Hallenmarathon Senftenberg
Atemlos durch die Nacht
Der modrige Geruch aus längst vergangenen Zeiten schlägt mir entgegen. Vor mir liegt ein Abend mit deutschen Schlagern zum Mitsingen. Harmlos klingen dagegen schon die 42,195 Kilometer auf einer 250 Meter langen Runde. Das ist aufgrund von Glatteis auf den Straßen, vielleicht die beste Idee und keiner besonderen Erwähnung wert.
Aber was wusste ich schon? Trotz der quietschbunten Beleuchtung und der Extraladung von Effekten ist es etwas düster. Nicht düster genug, um meine Speckröllchen, die meist zu Beginn der Saison über meine hautenge Hose quellen, zu verschleiern. Nicht düster genug, um die abgefahrensten Gestalten an mir vorbeihuschen zu sehen. Man muss schon eine Menge Humor haben, um lächelnd hinzunehmen immer wieder von Aufschneidern in Angeber-T-Shirts mit Körperkontakt überholt zu werden. Um möglichst schnell Kilometer zu machen, walzen so manche Läuferhelden rücksichtslos durch das Läuferfeld. Solange man fett auf die Kacke hauen kann, scheint das Endresultat wohl nebensächlich, meist nicht dauerhaft von Erfolg gekrönt. Bereits seit den 1970er-Jahren fanden die DDR-Hallenmeisterschaften der Leichtathletik in der heute 57 Jahre alten Sporthalle statt. Der bestehende deutsche Hallenrekord im 60-Meter-Lauf der Frauen wurde 1985 mit 7,04 Sekunden von Marita Koch aufgestellt.
Jetzt steht eine andere Dame im Mittelpunkt. Helene kreischt „Atemlos durch die Nacht“. Ich zucke zusammen, schlage die Hände über die Ohren. Lautstärken reduzierter Disco-Fox zum Laufen? Und vor mir liegen noch über 160 Runden! Man muss ausstrahlen, dass man diese Party will. Es klappt einfach nicht. Ich kann es noch so sehr wollen. Würde mich jemand nach meinem Zirkulationsmotiv befragen, was könnte ich sagen? Auf der Sinn-Suche nach mir selbst „fährt ein Zug nach Nirgendwo“. Ihr erinnert euch? Christian Anders. Ein Song, so alt wie der Belag der Tartanbahn. Jedes gespielte Musikstück ist ein Verstoß gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Und dann drückt auch noch in den erhöhten Kurven der zähe Kunststoff meiner Laufschuhe schmerzhaft auf die äußeren Knochen.
Hat der blonde Schmacht-Sänger nicht auch „Geh’ nicht vorbei“ gesungen? Durchhalteparolen für die kreiselnden Massen? Etwa ab der Hälfte fängt das Rundenlaufen an mich zu nerven und ich verliere die volle Aufmerksamkeit und Konzentration, mit der Folge, dass es eben keinen wirklichen Spaß mehr macht. Eine Zeitschleife später haut es mich dann tatsächlich aus der Umlaufbahn. In der Disco war ich doch auch immer diejenige, die am längsten getanzt hat. Und jetzt? Aufhören? Sitzenbleiben? Zuschauen? DNF? Öffentlich angezählt, versagt. Mein Gehirn denkt, das ist kein Problem, mein Herz zuckt dazu nur mit den Schultern. Was ist mit meiner Rolle als Mutter und Vorbild? Eine Ansammlung nicht zu Ende gedachter Eventualitäten.
„Die Hölle muss warten, es ist noch nicht an der Zeit für mich zu geh’n“ trällert es aus den Hallenlautsprechern. Die Rundentafel sorgt für klare Verhältnisse. Ich bin zurück. In Runde 120. Zehn Minuten später und folglich ohne eine ambivalente Erwartungshaltung jedoch stärker als zuvor. Ohne einen weiteren dramaturgischen Wechsel reise ich musikalisch begleitet von Wolfgang Petry in die 80er. Aber ein Rundenlauf ist gnadenlos und unbarmherzig. Wo mich vor mehr zwei Stunden noch die Fraktion der Großmäuler überholt hat, zeigt sich nun der Ein- oder Andere angeschlagen und versunken in grauem Mittelmaß. Dies sind meine Runden der Abrechnung. Getarnt leichtfüßig überhole ich auf der Geraden, um mich dann, kurz vor der Steilkurve, wieder vorne einzureihen. Ich will es ihnen schließlich nicht zu leicht machen. Allerdings ist der Fremdschämfaktor inzwischen deutlich höher, als das Drangsal nachzulassen. Vom Starläufer zum Zombie auf Valium. Die Szenerie begleitet ein Schuss musikalische Dramatik vom Graf. Für mich heißt es Endspurt, nur noch zwei Schlager! Draußen hole ich erstmal tief Luft.
FAZIT: Ein denkwürdiger liebevoll veranstalteter Abend mit einem grandiosen Abschlussbild. Mutter und Tochter auf dem Siegespostest. Wir haben beide unsere Altersklasse gewonnen. Natascha hat sich den 4. Gesamtplatz bei den Damen achtbar erlaufen. Ohne Magenbeschwerden wäre hier sogar eine noch höhere Wertung möglich gewesen. Man darf gespannt sein, was mein Töchterlein in der Zukunft noch alles aus dem Hut zaubert.