur auf den langen Strecken unterwegs, tobt sich auf diesen Etappen mal so richtig aus. Bis wir ins Ziel kommen, ist sie schon wieder weg.

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Die erste Etappe am heutigen Tag ist geschafft. Manche Läufer nutzen die Pause zum Duschen und Entspannen. Man wird unfreiwilliger Zeuge von Telefongesprächen, die einen eigentlich gar nicht interessieren. Ein anderer nutzt die Pause, um mit seinem Rennrad noch eine Trainingseinheit einzulegen. Ansonsten erinnert die Szenerie eher an einen schönen Sommertag, wenn Menschen in Parks die Wiesen bevölkern.

Käse- und Streuselkuchen, Frankfurter Kranz, Suppe mit oder ohne Würstchen, Brötchen mit oder ohne Butter. Die Auswahl am Mittagsbuffet kann einen Läufermagen schon mal aus dem Gleichgewicht bringen. So kam auch eine Läuferin zu ihrem Spitznamen „Rülpsprinzessin“. Ist der Ruf erst ruiniert lebt sich´s völlig ungeniert. Übelkeit und unglaubliche Müdigkeit sind bei mir nicht die Folgen eines übersättigten Magens, sondern der bereits seit einer Woche eingenommenen starken Medikamente. Für mich ist hier der Wettkampf beendet.

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Keine Schande, denn der bis dahin Zweitplatzierte, musste leider wegen Rückenproblemen das Rennen ebenfalls hier beenden und ein Japaner hatte noch andere Verpflichtungen und lässt einfach mal eine Etappe aus. Er erscheint dann zwar nicht mehr in der Gesamtwertung, dennoch werden auch Einzeletappen gewertet.

Samstag, 16.30 Uhr, Start der 3. Etappe „Schneewittchen“

Unruhe macht sich breit, es riecht nach Massageölen. Nicht mehr lange und es geht auf die 17 Kilometer lange „Schneewittchen“ Etappe. Sieben kleine Männer studieren die Ergebnislisten und fragen sich: „Spieglein, Spieglein an der Wand – wer ist heute die/der Schnellste im ganzen Land?“ Wegen einer Umleitung, so sagt der Sprecher, sei die Strecke kürzer.

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Allgemeine Freude bei allen Beteiligten. Bei allen? Ich glaube, einem wäre das Gegenteil lieber gewesen. So schlimm es für mich ist, nicht mehr mitlaufen zu können, so schön ist es auch mal die Läufer der ersten Reihen zu sehen als der Startschuss fällt. Gemeinsam mit Harald, der ebenfalls verletzungsbedingt Etappen aussetzt, gehen wir zum Auto um die Läufer bei Kilometer 5 erstmals anzufeuern und zu fotografieren.

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Wie ich da nun so gemütlich im Gras liege, fange ich mir natürlich den ein- oder anderen Spruch ein. „Faules Stück“ ist da noch harmlos. So Puterrot wie die alle aussehen, sind sie doch nur neidisch. „Wenn die geistige Sonne tief steht, werfen selbst Zwerge riesige Schatten“.

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Manch eine Läuferin möchte sich ihrer Altersklassenkonkurrentin entledigen. Kein Wunder also, würde jemand ernsthaft überlegen, wie man sie bis zur nächsten Etappe loswerden könnte. Vielleicht durch einen vergifteten Apfel an der nächsten Verpflegung?

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Die Strecke führt durch das südosthessische Kinzigtal. 9 Grad 9 Minuten östlicher Länge und 50 Grad 10 Minuten 21 Sekunden nördlicher Breite. Auch mal geographisches Zentrum Europas. Vor den Läufern liegt nun der 259 Meter hohe Hügel des „Niedermittlauer Heiligenkopfes“. Weiter um den „Rauen Berg“ 279,5 Meter, zum „Meerholzer Heiligenkopf“. Nach dem Sonnenberg von Altenhaßlau ist Gelnhausen erreicht. Und da stehen Harald und ich auch schon wieder, noch bevor der erste Läufer das Ziel im Stadion erreicht hat. Auch Schneewittchen ist im Ziel und von ihrem Leiden erlöst. Pendelbusbenutzer, Turnhallen- und Heimschläfer gehen ihrer Wege.

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Schon bald beginnt die Pasta-Party mit einem Märchen und der Fußballübertragung Deutschland gegen Portugal. Kaum einer lässt sich diese Feier entgehen und wer zu spät kommt, der darf sich zu Recht fragen: „Wer hat von meinem Tellerchen gegessen, wer aus meinem Becherchen getrunken?“.

Sonntag, 9.00 Uhr, Start der 4. Etappe „Frau Holle“

Ein trüber Morgen. Gestern habe ich die Tabletten abgesetzt. Literweise getrunken und in meinem eigenen Bett gut geschlafen. Grund genug, die Laufschuhe zu schnüren. Diese 16,8 Kilometer lange Etappe möchte ich mir ungern entgehen lassen, denn sie enthält einige schöne Steigungen mit noch schöneren Bergab-Passagen. Im Zentrum des mittelalterlichen Stadtkerns befindet sich der Startbereich. Unter einem endlosen Horizont voll dramatischer Wolkenformationen breitet sich eine Märchenstimmung aus. Regen ist für heute vorausgesagt. Auch in Ordnung, so lange Frau Holle auf ihrer Etappe nicht noch ihr Bett ausschüttelt.

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Die märchenhafte Landschaft stand wohl auch den Brüdern Grimm vor Augen, als sie die Geschichten der Region nacherzählten. Einige ihrer Figuren stammen aus noch älteren Mythen, etwa die der Frau Holle, deren Ursprung in die germanisch-heidnische Zeit zurückreicht.

Johann Jacob Christoffel von Grimmelshausen wurde um 1620 in Gelnhausen geboren. Er hat die Schrecken des 30jährigen Krieges in der Stadt miterlebt. Auf dramatische Weise schildert er die Verwüstungen Gelnhausens in seinem Roman „Der abenteuerliche Simplicissimus“. 1634 wurde Gelnhausen von den Spaniern erobert und besetzt. Die Bevölkerung musste flüchten. Wer blieb, wurde mit dem Tode bestraft.

2012: Einen Tag und eine Nacht war die Stadt von Läufern besetzt. Angst ist es nicht, was die Läufer heute schon wieder aus der Stadt treibt. Die Glocken läuten von der Marienkirche. Diese war ursprünglich eine kleine Dorfkirche und spiegelt den mittelalterlichen Wohlstand der Gelnhäuser wider. Heimelig sind die engen Gassen mit schiefen Fachwerkhäuschen.

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Wir folgen der Petersiliengasse. Allein dieser Straßenzug klingt wie aus einem Märchenbuch. So flach, wie in der Ausschreibung beschrieben, sind die ersten Kilometer dieser Etappe nicht. Das allein mag aber noch nicht der Grund sein, dass es die Läufer doch jetzt fast alle etwas ruhiger angehen lassen. Jeder möchte heute Nachmittag nur noch den Zieleinlauf in Steinau an der Straße erleben dürfen. Das ist mein Tempo, so fühle ich mich wohl, so kann es weiter laufen.

Dank des Spessartbundes ist der Eselsweg bis heute als Wanderroute erhalten. Dieser historische Weg ist mit einem schwarzen „E“ auf weißem Grund markiert so wie die Läufer, die wir immer mal wieder sehen. Sie tragen ein schwarzes E auf weißem Grund auf ihrem Rücken. Soll es die Läufer kennzeichnen, die auf dem Eselsweg unterwegs sind? Anfangs dachte ich das noch, aber es sind Einzeletappenläufer die verpflichtet sind, das „E“ auf dem Rücken zu tragen. Bedingt durch seine geschlossenen Waldflächen und die wenigen Siedlungen, die an den Durchgangsstraßen lagen, war die Gegend für Räuber und Diebsgesindel äußerst attraktiv.

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Man denke nur an die gefürchteten Spessarträuber, die hier gerade jetzt ihr Unwesen treiben und plötzlich aus dem Unterholz springen könnten. Sie bedrohten die nach Steinau ziehenden Händler mit Messer und Knüppeln. Wie der Buckel eines kampfbereiten Katers liegt der 800 Meter lange Anstieg durch den Fürstlichen Wald zu den „Vier Fichten“ vor uns. Wer allerdings dieses Baumquartett sucht, der wird nur eine Fichte finden, denn vier gibt es nur in einer alten überlieferten Geschichte von Josef Stark. Vielleicht heißt das aber hier auch gar nicht „vier Fichten“ sondern meint eher „Die sieben Raben“. Dies ist nämlich auch ein Märchen der Brüder Grimm. In der Erstauflage hieß das Märchen „Die drei Raben“. Wie auch immer, die Raben oder Fichten werden sich über kurz oder lang in 12 Windräder verwandeln, so ist es zumindest geplant.

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Genug über Vergangenheit und Zukunft geredet. Auf dem Weg dorthin wird es zum ersten Mal richtig anstrengend. Die Steigung zwickt in den Oberschenkeln und Waden. Wir treffen auf Joanna, die sich tapfer Schritt für Schritt nach oben kämpft und das sogar im wahrsten Sinne des Wortes. Joanna hat den BGL bereits einmal gewonnen und auch im Mountainbiken ist sie kaum zu schlagen. Sie erzählt mir, dass sie vor sechs Wochen den Blinddarm entfernt bekommen hat und nun seit Freitag das erste Mal wieder Laufschuhe trägt. Wie wir oben bei den Fichten ankommen, wird sie von Zuschauern freudig begrüßt. Sie ist eben bekannt hier. Sie ruft mir noch zu: „Ab jetzt geht es nur noch bergab“ und schon ist sie auch weg. Im nächsten Jahr, da will sie wieder angreifen und das glaube ich ihr.

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Mittagspause ist angekündigt und aus Fehlern lernt man. Diesmal falle ich nicht auf die Verlockungen des Kuchenbuffets rein. Christine sagte, wir hätten im letzten Jahr nach der Suppe, dem Kuchen, dem Weizenbier und den Gummibärchen noch die Salztablette genommen. Klar, dass wir uns fühlten, wie der böse Wolf mit den Wackersteinen im Bauch. Die Pause vergeht viel zu schnell und wie durch Zauberhand stehen wir schon wieder am Start. Nun gilt es. Die letzte Etappe ist mit 18 Kilometern auch die längste Etappe und vom vergangenen Jahr weiß ich, die letzten Kilometer werden zur Kopfsache.

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Sonntag, 15.30 Uhr, Start der 5. Etappe „Hänsel und Gretel“

Schon die Kelten gingen diesen Weg, die Römer und die Kuriere Karls des Großen, die Romantiker um Clemens Brentano, na und die Gebrüder Grimm sowieso, denn die verbrachten ihre Jugend in Steinau a. d. S. unserem Wettkampfziel. Start ist am Burgring der Kurstadt Bad Orb. So viele Zuschauer wie hier hatten wir auf keinem Etappenstart. Da soll noch mal jemand sagen, es ginge niemand mehr zur Kur.

Flach beginnt die Strecke bevor kurz darauf der Teufel seine Hand im Spiel hat und von seiner Hölle aus eine Beule in die Erde drückt über die wir jetzt ständig an Höhe gewinnen. Der heftigste Anstieg des BGL. Mit diesmal nur einem Stück Kuchen im Bauch geht es mir gut und es macht richtig Spaß, mit großen und kräftigen Schritten einige Läufer zu überholen.

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Ich freue mich auf gute Luft und Kuratmosphäre in Bad Soden. 1837 begann man, die Sodener Quellen freizulegen. Ab dem 19. Jahrhundert nutzte man die heilende Wirkung des Wassers. Hierzu überliefert ist die Geschichte von einer Kuh: Ständig an einer bestimmten Stelle auf der Wiese Salz leckend, animierte sie die Einwohner zu Grabungen, die einen alten Brunnenschacht und die kohlensäurehaltige Sole ans Tageslicht förderten. Dazu passt das Erlebnis, von welchem uns Walter abends berichtet. Wie die Spitze des Feldes an einer eingezäunten Kuhherde vorbeisticht, gerät eine Kuh völlig aus dem Häuschen, trampelt den Zaun nieder und rast den Läufern hinterher. Ganz klar, warum diese Kuh durchdrehte. Jeder Läufer hat sein eigenes Körperparfüm. Für die einen erotischer Geruch, für die anderen vielleicht nur mutierter Gestank? Die Kuh wähnte sich auf Entdeckung einer neuen Salzquelle.

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Dass heute 460 Läufer durch den kleinen Ort laufen, wundert die Bewohner des Ortes Ahl nicht mehr. Seit jeher sind sie Reisende und Verkehr gewohnt, denn Ahl lag schon immer an der Durchgangsstraße zwischen Frankfurt und Leipzig und galt als eine der wichtigsten mittelalterlichen Verkehrsverbindungen durch Europa. Das brachte den Ortschaften an der Hauptstraße natürlich nicht nur Geld in die Gemeindekasse, sondern auch viel Leid. Die Anwohner blieben in Kriegszeiten von Einquartierungen, Plünderungen und mitgeschleppten Infektionen nicht verschont.

Der Zweite Weltkrieg war fast zu Ende. Von Salmünster und Bad Soden zogen amerikanische Panzerverbände durch das Dorf und nahmen es ein. Außerhalb des Dorfes befanden sich vereinzelt deutsche Soldaten. Diese schossen auf die Panzer und erschossen dabei einen amerikanischen Soldaten. Die Amerikaner nahmen an, dass es sich um eine Beschießung aus der Bevölkerung von Ahl handelte. Die komplette Zerstörung Ahls wurde daraufhin für Ostersonntag um 18:00 Uhr beschlossen. Zur Evakuierung der Bewohner mit ihrem Hab und Gut blieb nicht viel Zeit. Dem zu diesem Zeitpunkt in Kriegsgefangenschaft in Bad Soden lebenden englischen Major Bedding, ist es zu verdanken, dass die Zerstörung des Dorfes abgewendet wurde.

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Zwischen der Ahl und dem kinzigaufwärts gelegenen Steinau erreichen wir den Kinzigstausee. Schwimmen und Baden ist verboten und gleichwohl ist der See für die Anwohner des Kinzigtals ein wahrer Segen, denn der Stausee hat schon manche Hochwasserkatastrophe verhindert. Von nun an heißt es Stirnkappe tiefer in die Augen ziehen, oder Augen zu und durch. Angela liebt diese Art von Strecken. Wenn es nach ihr ginge, dann könnte man die A3 sperren und die liefe sie dann ab.

Damals, „unterwegs von Salmünster blieb der Wagen in einem tiefen Schlammloch stecken, und die Pferde waren nicht imstande, ihn herauszuziehen…“ „…und es war dunkle Nacht, als wir wieder in Steinau ankamen“. 1837 brachte Ludwig Emil Grimm, ein weiterer Bruder der Grimms und Maler, dieses Ärgernis nach seiner Rückreise von Hanau nach Steinau zu Papier. Die Bezahlung von Pflastergeld war üblich. Trotzdem war der Zustand der Kinzigtalstraße streckenweise schlecht. Ein seltener originaler Straßenbelag der alten Straße, in dessen Sandsteinen die von Wagenrädern tief eingegrabenen Rinnen noch deutlich sichtbar sind, kann man sich heute vor dem Brüder-Grimm-Haus ansehen.

Nur noch zwei Kilometer und wir sind in Steinau an der Straße. Tatsächlich hat die Stadt das Recht, sich als Teil der Großen Kulturstraße des Europarates darzustellen und darf somit auch das Logo der Via Regia führen. Große Gefühle vor historischer Kulisse stilvoll in Szene gesetzt. Wie im Spalier empfangen uns die vielen jubelnden Zuschauer, als wir auf das Ziel am Rathaus zulaufen. Läuferherz, was willst du mehr?

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„Ein Märchen hat seine Wahrheit und muss sie haben, sonst wäre es kein Märchen“. Goethe. Damit ist das Märchen gewissermaßen zu Ende, zumindest für dieses Jahr und wie im Märchen siegt das Gute über das Böse und die Liebe über den Hass. Da wird der Schwache stark und der Arme reich. Märchen führen in eine Welt der Erfüllung, wo sich fast alles zum Glücklichen wendet. Wer sich hier als Held bewährt, wird am Ende belohnt. Denn jeder Märchenläufer erhält den Ritterschlag in Form eines Finisher-Shirts.

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Resümee: Jedem Mädchen oder Jungen wurden die Märchen der Brüder Grimm vorgelesen und nach einer landläufigen Meinung sollte jeder Mann in seinem Leben: Einen Baum pflanzen, einen Sohn zeugen, ein Haus bauen. Heute muss man(n) einfach hier gelaufen sein.

Die Organisatoren sind immer auf der Suche nach dem Esel. Wenn das nur so einfach wäre, wie im Märchen „Tischlein deck dich“. Da gibt es einen Esel, der Geldstücke speit, wenn man das Zauberwort spricht. Leider ist das bisher noch niemanden gelungen und umso dankbarer sind alle den über 400 freiwilligen Helferinnen und Helfern, die jedes Jahr eine logistische Meisterleistung vollbringen.

An dieser Stelle möchten wir uns, stellvertretend für die Läuferinnen und Läufern, bei allen Helfern bedanken.

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