Eschollbrücker Ultra-Marathon 2012
Kreislaufschwäche
Schweißausbrüche, Zittern, heißer Kopf, Herzklopfen, hoher Puls… Zeitweise bricht auch schon mal der Kreislauf zusammen. Dir ist schwindelig oder es wird dir schwarz vor Augen? Das kann am Kreislauf liegen.
Man muss schon eine Kreislaufschwäche haben, denn irgendwie ist es bedenklich: Mit 130 anderen Läufern Meter für Meter, Kilometer für Kilometer, Runde um Runde durch das Eschollbrücker Outback zu laufen. Diese Anwandlung käme fast allen Kulturvölkern komplett verrückt vor. Hat es der Arzt verschrieben? Ist das Benzin denn schon so teuer? Rundenlauf ist nicht nur eine Sache der Beine, sondern vor allem des Kopfes. Was sind schon 5 Kilometer? Aber 10 x 5 Kilometer eine echte Herausforderung!
Für die dringend benötigte Motivation, habe ich die Lieblingslaufschuhe und die Lieblingshose angezogen, die Zahl der Cola-Gels verdreifacht. Es ist immer noch leichter einen Wettkampf zu laufen, als Woche um Woche die gleichen Trainingsrunden, auch das ist unsere Motivation.
Für einen gesunden Kreislauf, der vor allem frühmorgens zunächst in Schwung kommen muss, hilft das alte, probate Mittel des leichten Frühsports, das in jedem Alter durchgeführt werden sollte. Bei strahlendem Märzwetter gehen viele zum Sonntagsbrunch; für uns gibt es kaum was schöneres, als sich an der frischen Luft auszutoben. Kurz vor neun: Gleich geht’s rund. Wir sind vorbereitet. Wir haben gestern Abend gut gegessen, gut geschlafen, gut gefrühstückt und wir sind rechtzeitig im Startbereich.
Kein Problem, denn Eschollbrücken liegt vor den Toren des Rhein-Main-Gebietes, genauer im Hessischen Ried und damit fast vor unserer Haustür. Einige Läufer aus der Rhein-Main-Ultra-Szene sind ebenfalls am Start des Sportgeländes des TSV Eschollbrücken-Eich. Ehe man sich versieht, sind wir gestartet und auch schon zum ersten Mal auf dem Anstieg zum Damm. Über zwei Kilometer umrunden wir das Rückhaltebecken auf diesem Damm.
Dann folgt ein Stück, das sich endlos zu ziehen scheint. Nebeneinanderlaufen macht es den Überholenden schwer. Nun ist die Autobahn in Sichtweite. Ein Kilometer durch lichten Wald. Nach einem kleinen Holzunterstand gelangen wir auf einen ungleichmäßigen Wiesenweg entlang der Spargeläcker. Nach einer etwa ein Kilometerlangen Gerade führt die Strecke über eine Schleife und wieder durch den Wald, bevor es am Ortsrand von Eschollbrücken entlang geht. Auch der letzte Kilometer ist eine einzige lange Gerade. Links ruht der Friedhof, rechts der Wald.
Erste Einfamilienhäuser stehen an der Strecke. Von weitem hört man den Zielsprecher und von hier ist auch fast das Ende der Runde erreicht. Wäre da nicht noch die sehr große grüne Wiese. Abtrasiert laufen wir einmal drum herum, und dann noch einmal hin und noch einmal her, bevor wir auf die nächste Runde geschickt werden. Die Läufer, alles Helden am Sonntag, aber keinen scheint es zu interessieren – bis auf die vielen wirklich eifrigen Zählerinnen und Zähler, denen keine Läuferin oder Läufer entgeht. Doch das Ende dieser Runde ist noch nicht das Ende des Laufes.
Erste und zweite Runde: Warmup
Der Kreislauf kommt auf Trab und versorgt Organe und Muskeln mit frischer Energie. Es hat sich herausgestellt, dass ein leichtes, regelmäßiges Sportprogramm in jedem Fall Kreislaufproblemen vorbeugt.
Die ersten fünf Kilometer dieser „Rundreise“ sind schnell geschafft und der Kreislauf in Schwung gebracht. Noch liegt mehr als eine Marathonstrecke vor uns. Nur noch neun Mal auf diesen Damm. Wer hierher kommt will laufen, aus den unterschiedlichsten Gründen. Zuschauer keine, braucht man auch nicht, es sind ja genügend Läufer und Helfer auf der Strecke. Plötzlich sehe ich Bärenspuren im Wald. Familie Feller, die Veranstalter des Bärenfelsmarathons, drehen eben auch ihre Runden. Auch Klaus (Neumann) hinterlässt seine Spuren überall. Gestern verbrachte er eine gute Marathonzeit lang auf der Autobahn (im Stau), während in der Zwischenzeit die Läufer beim Königsforst Marathon ihren Lauf beendeten. So ist er heute ausgeruht und unausgelastet hier mit uns beim Rundendrehen als der Lokalmatador von hinten drängelt, um uns im nächsten Moment zu überholen. Klaus springt zur Seite: „Bitte schön, wir helfen wo wir können…“.
Dritte und vierte Runde: Hinter Gittern
„Ruhig atmen. Ganz ruhig atmen“, wie ein Mantra wiederhole ich innerlich diese Worte. Schließlich tun wir es freiwillig. Keine vier Kilometer Luftlinie von hier befindet sich die Justizvollzugsanstalt Darmstadt. Es ist etwas Besonderes für die Häftlinge der JVA, was am Muttertag 2007, hinter den unüberwindbaren Gefängnismauern abläuft. Die Strecke führt vorbei an Sicherheitsbeamten, an Häftlingen, an Gefangenenhäusern. Der Stacheldraht oben auf der Gefängnismauer ist immer im Blick. In den Häusern sitzen Häftlinge hinter gesicherten Fenstern und jubeln Runde für Runde der ersten Frau begeistert zu. Die erste Frau ist Andrea Helmuth.
Exakt 1,758 Kilometer ist eine Runde lang, geprüft vom hessischen Leichtathletikverband. 24 Mal muss diese Runde absolviert werden. 24 Runden bei den Damen in Führung liegend. So wurde ich gejagt und gehetzt, was mir eine persönliche Bestzeit und den Gesamtsieg der Frauenwertung brachte. Ich genoss den Sieg, wusste ich doch, er würde einzigartig bleiben. Kay erreichte das Ziel nach 3:25 als Gesamt Siebter bei diesem 1. Darmstädter Knastmarathon. Bei diesen Gedanken an einen besonders erfolgreichen Rundenlauf ist die Zeit hier auf der Strecke verflogen. Schon sind weitere drei Kilometer gelaufen.
Kreislaufprobleme dürften wir keine bekommen. Kreisläufe sind für uns nichts Außergewöhnliches. Im Gedanken stelle ich mir diese Läufe vor: 10 x 5 Kilometer über die eisigen und windigen Felder von Rodgau. Verregnete vier Runden beim Leipzig Marathon. Keine nassen Füße bekommt man auf den 2420 Stufen und 55 Runden durch die Gänge und das Treppenhaus beim IndoorMarathon in Nürnberg. Lange ist es her. Fast einen Kreislaufkollaps erlitten wir beim Karnevalsmarathon auf einer Tartanbahn in Bad Drieburg. 105,5 Runden! Bei dieser Vorstellung wird mir jetzt noch schwindlig.
Der Therapie-Effekt des Gedankenschweifens macht sich bemerkbar. Die soeben gelaufenen Kilometer sind nur so verflogen. War das das „Runners High“? Ende der Runde heißt auch die Verpflegungsstation zu erreichen. Wasser, warmer Tee, Cola, Schokolade, Prinzenrolle, Bananen, und, und, und. Wenn ich das Startgeld umrechne, dann komme ich auf schlappe 2,40 EURO pro Runde und das bei dieser Verpflegung.
Ich nehme mir Malzbier. Wir sind an die zwei Stunden unterwegs. Während wir auf die Stadionwiese laufen, höre ich den Startschuss für die 25 Kilometerläufer. Schade, zwei Minuten schneller und wir hätten uns im Sog der frischen und ausgeruhten Läufer mitziehen lassen können. Nach und nach werden wir von den schnellen 50 Kilometerläufern überholt. Dessen unbeirrt, spulen wir unsere Kilometer weiter ab.
Fünfte und sechste Runde: Ich laufe so gut ich kann
Obwohl ich keine Kopfschmerzen habe, ist mir jetzt doch seit einiger Zeit schwindelig. Kein Wunder, laufen wir doch bereits zum fünften Mal die Runde. Bei 25 Kilometern wären wir nun im Ziel. Wie verlockend die Möglichkeit nach jeder Runde auszusteigen. 2004 entschieden wir uns noch für die „Schnupperrunde“. 25 Kilometer sollten reichen. Mein erster und letzter Marathon lag schon fast ein Jahr zurück und ich wollte mich auf den zweiten Marathon in Mainz vorbereiten. Kay, damals noch nicht von mir ausgebremst, rannte und rannte. 1:49:53 Min. 3. AK M35 und zur Belohnung gab es eine Gelbwurst. Meine Freundin Sonja gewann nach 25 Runden in 1:50:23 Min. die Frauenwertung. Jeder, der sich auf die 50 Kilometerstrecke traute, war eine Heldin oder ein Held für mich und irgendwie sehen diese Ultraläufer auch anders aus. Härter, verwegener, vielleicht sogar verbissener? Acht Jahre und eine Menge Laufkilometer später fühle ich mich härter, verwegener aber vielleicht auch verbissener?
Verbissen nehme ich die nächste Runde in Angriff. Allein schon das Wort „Angriff“ sagt viel über meine momentane Verfassung aus: Was macht man gegen Kreislaufprobleme und was gegen orthopädische? Kay schmerzt schon seit einiger Zeit der Rücken und das Bein. Er muss langsamer laufen oder aufhören. Er entscheidet sich für langsamer. Fast haben wir den Ausgangspunkt wieder erreicht. Nicht jammern, handeln, also besser, laufen. Und so läuft ab jetzt jeder in seiner persönlichen Wohlfühlgeschwindigkeit. Doch das ist, unabhängig von der Streckenlänge, ohnehin jedem Läufer zu empfehlen.
Siebte und achte Runde – Geistige Arbeit lenkt von der körperlichen ab
Es ist eine Sinnesfreude, die Wärme und das Licht. Von Kilometer zu Kilometer verkürzen mir Gedanken die Zeit. Und die hat man ja leider nur selten. Wir laufen erneut auf den Damm, dereinst trainierten wir hier in der weiten Ebene des Rieds für den IRONMAN auf dem Rennrad. Wir fuhren vorbei an Spargelfeldern. Ich erinnere mich an schönes braun bis zu den Oberschenkeln, Muskeln, die sich unter den Radhosen abzeichneten. Die ersten kamen aus den Trainingslagern von Mallorca oder Zypern zurück. Alles drehte sich um die gefahrenen Jahreskilometer, wie schnell am Berg? Nicht nur das Rad ist aus Carbon: die Schuhe, der aerodynamische Helm, die Luftpumpe, die farbig verspiegelte Sonnenbrille. In den Speichen der Räder blitzte grell die Frühlingssonne.
Der Tacho der Carbonkampfbomber wurde genullt. Klickpedale klickten. Kay kurbelte vorne locker im 28er-Schnitt, Oberlenkergriff. Mein Windschattengeber. Uns überholte einer, mit großen Kettenblatt gegen den Wind kämpfend. Kay kurbelte nun im 30er-Schnitt, mit dem Oberkörper auf dem Rad liegend. Ich blieb dran. Die anderen auch. Ich fasste meinen Lenker fester. Die anderen offenbar auch. Ein Fehler und man rast seinem Vordermann ins Hinterrad.
Dennoch, wir starteten den ersten Ausreisversuch. Das hier war kein Rennen, nur eine sogenannte RTF, eine Radtouristikfahrt. Es ging um nichts, nur ums Training. Von wegen. Die anderen blieben dran. Bloß nicht in konditionelle Schwierigkeiten geraten. Neben uns beschleunigte einer im Wiegetritt, dem Freilauf wurde kein freier Lauf gelassen. Die Radtouristikmine wurde aufgesetzt. Die Beine fingen an zu brennen und wurden heiß, der Beginn einer Übersäuerung setzte ein. Liegend kurbelte Kay im 31-er, 33er, 34er-Schnitt. Hinter mir schaltete jemand ein paar Gänge nach oben. Durchhalten, nur noch 30 Kilometer bis ins Zielgelände, keine Schwäche zeigen.
Für einen Moment war es tatsächlich möglich, mich vom Laufen abzulenken. Willkommen zurück in der Realität. Aktuelle Symptome: blümerant, schwankend, wankend, schummerig, schwindelerregend. Noch 10 Kilometer to go im Eschollbrücker Outback. Diese Gedankengänge haben mein Tempo angekurbelt. Ich muss langsamer werden, wenn ich nicht als Reanimierungsfall am Wegesrand enden will.
Viel gibt es nicht zu sehen, aber wenn an den ersten warmen Frühlingstagen die ersten Erntehelfer wieder in den weitläufigen Feldern stehen, dann beginnt auch schon bald die Spargelzeit. Erst vor hundert Jahren begann man weißen Spargel in Erdwällen zu ziehen. 1568 stachen Stuttgarter erstmals das Königsgemüse.
Neunte Rund und zehnte Runde – Warum tut man das?
Es ist kurz vor 14:00 Uhr als ich mich auf die letzte Runde begebe. Ich rede mir ein, die zehnte Runde wäre nur noch ein fünf Kilometer langer Zieleinlauf. Von jedem Helfer, Baum, Ast, Stein verabschiede ich mich persönlich. Schließlich sind wir in den letzten Stunden fast schon zu Freunden geworden.
Kein Wölkchen befleckt den Himmel während der Zielsprecher meinen Namen durch das Mikrophon ruft: „Andrea Helmuth von Marathon für dich“ ist im Ziel. Gleichwohl wird auch Kay für seine Mühen belohnt, als er das Ziel erreicht. Jeder Lauf hat seinen eigenen Charakter und seine eigenen Schwierigkeiten. Auch „flache“ Läufe können wehtun.
Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind die häufigste Todesursache in Deutschland. Ich höre jemand sagen: „Merr waas nett, wie lang merr noch lewe dud, drumm mache merr liewer widder hamm – dohie, wo merr herkumme und dess bis nächst Jahr“. Die Siegerehrung findet in der nur 500 m entfernten Sporthalle statt. Wir schauen auf keine Ergebnisliste, obwohl, vielleicht hätte es ja eine Gelbwurst gegeben? Um aber ganz sicher zu gehen, holen wir uns lieber gleich im Zielbereich eine Bockwurst auf die Hand.
Tipp für Herz und Kreislauf:
Mit einem regelmäßigen Training, gesunder Kost und Bewegung bleiben Herz und Kreislauf länger leistungsfähig. Und so bringt ihr euren Kreislauf in Schwung: Stellt euch aufrecht hin, atmet tief ein, und hebt dabei die Arme über den Kopf, oder ihr macht einen Rundenlauf, am besten hier. Denn die Gelassenheit der Läufer, die beruhigende Wirkung des Kreislaufs, die unaufgeregte Art der Organisatoren und deren sorgfältiger Umgang mit den Läufern. Das sind die Qualitäten, die diese Laufveranstaltung auszeichnen und die man nicht hinter vorgehaltener Hand bewerben sollte.