Karwendelmarsch 2012
„Auf den Karwendelmarsch, marsch“
„Da ist sie schon, die Meute: dicker Geifer, Keuchen, das Korallenrot der Lefzen und die Bogen der unruhigen Ruten, die die Landschaft peitschen! Schwierig, sie zu bändigen. Sie können sich nicht mehr halten vor Jagdlust, sie schäumt ihnen aus Auge, Schnauze und Fell. Schatten von flüchtigem Wild ziehen vor der Phantasie der rassigen Hunde vorüber, die in ihrem Innern schon in wildem Lauf sind.“
Jose Ortega y Gasset.
„Bei Scharnitz kommt man ins Tirol“
Goethe hatte Recht, als er dies 1786 in seinen „Aufzeichnungen der Italienreise“ schrieb. Hinter dem einstigen Schlagbaum zur Landesgrenze prangt eine übergroße Plakatwand – darauf zu sehen ist ein Steinadler beim „Krallen“ seiner Beute.
„Die Legende lebt“. Vor über 20 Jahren zierte das Logo des Marsches noch gestrickte Socken in Lederwanderstiefeln. Die Anmeldung erfolgte noch an Kartenvorverkaufsstellen, so z.B. in Sportgeschäften. Man kann es sich heute kaum noch vorstellen, wie es vor dem Informationszeitalter war. Wenn man sich über Wochen und Monate mit dem zum Ziel gewordenen Unternehmungen befasste, um dann möglichst an Auskünfte zu gelangen. Dann aber auch noch in Bildern zu graben oder vielleicht sogar an eine Starterliste zu kommen, war gar nicht möglich.
Eine wahre Fundgrube für besondere „Schätzchen“ ist das „Infozentrum Karwendel“ in Scharnitz, der Startort des „Karwendelmarsches“. Dort bewahrt man alte Dokumente, Zeitschriften und Artikel die den Ort und die umliegende Gegend betreffen, fein säuberlich in Ordnern auf. Meine Freude ist besonders groß, als ich eine alte Teilnehmerliste von 1990 aufstöbere. Es ist bereits die 22. Austragung und es ist die Zeit der Dauerwellen, „Vokuhila“ und „Oliba“, der grauen schlapper Jogginghose und Aerobic mit Jane Fonda. Ich bin Neugierig, vielleicht finde ich den Namen meines Vaters auf der Liste, der zu damaligen Zeiten an vielen sogenannten Internationalen Volkswanderungen teilnahm. Ihn finde ich leider nicht darauf, aber einen anderen, uns allen guten Bekannten: den damals 40jährigen Baden-Badener Klaus Duwe, der den 7. Platz seiner Altersklasse belegte. Auch Teilnehmer unter anderem aus den Niederlanden, Frankreich und der Deutschen Demokratischen Republik waren darunter.
Heute ist ein besonderer Tag
Für die Dauer eines Wochenendes wird Scharnitz künstlich beatmet. Der Ort liegt in Österreich an der Grenze zu Bayern. Nach Norden bilden Wetterstein und Karwendel eine natürliche Sperre. Das Jahr 1969, zwei große Ereignisse: Der erste Mensch, Neil Armstrong, ist gerade auf den Mond gelandet und wie wir abends aus den Nachrichten erfahren, verstarb er heute im Alter von 82 Jahren. Das zweite Ereignis des Jahres 69 ist die Prämiere des „Karwendelmarsches“. Gestern ist heute und heute ist gestern. Die Legende lebt und die Geschichte dazu auch. Die glorreichen Schlachten, die Treue zum Vaterland, die alten Helden, die Demut vor der Strecke. Ein Karwendelmarsch-Teilnehmer ist so eine Art wandelndes Zeitfenster, die vergangenen Jahrzehnte ins Herz gebrannt. 19 Jahre lang fand der Fußmarsch von enormer Ausdehnung keine Fortsetzung. Seit 2009 haben die Brüder Martin und Markus Tschoner von der Tourismusorganisation Achensee Tourismus und Olympiaregion Seefeld es geschafft, den „Karwendelmarsch“ neu aufleben zu lassen. Man wird kaum jemanden in der Region finden, der diesen Lauf nicht kennt.
Die Aussichten sind durchwachsen
Die ganze Woche ist es im Karwendeltal brütend heiß. Für den Samstag verspricht die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik Innsbruck eine Störungszone.
Im Klartext heißt das: Nachmittags müssen wir mit Regenschauern und Gewittern rechnen, vorsichtshalber wurden bereits bei der Startnummernabholung DIN A 4 Plakate mit „Verhaltensmaßnahmen bei Gewitter“ ausgehängt. Noch bin ich aber optimistisch. Bei der Startnummernausgabe ist nicht viel los. Wir sind Nachmelder, aber da die Ersten. So bekommen wir die Startnummer 1 und 2, mit diesen Startnummern werden wir uns im Laufe des Rennens noch viele Sprüche einfangen.
Die Stimmung ist erwartungsfroh gespannt
Kleine Scherze beruhigen die Nerven und werden dankbar belacht. Um sechs Uhr soll es losgehen. Der Rucksack ist gepackt – das volle Programm: Regenjacke, Handschuhe, Mütze, Getränk und Powergels. Das Mobiltelefon ist geladen zum Rufen der Bergwacht im Notfall. Um 4:15 Uhr klingelt der Wecker, eine Dreiviertelstunde später sitzen wir gemeinsam mit etwa 10 Läufer oder Wanderer beim Frühstück. Der Kaffee ist bereits auf dem Tisch und das Frühstücksbüfett mehr als ausreichend. Um 5:30 Uhr chauffiert uns der Wirt in seinem Sammeltaxi sehr bequem bis direkt vor den Startplatz. So viel Service erlebten wir in den letzten Jahren nur selten. Tipp: Hotel Ramona in Gießenbach, ca. 2 Kilometer von Scharnitz entfernt.
Aufbruch zur Jagd
Es ist Ende August, eine verregnete Nacht liegt hinter uns. Regen nährt den Mythos vom sanften Charme und Zauber des in Wirklichkeit rauen, manchmal groben „Karwendelmarsches“. Scharnitz liegt auf 964 m ü. M. dennoch ist es nicht kalt. 130 Jahre alpintouristische Geschichte und jährlich ca. 1,1 Mio. Besucher im Karwendelgebirge.
Gleich werden nochmals über tausend Langläufer und Langmarschierer auf die 35 oder 52 Kilometer lange Strecke gehen, die gespickt ist mit 2.300 Höhenmetern, diese nur im Aufstieg, wohlgemerkt. Die hier am Start stehen, zieht es immer wieder hinaus ins Revier, um zu siegen oder zu jagen. Und die Jagd muss nach strengen Regeln ablaufen, Schäden für Land- und Forstwirtschaft sollen möglichst vermieden werden.
Das Ziel der Jagd ist auch hier die Beute. Schon das Mittelalter machte die Jagd zum ritterlichen Spiel und Zeitvertreib. Aber wen oder was jagen wir heute? Ja und warum eigentlich? Zum lebensnotwendigen Nahrungserwerb, der über viele Jahrtausende Grund für die Jagd des Menschen lebensnotwendig war, bestimmt nicht. Es müssen schon andere Gründe vorliegen, die die Läufer heute dazu bringen, den gemütlichen Stuhl vor dem Fernseher zu verlassen und bei Wind und Wetter oder vielleicht auch Sonne und Hitze stundenlang, zum Teil durch unwegsames Gelände, unter oft großen körperlichen Anstrengungen bewegen hier den anderen Läufern hinterherzujagen. Eine Unruhe aus weit zurückliegenden Zeiten, ein archaischer Trieb, der noch nicht in jedem von uns erloschen ist.
Wer sich der 52 Kilometer langen Qual aber immer wieder stellt, der ist ergriffen vom sogenannten Karwendelvirus. Von diesem Virus war schon 1500 Maximilian, Kaiser und Landesfürst befallen. Hirsche und Gemse wurden mit Armbrust und Messern erlegt. Die verwegenen Nordic-Walker bewaffnen sich heute mit Carbon-Stöcken und kämpfen sich schon mal tapfer in die erste Reihe. Kaum sind alle zum Start bereit, öffneten sich die Himmelsschleusen, als ob der Himmel die Karwendelmarsch-Debütanten taufen möchte. Es ist 5:59 Uhr, da kracht ein Schuss, ein Donnern hallt durch das stille Tiroler Oberland.
Die Jagd beginnt
Wer hat sie aufgescheucht und vor was hetzen sie davon? An einem Tag im Jahr, wenn mit dem ersten Schein der Sonne die Waldläufer durch Ahornwälder des Karwendeltals streichen, müssen sich die Wanderer in Acht nehmen.
Es sind ganz bestimmte Plätze, wo man sie immer wieder erwarten kann. Dort werden sie den morgendlichen Wald kurzzeitig besetzen. Ganz vorne sprinten elegant die Superstars, engagierte Langläufer folgen mit flottem Tempo gefolgt durch ein großes Heer von Hobbyläufern. Ebenso sind Marschierer mit Trekkingstöcken unterwegs, dass die Luft zittert vom Klackern des Metalls auf dem endlosen Band aus Schotter. Früher haftete Wandern das Rentner-Image an. Man erkannte den Bergwanderspezialisten an der Anzahl von befestigten Wandernadeln auf seinem Wanderstock. Ambitionierte Väter in Kniebundhosen zwangen ihre Sprösslinge immerhin auf zünftige Wanderungen über Stock und Stein. Lycra- oder Lederhose – jeder trägt seine Ausgehtracht, die aktiven Läufer und Wanderer meist Finisher-Shirts. Die Tage erst habe ich ein Finisher-Shirt von der „erfolgreichen“ Besteigung des Kilimandscharos gesehen. Und während die Profis und ambitionierten Läufer um Sekunden und Siegprämien kämpfen, freuen sich die vielen Amateurläufer schon wenn sie nur das Ziel erreichen. Uns geht es gut und ich bin mir sicher, keine Schwierigkeit wird uns heute in die Knie zwingen.
Vom Gemeindehaus in Scharnitz laufen wir, geleitet vom Glockengeläut und im Schein von Straßenlaternen, einen unscheinbaren Weg in Richtung Osten hinauf. Die letzten Häuser haben wir schnell hinter uns gelassen. Wir bemerken gar nicht wie es langsam hell wird. Ich sehe eine große Holztafel „Karwendelhaus“, „Falkenhütte“. Nun bleiben wir die gesamte Strecke durchs Karwendeltal auf diesem Weg. Vom Nebel vergrößert ziehen die vielen bunten Farbtupfer hinaus. Im Wald schnauft, trappelt und knackt es. Wind rauscht in den Bäumen. Leicht ansteigend machen wir so die ersten 206 Höhenmeter bis zum ersten Verpflegungspunkt an der Larchetalm (1173 m ü. M.).
Wie die Jäger in früheren Zeiten, so erhalten wir hier auch unseren Lohn in Naturalien. Außer diesem Jägerrecht erhielten die Jäger je nach den Umständen und Verhältnissen pro Jahr mehrere Stücke Wild als Deputat. So bekamen in Tirol die Hilfsjäger jährlich zwei Gamsböcke, die sogenannten „Hosengams“, weil sie sich aus der Decke die kurzledernen Hosen machen ließen. „Träume leben“ so simpel lautet die Botschaft eines Wander- und Trekking-Ausrüsters in dem wir heute unsere Hosen kaufen können und in dem ich schon so manchen EURO gelassen habe. Ein laminiertes Schild informiert uns über das Soll und Haben unseres Laufes.
Bisher gelaufen: ca. 9,1 KM
Noch zu laufen: ca. 42,9 KM
Die Via Alpina (E4), führt durch das Karwendeltal. Über eine Forststraße führt die Strecke in gemütlichen Windungen immer am rauschenden Karwendelbach entlang. Hinter uns laufen drei junge Burschen. Ich versuche krampfhaft die Sprache zu erkennen in der sie sich unterhalten. Als sie uns überholen, lese ich auf ihren Shirts irgendwas von Tirol. Wir laufen, manchmal auch gehend, bis zur Jagdhütte „Angeralm“.
Von hier könnte man bereits das Karwendelhaus hoch droben erkennen. Heute liegt es noch versteckt im Nebel. Erwartungsgemäß wird der Weg hier steiler. Der Regen ist jetzt wieder so stark, dass er unsere klitschnassen Klamotten wie eine zweite Haut anklebt. Selbst mit der Unterwasserkamera werden die Fotos an diesen Stellen unscharf. Karlheinz Kobus schwärmt mir von seinem diesjährigen Lauferlebnis in Island vor und so staune ich nicht schlecht, als wir bereits auf 1.771 m ü. M. am Karwendelhaus angelangt sind. Sie ist die Schutzhütte des Deutschen Alpenvereins. Am Wochenende, wenn hier auch noch die Bergsteiger kommen, ist es dort richtig voll. Die höchste Erhebung, die Birkkarspitze (2749 m) im Karwendelgebiet, versteckt sich, wie in fast jedem Jahr, im Nebel. Fast könnte man meinen, der Berg wäre nur eine Sage. Von dieser Hütte aus starten zahlreiche Touren und Gipfelbesteigungen.
„Holareididudjö“ tönt der Gipfeljodler. „Der muss doch oan Knall haben…“, staunte der Hüttenwirt vom Karwendelhaus nicht schlecht, als vor etwa 40 Jahren der Brandtner Franz, Bergführer aus Mittenwald, mit dem Fahrradl vor der Türe stand. Sie fahren nicht Rad, sondern sie „biken“. Gruppen bunt behelmter Köpfe rasen auf ihren Mountainbikes hinunter …. Mittlerweile freuen sich auch die Hüttenwirte über die neue Zielgruppe, die die Biker in die Region lockt, da das Karwendelhaus verhältnismäßig leicht mit dem Mountainbike erreichbar ist.
Vom VP 1 bis VP 2 haben wir immerhin 598 Höhenmeter gemacht. Auf dem laminierten Schild lese ich:
Bisher gelaufen: ca. 19,2 KM
Noch zu laufen: ca. 32,8 KM
Er ist mir dicht auf den Fersen. Zweige zerbrechen knackend unter seinen Laufschuhen oder biegen sich raschelnd beiseite, als ich mir einen Weg durch das Gestrüpp bahne. Kay flucht unterdrückt, ich höre es trotzdem. Ich höre seine Stimme, seinen Atem und den Auslöser seiner Kamera. Der Jagdtrieb ist nicht nur in uns, sondern auch bei den anderen Läufern erwacht.
So schön das Neonorange im dichten Nebel leuchtet, zum Verstecken in so manch dringender Situation sind sie völlig ungeeignet. Wir laufen weiter. Nur noch ein kleines Stück über den weichen nassen Wiesenteppich des Kleinen Ahornbodens mit seinem knorrigen Baumbestand vor dem Hintergrund der abweisend schroffen Karwendelwände. Deutsches Liedgut geistert mir über im Kopf herum. „Im Frühtau zu Berge…“. Nur das Fallera will mir bei dem Regen nicht so recht über die Lippen kommen.
Von weitem schon sehen wir die rote Bekleidung der Bergwacht und die weißen Pavillons, wo man schon heißen Tee für uns bereithält. Wir befindet uns auf 1.399 m ü. M. Während ich mir die Wangentaschen wie ein Hamster mit Keksen vollgestopfte, laufen wir fast an dem Denkmal, welches unauffällig und verwittert am Waldrand steht, vorbei. Es ist der Gedenkstein für Hermann von Barth. Im Grunde befindet sich der Gedenkstein genau in der Mitte seines Tuns, denn das Karwendelgebirge war Hermann von Barth´s (1876 verstorben) Lieblingsspielplatz. Von den Berchtesgadener Alpen bis zu den Allgäuer Alpen hatte er im Alleingang über Achtundachtzig Gipfel, darunter auch zahlreiche Erstbesteigungen vorgenommen, diese nur innerhalb weniger Sommermonate.
Abwärts laufen wir weiter bevor wir ein ausgetrocknetes Schotterbachbett queren. Hier am Kleinen Ahornboden rollen an schönen Tagen von allen Seiten die Radler an. Ein paar hartgesottene Biker schieben ihre Mountainbikes über den heute stillen Winkel hinweg.
Wir kommen aus einemlichten Wald. Vor uns weiden Kühe in den mit saftigen grünen Berghängen. Ein älterer Mann mit Hirschlederhosen und Lodenjacke und graumeliertem Bart, sein Gesicht rot wie eine Alpenrose, sitzt vor der traumhaft schönen Ladizalm, welche mit Jagdtrophäen geschmückt ist und verfolgt die Zeremonie. Ein Bild wie aus „Heidi“. Der Geschichte vom kleinen Mädchen, das das Leben in der großen Stadt Frankfurt nicht aushält und sich nach Natur und ihren heimatlichen Bergen sehnt… „Kommt‘s gut rüber“ ruft er uns noch nach.
Über saftige Almmatten aus Gras schlängelt sich der schmale Pfad weiter. Nur langsam machen wir Höhenmeter. Je höher wir kommen, desto schroffer und felsiger wird die Landschaft.
Traumhafte Szenerie unter den Lalidererwänden
Der steile Aufstieg beschleunigt den Herzschlag. Dann, im Nebel tauchen sie auf. Erst diese gewaltige Steinmauer der Lalidererwände, dann die wohl schönst gelegene Hütte der Ostalpen, die Falkenhütte. Drei Dohlen ziehen ihre Kreise in der Hoffnung, von der Gipfel-Brotzeit der Bergläufer einen Krümel abzubekommen. Eine setzt sich auf das Hüttendach. Sie plustert sich auf – ihr Zwitschern klingt wie hämisches Gelächter.
Noch gestern sah ich in meiner Vorstellung den Gipfel wie ein Werbeprospektbild vor mir: Ich stehe oben auf dem Berg, genieße die Aussicht, der Wind zerzaust mein Haar, die Wolken treiben… willkommen in der Realität! Es ist kühl, Nieselregen und nicht die Sonne sondern nur der Tee wärmt und die tolle Stimmung der Helfer. Im Hintergrund läuft Volksmusik und eine warme Haferflockensuppe mit Gemüseeinlage lässt den Nebel vergessen. Ich habe sogar das Gefühl, ich bin gerade an der schönsten Stelle der Welt – zumindest ist es die höchste Stelle des Laufes. Adolf Sotier war es, der bereits 1919 bei der Forst- und Domänendirektion in Innsbruck um Zustimmung einer bewirtschafteten Hütte bat. Jagdherrliche Bedenken waren es, die den Bau einer, damals noch Selbstversorgerhütte, verzögerte. An Pfingsten 1924 war es endlich soweit, die Hütte nahm erstmals den Betrieb auf und seit 1964 wurden die Kerzen durch Glühbirnen ersetzt.
Mit 28 Zimmern und 120 Matratzen im Lager sollten wir auch bei einem plötzlich eintretenden Gewitter Schutz finden, dies wäre dann Bergromantik pur. Der Nachteil, eine Übernachtung muss lange im Voraus gebucht werden. Für Freikletterer ist das Gebirge zu brüchig und die Anstiege bis in die Wand zu lang, für Hüttenwanderer ideal. Die noch immer über uns drohenden Wolkenberge sagen uns, dass sich der Abstieg nicht länger hinausschieben lässt; leider.
Bisher gelaufen: ca. 32 KM
Noch zu laufen: ca. 20 KM
Nur noch 20 Kilometer bis ins Ziel. Uns geht es noch immer außerordentlich gut. Die Haferflockensuppe gibt noch Energie dazu. Angenehm laufen wir auf einem Fahrweg hinab. Eine schwarzweiße Kuh kaut ihr immerwährendes Mahl und schaut uns zu. Ein Jungvieh läuft mit mir um die Wette – irgendwann gibt es auf.
Hinunter zum Spielissjoch lassen wir es rollen, auch wenn die Gefahr umzuknicken recht groß ist und die/der ein- oder andere tatsächlich mit einem dicken Knöchel das Rennen beenden muss, denn es ist steil und steinig.
Wir sind über der Baumgrenze. Es macht einfach Spaß mit flottem Tempo die Laliderer Reisen zu queren, wir sind im „flow“. Ein Blick zurück lohnt sich. Ein Schild steht in der Natur „Gesperrt für Mountainbiker“.
Der Regen ist wieder stärker geworden – hatte es überhaupt mal aufgehört zu regnen? Weiter leitet die gut ausgeschilderte Streckenführung, die schon von weitem gut zu erkennen ist, über Wiesen und durch Mischwald sanft abwärts bis ins Almdorf Eng.
Das Karwendelgebirge ist eines der größten und schönsten Naturschutzgebiete (730 Quadratkilometer auf Tiroler Gebiet, 190 Quadratkilometer auf bayerischem) in der Mitte Europas. Und irgendwie will jeder mal hier gewesen sein, bei der Kas- und Speckalm, die zum gastronomischen Großbetrieb in Eng gehört. Bei Kilometer 35 laufen wir über die Zeitmessmatte. Für die 35-Kilometerläufer oder Marschierer ist der Lauf hier zu Ende. Ein Shuttle-Bus fährt sie zurück. Die Strecke fordert auch von so manchen ihren Tribut und auch diese haben hier die Möglichkeit aus dem Rennen zu gehen. Teils freiwillig, teils unfreiwillig. Es kommt doch tatsächlich immer wieder vor, das sich „unerfahrene Sportler“ auf den langen Weg ins Gebirge wagen in kurzen Shorts und kurzem Hemd – trotz Gewitterwarnungen am Vortag. Am Ende haben wir auch unsere Handschuhe, Wechselsocken und Jacken nicht aus dem Rucksack holen müssen, aber lieber trage ich dies unbenutzt auf meinem Rücken bis ins Ziel. Mir fehlen für so etwas die Worte.
Die Milch macht´s
Wir selbst ernannten Individualisten treffen hier auf „müde“ Menschenmassen und ihre „müden“ Vergnügungen wie: mit dem Auto ins Naturschutzgebiet fahren, dort den Bauch voll hauen, kurz in die Runde schauen, über uns Läufer den Kopf schütteln und dabei über ihre eigenen Zipperlein jammern. Am Ende des Tages werden sie noch vor uns unten am Achensee sein und erneut über uns den Kopf schütteln. Sie sitzen dann bei einem kühlen Bier und erleichtert werden sie feststellen, wie anstrengend doch der Tag war und wie müde die frische Luft in der Natur macht.
Hier in der Eng gibt es nicht nur die neuen Anbauten, sondern tatsächlich schon seit Jahrhunderten bäuerliche Bewirtschaftung. Jetzt im strömenden Regen sitzt niemand auf der Sonnenterasse und lässt sich die frische Almmilch schmecken. In der Saison werden hier bis zu 550.000 Liter Milch verarbeitet. Kein Wunder, denn hier ist die größte Melkalm des Landes, Butter und der Käse werden vor Ort verarbeitet. Beim Weiterlaufen bekommen wir endlich den ersten Adler zu sehen. Er ist aus Plexiglas und nass vom Regen.
Bisher gelaufen: ca. 35 KM
Noch zu laufen: ca. 17 KM
Nun geht es über einem breiten Fahrweg nach oben in Richtung Binsalm. Wo noch vor ein paar Wochen prächtig die Alpenrosen leuchteten, verwandelt der andauernde starke Regen die Staubpiste zwischen den abgeblühten Alpenrosenfeldern zum Schlammpfad. Die hellbraune Erde klebt in dicken Klumpen an meiner rotgelben Sohle.
Wie kommst du denn zu so einer Startnummer? Ständig werde ich auf meine Startnummer 1 angesprochen. Irgendwann antworte ich: „Ich habe das Rennen im letzten Jahr gewonnen“ – das nennt man dann wohl Jägerlatein.
Die Binsalm
Die Buam an dieser Verpflegungsstelle sind besonders gut gelaunt, aber das sind wir nach circa 37 Kilometern auch noch. Wir sind auf 1.502 m ü.M. Sie rufen uns hinterher: „Nur noch 350 Höhenmeter auffi!“ Von da an geht’s nur noch bergab bis ins Ziel. Die „350 Höhenmeter auffi“ haben es in sich. Sehr, sehr mühsam kriecht ein Pfad nach oben, nimmt hier eine Kurve nach links, dort eine nach rechts, schiebt sich ein elend langes Stück den Berg hoch und ist doch noch immer nicht oben angelangt.
Und als liefen wir in der Pinkelrinne Gottes, so kommt uns das Regenwasser entgegen. Strecken wie diese fordern Geduld und das Vergnügen des Bergablaufens muss man sich erst hart verdienen. Während ich selbstvergessen vor mich hin aufsteige, fotografiert Kay die Läufer.
Dabei haben wir uns irgendwie unbemerkt in die Höhe geschraubt. Die Bergwacht oben klatscht Applaus. Zur Belohnung geht es nun wieder runter.
Gramai Hochleger
Plötzlich aber, wie aus dem Nichts, vertreibt der Wind die Wolken. Die Sonne strahlt. Wir auch. Die Wärme tut gut, dem Körper und der Seele. Wir sind am Gramai Hochleger auf 1.756 m ü. M. angelangt. Regen tropft von den zusammengefalteten Sonnenschirmen. Es ist leer auf der Sonnenterrasse. „Hoaßnocken“ ein Teig aus Mehl, Salz und Wasser war die tägliche Kost der Holzarbeiter und einfacher wie die, die wir heute an jeder der insgesamt zehn Verpflegungsstellen erhalten.
Jedoch ging kein Karwendeltäler Holzarbeiter ohne seinen Schnaps in den Wald. Ich setze mich. Wer kann schon bei einer Auswahl von frischem Bauernbrot belegt mit Schinken, Käse oder Wurst, Gemüse-, Heidelbeer- und Haferflockensuppen, Keksen, Müsliriegel und Obst wiederstehen? Schade, Kay ruft, dass es weitergeht und ich muss meine gerade erst begonnene Schlemmermahlzeit schon wieder beenden. Tatsächlich ist dies unser erster Ultramarathon, bei dem unsere hochkalorischen Powerenergieprodukte im Rucksack bleiben.
Bisher gelaufen: ca. 43,6 KM
Noch zu laufen: ca. 8,4 KM
„Gefahrenstelle“. In einer einzigen „Rutschpartie“ schlittern wir steil abwärts. Gut geschnittene Fußnägel sind von Vorteil. Die Oberschenkel brennen. Ich fühle mich wie gehetztes Wild. Hin und wieder verfange ich mich in den Wurzeln und fühle mich wie eine leichte Beute. Mist, wir werden überholt.
Jagdregel: „Man schießt kein Wild an der Fütterung“
Nach 493 Höhenmetern im Abstieg sind wir nun an der Gramaialm auf 1.263 m ü. M. angekommen. Ich blicke mich um. Gipfeljause auf einer Anhöhe, die, wenn auch auf einer separaten Straße, mit dem Auto oder dem Nostalgiebus erreichbar ist. Großes Halali. Halali stammt übrigens aus dem französischen „Ha, la lit!“ und heißt so viel wie: „Sieh, dort liegt er“, der Hirsch auf dem Teller. Im Zeitalter der Mobiltelefone haben die Jagdsignale nicht mehr die zentrale Bedeutung wie zu früheren Zeiten. Zünftig gekleidet mit Lodenjacken und Bauchranzen sitzen sie vor ihrer Brotzeit.
Vielleicht haben einige von ihnen hier übernachtet, in Zimmern mit Namen wie: Murmeltierhöhle oder Almrausch – pauschal zu buchen, auch als Almkuscheltage für zwei. Über einen Naturwanderweg und gut bewässerten Almwiesen laufen wir nun in Richtung Achensee.
Bisher gelaufen: ca. 43,6 KM
Noch zu laufen: ca. 8,4 KM
Nach weiteren 186 Höhenmetern im Abstieg sind wir an der Falzthurnalm. Von hier ist der Weg durchwegs befestigt und ein ebener autofreier Wanderweg führt direkt bis nach Pertisau.
Bis ins 19. Jahrhundert waren Luchse und Bären hier heimisch. Die Bären haben großen Schaden angerichtet jedoch sicherlich nicht mehr als die großen Touristenscharen der heutigen Zeit. Der letzte Bär wurde 1898 erlegt. Er soll die Pertisauer Almen und Schafherden unbegreiflich zerstört haben. An einem kleinen „Hüttchen“ verkauft ein Bauer frischen Käse, kurz darauf folgt ein sehr großer Parkplatz, dieser ist jedoch fast völlig frei. Vielleicht, so denke ich mir, hätte ich dem Bauern etwas Käse abkaufen sollen? Aber wer weiß, vielleicht hätte ich am Ende statt einem Stück Bergkäse nur noch Käsefondue im Rucksack, denn die Sonne zeigt endlich ihre volle Stärke.
Bisher gelaufen: ca. 47,3 KM
Noch zu laufen: ca. 4,7 KM
In einiger Ferne taucht die Dreifaltigkeitskirche am Ortsrand auf. Wir laufen in den vorbildlich gepflegten Ort Pertisau. Vier Sterne Hotels mit Balkonen aus schwerem, dunklem Holz und üppig bewachsenen geranienbehangenen Blumenkästen am Wegesrand. Gestört wird das pittoreske Bild nur durch die Läufer, gefolgt von den Marschierenden, die seit Stunden vereinzelt oder hin und wieder in Grüppchen, durch die Straßen laufen.
Im Herzen des Ortes erkenne ich schon den Zielkanal und ein prächtiges Gebäude. Wie ich später erfahre, wurde das Haus 1446 von Herzog Sigmund der Münzreiche erbaut. Er nutzte das „Fischergut“ zur leichteren Ausübung von Jagd und Fischerei. Heute dient es den Sportlern zur Gepäckaufbewahrung. So schließt sich der Kreis.
Mit lauter Musik und begleitet vom klatschendem Publikum laufen wir wie Helden nach erfolgreicher Jagd ins Ziel. Und würden wir jetzt einfach weiterlaufen, dann könnten wir nach circa 200 Metern direkt in den glasklaren Achensee springen, auf dem gerade zwei Dutzend Segelboote sich vom lauen „Lüftchen“ treiben lassen.
In der Nähe des Sees riss 1917 eine Lawine die gesamte Steinölschwefelanlage auf den damals zugefrorenen Achensee. Nun liegt am Boden des 177 Meter tiefen und 9 Kilometer langen See. Das Museum „Tiroler Steinöl Vitalberg“ befindet sich direkt am Zielbereich. Nur ein paar Meter weiter durch den Ort und wir stehen unter dem heißen Wasser im Dusch-Container.
Wurzelnde Idee
Es geht hier zwar nicht mehr um die Aufbesserung eines kärglichen Speisezettels durch gewildertes Fleisch, sondern um Trophäen. Der diesjährige Sieger, Markus Reich, benötigte für die 52 Kilometerstrecke 4:40:04 Std. Die erste Frau, Ildiko Wermescher, benötigte nur 5:32:22 Std und lief, nur mal so am Rande, in meiner Altersklasse.
Als Trophäe erhält jeder von ihnen einen jungen Bergahornbaum. Für 300,00 EURO haben aber auch wir die Möglichkeit, eine Patenschaft für ein nachgepflanztes Ahorn zu übernehmen – mit Namensschild und Widmung. Eine schöne Idee, denn damit unterstützt man auch die verschiedenen Naturschutzmaßnahmen am Ahornboden. Vor vielen Jahren erhielt jeder Läufer und Marschierer, der das Ziel erreichte, ein sogenanntes Leistungsabzeichen. Für Trophäenjäger gehören zur kompletten Zimmerausrüstung das edle Geweih eines kapitalen Hirsches an die Wand, wie für uns die Medaillen an die Garderobe.
„Am Karwendelmarsch regnet es immer“ sagen die, die schon dabei waren. Wer sich trotzdem darauf einlässt, ahnt das Grauen und erlebt das Wunderbare. Sonnenschein im Zielbereich. Irgendwann steigen wir in einen der bereitstehenden Shuttle-Busse und werden bequem in knapp eineinhalb Stunden zurück nach Scharnitz chauffiert.
Resümee: Das Kulterlebnis „Karwendelmarsch“ sollte sich niemand entgehen lassen. Dieser großartige Lauf bleibt, auch ohne Zuschauer am Waldrand, ein phantastisches, spannungs- und abwechslungsreiches Naturerlebnis, für alle – egal ob Jäger oder Gejagter.
Während noch der Mond den Großen Ahornboden beleuchtet und dessen zum Teil fünfhundert Jahre alte Bäume leise im Morgenwind flüstern, werden wir am übernächsten Morgen um 5:00 Uhr vom Dröhnen der startenden Flugzeuge aus dem Schlaf gerissen. Zurück aus dem „Heidiland“ und Willkommen im Frankfurter Flugverkehr.