Monschau Ultra-Marathon 2014
Mord(s) Eifel
Für einen kurzen Moment stockt das Herz. Denn in der vorgetäuschten Mittelgebirgsidylle oder in der tiefsten Provinz der Eifel wird auch schon mal ein Landstreicher erschlagen.
Die Eifelregion muss ein düsterer Landstrich sein. Oder langweilig. Am Ende gar beides? Warum wohl wird von dort der Stoff für viele Mord-Geschichten geliefert? Vielleicht, weil sie sich in die schaurige Landschaft des Moores gut ansiedeln lassen? „Nichts ist so spannend wie ein Mord am schönsten Arsch der Welt“, meinte der bekannteste Autor von Eifel-Krimis, Jacques Berndorf. Jedenfalls sind die Regale der Buchhandlungen über und über gefüllt mit Regionalkrimis und Erfahrungsberichten über das „Wilde Deutschland“. Wolfgang Niedecken glaubt gar: „Die Eifel ist der Wilde Westen Deutschlands!“ Wenn man den Krimischreibern Glauben schenkt, müsste es doch unheimlich sein, in diesem Landstrich zu leben, geschweige denn zu laufen.
Fun Run
Und wirklich, bereits am Freitag bei dem gemeinsamen „Fun Run“, der vom Laufteam des TV Konzen am Sportpark, sozusagen als „warm up“ geboten wird, erfahre ich die erste Kriminalgeschichte. Gerade noch rechtzeitig angekommen, geht es um 18:30 Uhr auf kurzweiligen sechs Kilometern im ständigen auf- und ab durch das beeindruckende Heckenland und vorbei an der schaurigen Höckerlinie – wie man die Panzersperren am Westwall auch im Volksmund nennt. Wie Grabmale mahnen die moosüberwachsenen Steine. Für die meisten der kleinen Fun-Läufer-Gruppe ein gewohntes Bild. Auswärtige wie ich staunen bei der Story, die sich einige erzählen: Es handelt sich um einen Banküberfall, der sich heute in Höfen ereignet haben soll.
Fast hat es den Anschein, als sei was dran an den Eifel-Krimis, oder warum ziehen sie immer mehr Leser an? Vielleicht kann ich dieser Frage ja beim Monschau Ultramarathon etwas näher kommen. Immerhin führt dieser über sechsundfünfzig hügelige Kilometer im deutsch-belgischen Grenzland durch das Gebiet um den Naturpark Hohes Venn sowie durch das Gebiet rund um den Nationalpark Eifel. Die Strecke ist ein Rundkurs mitten durch Deutsche Puppenstubenromantik in Monschau, durch das Jagdrevier und der Bettstatt Kaiser Karls, auf Schmugglerpfaden über sumpfige Moorlandschaften und zurück zum Start/Ziel auf dem Konzener Dorfplatz, übrigens der ältesten Siedlung der Region. Mehr, denke ich, braucht es auch nicht für eine gute Geschichte.
Tatortbesichtigung
Während man bei Marathonläufen wie beispielsweise in Frankfurt oder Berlin die Anonymität der Großstadt schätzt, genießt man hier fast schon die Intimität unter Gleichgesinnten. Dabei spielt auch das bunte Rahmenprogramm neben dem Laufen eine große Rolle. Die Veranstaltung ist DAS Sportevent der Region. Seit 38 Jahren, einmal im Jahr von Freitag bis Sonntag, wird Konzen künstlich beatmet. In den Gassen spürt man es nicht unbedingt, der Dorfplatz hat sich jedoch komplett sportlich herausgeputzt. Neben einer kleinen Marathonverkaufsmesse erhält man hier die Startnummern, einen Starterbeutel mit diversen Flyern und ein schönes passendes (!) Funktions-Shirt, auf dem netterweise jeder durch den Aufdruck bereits als Finisher erkennbar ist.
In dem geräumigen, bunt geschmückten Festzelt beginnt heute am Freitag ab 20 Uhr eine 80er Jahre Rockfete. Ich habe mir sagen lassen, dass die hier Kult sei. Dank leistungsstarker Lautsprecher entgeht mir aber auch auf dem Sportplatz nichts, denn dort habe ich mein Zelt aufgeschlagen. Die Musik wird schnell leiser, umso lauter und stürmischer fegen in der Nacht der Regen und die berühmten Eifelwinde über den Platz. Generalprobe für mich und mein Zelt in Leichtbauweise und ideale Trainingsbedingungen für kommende Abenteuerreisen.
Sightseeing
Der Samstagvormittag beginnt trübe, aber trocken. Sightseeing steht auf meinem Programm und als erste Krimi-Station habe ich mir das kleine Nest Mützenich, direkt an der Belgischen Grenze gelegen, vorgenommen. Galt der Ort, den wir beim Ultra Marathon streifen werden, doch als Hochburg des Kaffeeschmuggels. Er wirkt am Samstagsvormittag wie ausgestorben, vereinzelt wird die Straße gekehrt, eine Dame kommt gerade vom Blumengießen vom Friedhof. Ein ganz normaler Vormittag in einem ganz normalen Dorf.
Jäh wird die Ruhe unterbrochen, ich springe erschrocken zur Seite, als plötzlich ein belgischer Autofahrer sich mit Vollgas eine Verfolgungsjagd mit einer Streife der belgischen Polizei liefert. So schnell wie die beiden Fahrzeuge auftauchen, so schnell sind sie auch wieder weg. Wenn ich das erzähle, das glaubt mir keiner, denke ich – ich schwöre, es ist wirklich passiert.
Sportlich fair geht es dagegen am Dorfplatz in Konzen zu. Gerade wird der „Eifel Panorama Nordic/ Walking“ über 12,3 km und 4,2 km und der sogenannte Mini-Marathon über 4,2 km ausgetragen. Zwischenzeitlich wird nach und nach aus der Wiese und dem Parkplatz am Sportplatz ein gut belegter Campingplatz. Es ist 19:00 Uhr, als der letzte Pasta-Teller die Theke verlässt und die Helfer und Läufer sich in ihr jeweiliges Domizil zurückziehen.
Dann wird es schnell still auf dem Platz. Ich stöbere im Taschenlampenschein noch ein wenig in der Welt der Eifelkrimis. In „Eifel-Wasser“ wurden Camper auch schon mal von einer Steinlawine erschlagen, lese ich. Und im Krimi „Eifel-Sturm“ wurde schon mal ein Bundestagsabgeordneter im romantischen Touristenort Monschau erschossen. „In dieser Landschaft am Abend und bei Nebel“, schreibt der Krimiautor Venn, „da kann man sich leicht vorstellen, dass eine Hand aus dem Nichts kommt und sich einem auf die Schulter legt.“
Morgens auf dem Zeltplatz
Die kurze Zeltnacht habe ich ohne nennenswerte Zwischenfälle überlebt. Es ist 4:30 Uhr. Ein früher, kalter aber trockener Morgen am Sportpark. Nebel klammert sich an die Baumspitzen. Jeder Atemstoß dampft. Die ersten Reisverschlüsse ratschen an den Campingzelten, die ersten Frühaufsteher pellen sich aus ihrem warmen Schlafsack.
„Moin, und fit?“, ruft ein sportlicher Mittvierziger bereits in kurzer Shorts. Meint er mich? Ich schüttle den Kopf und richte den Blick gen Himmel, um das Wetter abzuschätzen. Mit Zahnbürste und Handtuch bewaffnet schlürfe ich verschlafen in den Waschraum. Eine Läuferin steckt sich die krausen Haare eilig zu einem Schopf hoch. Sie habe ich doch schon mal irgendwo gesehen? Ja klar, sie war wie ich heute Nacht auch mit der Taschenlampe unterwegs zur Toilette. „Warum können wir nicht ein Durchschnittshobby haben wie Fußballgucken oder Wettgrillen am Webergrill?“, fragt sie mich unverhofft. Wie aber könnte man unsere Facette nennen? Wir überlegen gemeinsam. Ein Steckenpferd? Eine Marotte? Eine Obsession? „Das ist doch total bescheuert, so früh am Morgen…“, sind wir uns dann beide einig. Wer entschlüsselt schon die Läufer-DNA?
Christine aus dem Mobilschloss von nebenan bringt mir eine Tasse dampfenden Kaffees ans Zelt, auch für mich nun ein Hauch von Luxus. Von der Müdigkeit keine Spur, als wir uns die ca. 500 Meter gemeinsam zum Start begeben. Die ersten Autos parken die Dorfstraße entlang. Von irgendwo kräht der erste Hahn und eine Zeitungsausträgerin wirft das frisch gedruckte regionale Geschehen in die Briefkästen an den Häusern. Eine Überschrift lautet: „Ein Unbekannter hat am Freitagvormittag die Bank in Höfen bei Monschau überfallen und ist auf einem Motorrad mit der Beute geflüchtet“.
Walker und Ultraläufer vermischen sich im Gewimmel. Optisch getrennt sind die meisten nur durch das am Rücken befestigte Schild „Walker“ bzw. „Ultra“ zu erkennen. Christine läuft heute ihren ersten Ultramarathon. Wir nehmen uns vor, solange zusammen zu laufen, wie es eben passt. Dabei ist die Ausgangssituation denkbar schlecht: Nichts fühlt sich besser an, als gut vorbereitet zu sein. Und nichts fühlt sich schlechter an, als frühmorgens untrainiert zwischen guttrainierten Läufern am Start eines Ultramarathon zu stehen. Eine Grippe hat mich trainingstechnisch einige Wochen zurückgeworfen. Positiv denken! Hat man das erst verinnerlicht, kann man sich auch wieder wie vor jedem Start der Faszination und des Prickelns hingeben.
Aufbruch in einen neuen Tag
Es ist noch dämmerig, als wir kurz nach 6:00 Uhr wie in einer Prozession durch den Ort ziehen. Die über hundert Jahre alte Kirche schweigt: Nur die Schritte und das Stimmengewirr der Läufer stören die verschlafene Dorf-Idylle und die Seelenruhe der Toten auf dem angrenzenden Friedhof. Irgendwo wird ein Rollladen hochgezogen. Ein Hund kläfft. Ich schäme mich fast, hier hektisch durchzurennen. Auf den 14 zusätzlichen Kilometern laufen wir durch den Deutsch-Belgischen Naturpark über das Hohe Venn, bevor wir dann in Monschau auf die traditionelle Marathonstrecke und auf die Marathonläufer treffen werden.
Das feuchte Gras und der glitschige Matsch glucksen unter jedem Schritt. Wie ein braunes Leichentuch liegt der nasse Nadelboden in der Dämmerung des Morgens. Man sollte auf das Unerwartete gefasst sein. Für einen guten Krimi gilt: Je schlechter das Wetter, desto besser. Jetzt gerade ist kein Krimiwetter. Am höchsten Punkt angekommen, trifft die frühe Sonne auf die ersten Tannenspitzen – was für ein Bild.
Schon kurz darauf höre ich es Fluchen in allen Sprachen. Ein Stimmengewirr aus Niederländisch, Deutsch, Französisch und auch Englisch. Wirklich keiner kommt aus dieser Matschpassage ohne verschlammte oder nasse Schuhe heraus -tausche Laufschuhe gegen Gummistiefel. Ein großer Sprung über oder in das große Wasserloch lockert nicht nur die Muskulatur, sondern auch die Stimmung. Christine ist bereits auf und davon, so rasend schnell, als hätte sie in Venn´s viertem Fall „Den Letzten beißen die Werwölfe“ gelesen.
Aber auch bei mir läuft es im wahrsten Sinne des Wortes nun endlich wie geschmiert. Die sumpfigen Wiesen hinterlassen keine Abdrücke flüchtiger Borstenviecher. Apropos Borstenvieh. Der muskelbepackte Zweibeiner mit den grauen Bartstoppeln, der mich gerade überholt, wirkt auf mich, als trüge er ein Killer-Gen in sich. Auf der Spur, die er hinterlässt, könnte man ausrutschen – wenn ihr wisst was ich meine. Reicht das schon als Mordmotiv? Mittendrin endet die Spur, ohne dass der Läufer irgendwo zu sehen ist. Nur ein Trick, um mich zu verwirren? Hier verläuft die deutsch-belgische Grenze und unbemerkt könnte ich von einem ins andere Land hinübergleiten, ohne eine Veränderung wahrzunehmen. Da plötzlich, es kracht und knarzt im Gebüsch – ich mach, dass ich wegkomme.
„Balzplatz für Birkhähne und Schauplatz für Morde“
Nur wenige Kilometer laufen wir entlang über naturnahe Wanderwege des über dreihundert Kilometer langen Premium-Wanderweg „Eifelsteig“ mit seinen 15 Etappen. Dabei führt der Steig vom Norden bei Aachen hier über das „Hohe Venn“, weiter durchs Rurtal, über die Kalk- und die Vulkaneifel bis hin zur Südeifel in Trier. Das „Hohe Venn“ erlebt man auf Etappe zwei. Licht und Schatten wechseln sich ab.
Ich würde zu gerne mal einen Blick hinter die Büsche wagen, dort wo ein schmaler Holzboden tief ins Moor bis in die Schutzzonen führt. Ein Wiederholungstäter, und damit meine ich einen mehrfachen Monschau Ultramarathonstarter, warnt mich, es zu probieren. Im Winter seien schon einige verunglückt oder erfroren.
Sofort geht meine Phantasie wieder mit mir durch. Pures Entsetzen scheint mir ins Gesicht geschrieben, als er von den grasbewachsenen und verklumpten Erdbüscheln, die von den Eifelanern als Totenköpfe bezeichnet werden, lebhaft berichtet. Es braucht nun nicht wirklich viel Vorstellungskraft, um sich diese Erdhügel als Schädeldecken vorzustellen, die einst im Sog des größten Hochmoors Europas untergegangen sein könnten, umgeben von den fleischfressenden Pflanzen mit scheinheiligen Namen wie Siebenstern oder Sonnentau.
Unlängst, erzählt er mir weiter, fand ein Schäfer die menschlichen Überreste eines Versunkenen in einem der unzähligen Wasserlöcher. Die wiederum kommen von den mehr als hundertvierzig Liter Regenwasser, die hier im Jahr auf einen Quadratmeter fallen sollen. Von 365 Tagen im Jahr ist das auf 690 Metern über N. N. gelegene Hohe Venn 175 Tage im milchigen Nebel, 172 Tage vom Regen begossen, der wiederum an 43 Tagen als Schneesturm über die Moorflächen bläst. Bei einer Jahresdurchschnittstemperatur von bestenfalls sechs Grad bietet dies alles einen erstklassigen Nährboden für den Runzelbruder und die Zackenmütze, um nur zwei von jeweils 300 Flechten- oder Moosarten zu nennen.
Ja, ich sehe es endlich ein, ein Mord ist schnell geschehen und der Ort ideal zum Versenken der Leiche. Der Wiederholungstäter spielt aber nur auf die nassen Füße und Unterschenkel an, die man sich bei dieser Aktion holen könnte, denn tiefer sei das Moor nicht. Keine Fiktion dagegen ist das, was sich im letzten Weltkrieg am Himmel über dem Hohen Venn ereignete. Ein mächtiges Kreuz erinnert an die Soldaten, die mit ihren Maschinen abgeschossen oder in einer dichten Nebelbank zusammenstießen und in der morastigen Sumpflandschaft aufschlugen. Heute ist das Gebiet in ausgewiesenen Schutzzonen von A, B, C gegliedert. C ist die ökologisch empfindsamste der drei Zonen, in die auch die Ranger nicht mehr als zwei Mal im Monat gehen dürfen, denn in den sechziger Jahren gab es hier oben mehr Autos als Birkhühner. Ende der siebziger Jahre erkannte man dann endlich die Wichtigkeit dieser „Schutzzonen“. Nur noch 15 der scheuen Birkhühner verstecken sich auf ihrem „Tanzplatz“ und balzen um den nächsten Walzer. Verständnislos glotzen gutgenährte Esel hinter einem Zaun uns Ultraläufern hinterher. Von dem Haus, zu dem sie gehören, ist nichts zu sehen.
Szenenwechsel
Die hinter mir liegenden vierzehn Kilometer sind nur so verflogen, die Kirchturmspitze von Konzern ist nicht mehr zu übersehen. Jetzt höre ich auch die Stimme des Moderators, die Toten auf dem Friedhof und die alte Kirche schweigen noch immer. Es muss so etwa 7:30 Uhr sein, als ich erneut durch den Startbogen in Konzen laufe, wo uns einen johlender Empfang bereitet wird. Sind es korrupte oder skrupellose Marathonläufer, die jetzt hinterlistig klatschen, um uns im nächsten Moment von der Strecke zu brüllen und zu jagen, oder treffen wir hier auf Konzener Bürger die, weil sie nicht mehr schlafen können, nun als Statisten fungieren?
Ab nun beginnt eine neue Kilometerrechnung. Ich kann mich nicht entscheiden, welche ich gedanklich bis ins Ziel raufzählen will. Auf den Schildern am Wegesrand steht die Zahl der gelaufenen Kilometer für den Marathon und darunter die Zahl der gelaufenen Kilometer für den Ultra. So wäre ich bei Marathonkilometer 30, tatsächlich aber schon 44 Kilometer gelaufen. 44 gelaufene Kilometer fühlen sich, nicht nur in den Beinen, sondern eher im Kopf, anstrengender an, als 30 Kilometer. Wobei: irgendwie ist man ja auch stolz, schon 44 Kilometer gelaufen zu sein, anstelle von 30. Denn hätte ich erst 30, dann wären es ja bis ins Ziel noch 26 Kilometer. Dabei sind es doch nur noch 12 Kilometer. Völlig verwirrt beschließe ich, das Zählen sein zu lassen und konzentriere mich lieber wieder aufs vorwärtskommen.
8:00 Uhr in Monschau
Wenige Stunden nach Sonnenaufgang erliege ich von neuem dem Charme vergangener Zeiten beim Durchlaufen des mittelalterlichen Städtchens Monschau. Am Ortseingang beginnt mit dem Kopfsteinpflaster die kurze Zeitreise. Denn die gut erhaltene und restaurierten Burg sowie die Überreste ferner Vergangenheit beflügeln die Vorstellungskraft. Gerade so früh am Morgen ist die Altstadt noch von Touristen befreit. Anders als gestern, bei meinem Sightseeing Programm, als zwischen müden und dickbäuchigen Besuchern gleich 160 Mountainbiker über das Kopfsteinpflaster donnerten – übrigens ein weiterer Programmpunkt des vielseitigen Marathonwochenendes. Verschwitzt und dreckig statt im feinen Sonntagstaat begrüßt mich wenigstens die Kirche mit ihrem Geläut. Es ist kurz nach acht Uhr, als ich direkt auf das berühmte Rote Haus zu laufe.
Gegenüber das Café, in dem ich gestern war. Die freundliche Bedingung versprach mir, sie wolle mir zujubeln, wenn ich hier vorbei komme. Ich hatte es mir ja gedacht – das Café ist noch geschlossen. Zwei Radtouristen haben sich für ihr Frühstück die Stufen am Roten Haus ausgesucht. Die ehemalige Tuchmacherei ist ein gewaltiges Gebäude aus rotem Stein und vielen Fenstern – Prunk draußen wie drinnen. Zur Blütezeit der Tuchmacherei im 17./18. Jahrhundert nutzte man es Wohnhaus. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen wie die Räder der Pferdefuhrwerke voll beladen mit Ballen edlen Tuches über das Kopfsteinpflaster ratterte. Eine Führung durch die Stadt erzählt von dem interessanten Aufstieg, aber auch vom Niedergang der großen Tuchmachertradition in Monschau.
Verfolgungsjagd
Die Strecke führt über eine Brücke. Unter mir gurgelt das rostbraune Wasser der Rur. An diesem Fluss geht es nun auf einem schmalen Waldweg in den Wald hinein. Ich genieße das Plätschern des Wassers und das Singen der Vögel. Plötzlich, wie aus dem Nichts, halt eine laute Stimme durch den Wald: „Einen wunderschönen guten Morgen…“. Ich versuche die Richtung, aus der die Stimme kommt, zu orten, glaube kurz an Lautsprecher zwischen den Bäumen. Kurz darauf bemerke ich, wie mich in rasender Geschwindigkeit ein Läufer versucht einzuholen, ein weißes Fahrzeug folgt ihm. Die Situation wird brenzlig. Gleich wird er mich erwischen, denke ich, und schon rast der erste Mann des Marathons an mir vorbei über die hölzerne Kluckbachbrücke, als suche er im Wald Zuflucht. Für das Fahrzeug endet hier der Weg. Zwei andere Läufer folgen ihm.
Alles geht so rasend schnell, dass ich meine, mithalten zu müssen. Kurz darauf bin ich völlig außer Atem und von den Läufern ist keine Spur mehr zu sehen. Für kurze Zeit kehrt wieder Ruhe ein. Es sollen die letzten ruhigen Minuten werden. Von jetzt an werde ich Schlag auf Schlag von den schnellen Marathonläufern überholt. Es spornt mich an und holt mich aus meinem Ultra-Trottel-Schritt. Im dichten Eifel-Wald geht es nun steil Berg an. Kurz bevor die Strecke in das Gegenteil kippt, rast elegant wie eine Ballerina die erste Marathon-Frau an mir vorbei.
Sie geizt nicht mit ihren Reizen. Warum auch? Manche der schnellen Damen sind irgendwie Unisex-Wesen oder dürre Hungerhaken. Aber diese Läuferin hier zeigt, dass man schnell und sexy sein kann. Sie hat nur wenige Läufer vor sich, aber umso mehr hinter sich gelassen. Einige versuchen verbissen dranzubleiben. Um es vorneweg zu nehmen: Svitlana Smitiukh, wird das Tempo durchhalten und den Marathon in 3:15:10 Stunden für sich entscheiden.
Schaurig ist’s
„Eifel-Wasser“. In diesem Krimi werden zwei Polizisten auf einem Parkplatz hingerichtet, ein türkischer Dönerbudenbesitzer vom Motorrad geschossen. „Eifel-Wasser“, ruft eine Dame und streckt mir dabei nicht den Krimi, sondern einen gut gefüllten Becher Wassers entgegen. Freundlich werde ich bei der Übergabe angelächelt. Ist dieses Lächeln echt? Gutgläubig aber auch gierig trinke ich einen Schluck. Was soll schon passieren, schließlich laufen die vielen Vorkoster vor mir auch immer noch. Was aber, wenn genau mein Plastikbecher…?
Staffelwechsel bei etwa Kilometer 10,5 KM beziehungsweise 24,4 KM Ultra-Kilometern im kleinen, aber temperamentvollen Dorf Widdau. „Andrea, Andrea!“ ruft es hinter mir. Ich drehe mich um und kann es kaum glauben. Aber es stimmt, es ist Andrea, die als Staffelläuferin unterwegs ist. „Ich bekomme Gänsehaut“, sagt sie. Seit sie aus dem Rhein-Main-Gebiet vor vielen Jahren mit ihrer Familie weggezogen ist, haben wir uns nicht mehr gesehen. Und jetzt kommt die gebürtige Nordamerikanerin und vierfache Mutter einfach so daher. Für ein paar kurze Sätze läuft sie neben mir, dann muss sie weiter, die nächste Staffelläuferin wartet schon. Es gibt doch immer wieder schöne Zufälle.
Den Uferwiesen folgend, steigt die Strecke erneut hinauf, binnen weniger Kilometer um mehr als hundert Höhenmeter, tapfer dem Wind entgegen. Zrrrrr, zrrrrrrr, zrrrrrrr. Das Geräusch durchschneidet die Luft. In gleichmäßiger Geschwindigkeit rotieren die Flügel der dreizehn Windräder. Als ich oben beim „Gut Heistert“ angelangt bin, mache ich die erste wirkliche Pause an der Verpflegung. Gierig schlinge ich die geschnitten Orangenspalten in mich hinein, obendrauf noch zwei Salztabletten und etwas Zitronentee zum Runterspülen – köstlich. Am Hofgut geht es den Hang hinab bis an den „Unteren Steg“.
„Andrea, Andrea“, ruft es schon wieder hinter mir. Dieses Mal erkenne ich die Stimme. Es ist Dirk. Wir sind etwa so bei Kilometer 30, beziehungsweise 45 Ultra-Marathon-Kilometern. Dirk ist als Pacemaker für die Marathonläufer mit einer Zielzeit von 4:14 unterwegs. „Ich liege gut in der Zeit und kann ein Stück mit dir laufen“. Er erzählt mir vom K78 in Davos und wie schlecht doch das Wetter war. Nach etwa ein-/zwei Kilometern ist er auch schon wieder weg.
Leicht abwärts rollt es fast von selbst in das Dorf Kalterherberg. Der Ort ist direkt an der deutsch-belgischen Grenze gelegen. Beeindruckend ist die doppeltürmige Kirche St. Lambertus, die im Volksmund auch als „Eifeldom“ bezeichnet wird. In der Menge jubelnder Zuschauer erhebt sich eine La-Ola-Welle, als ich an den Mädels vorbei laufe. Es ist Andrea mit ihrer Staffelmannschaft – jetzt habe ich Gänsehaut.
Es dauert nicht lange und ich durchquere das geschichtsträchtige Vennbahnviadukt, welches seit 1885 bis zum letzten Weltkrieg enorm wichtig für die Wirtschaft der Eifel war. Lässig zurückgelehnt verpflegen sich an einem Waldrastplatz drei Walker aus ihren Rucksäcken, gleichmütig verfolgen sie die rasende Läuferschar.
Kaffeefront
Ich stoße plötzlich auf eine weitere heiße Spur. Wer mich kennt, der weiß, dass ich auf eine Sache nicht verzichten kann: Ich bin eine Süchtige und brauche den Rausch regelmäßig – und nach so vielen Stunden auf den Beinen meldet sich meine Begierde wieder…
Ich erreiche Mützenich, einen nordwestlichen Stadtteil von Monschau. Von hier aus sind es nur noch knapp 3 Kilometer bis zum Ziel. Die beschauliche Streusiedlung war nach dem zweiten Weltkrieg eine deutsche Exklave auf belgischem Staatsgebiet und lag im Zentrum der Schmuggellinien; genau hier verläuft von 1945 bis 1953 die Aachener Kaffeefront. Geschätzte 1000 Tonnen Röstgenuss werden in dieser Zeit über die nahen belgischen und niederländischen Grenzen geschmuggelt. Seit 2012 erinnert das Schmuggler-Denkmal am Grenzübergang an diese sündige Zeit.
Höhepunkt der aromatischen Ungesetzlichkeit ist das Jahr 1948: Mit der Einführung der D-Mark und der Anhebung des deutschen Steuersatzes (auf stolze zehn Mark pro Kilogramm) konnte nun Kaffee in Belgien für acht Mark eingekauft und in Deutschland für das Doppelte verkauft werden. Damit war der Kaffeeschmuggel lukrativer als der von Zigaretten und verhilft der strukturschwache Region zu einem wahren Wirtschaftswunder. Jede zweite Tasse des köstlichen Bohnen-Kaffees, die in den ersten Nachkriegsjahren im Rheinland getrunken wird, ist auf illegalem Weg zu ihren Genießer gelangt. Die ansässige Staatsanwaltschaft ermittelte damals gegen über 100 Bewohner, die gesamte männliche Jugend Mützenichs ist involviert; wegen Spielermangels steigt der örtliche Fußballverein sogar ab.
Ich verzehre mich nach dem Röstaroma und während ich auf den letzten Kilometern dem Ziel entgegenlaufe, kann ich den Duft der frisch gemahlenen und aufgebrühten Bohnen schon wahrnehmen. Ich freue mich, gleich nach 56 Kilometern meine Begierde stillen zu können. Zuvor werde ich honigsüß be- und umworben, denn ein cremig klebriger Honiglöffel wird mir entgegengestreckt. Bekanntlich beruhigt Honig. Wenn ich jedoch auf einen laufenden, beziehungsweise rennenden, also nicht gehenden Walker treffe, hilft auch der Honig nicht mehr. Ich glaube gar, die extrem motivierten Walker machen sich regelrecht einen Spaß daraus, den ermüdeten Ultraläufern zackig zu entwischen. Es gibt aber auch andere. Die sind tatsächlich mit schwerem Gepäck und dickem Wanderstiefel auf den zweiundvierzig Kilometern unterwegs – Respekt!
Hecken(schützen)
„Im schnellen Wind“ ist nicht der Titel eines weiteren Kriminalromans, sondern ein Straßenname. Bereits seit dem 17. Jahrhundert schützen die Eifelaner ihre Häuser vor den heftigen, vom Atlantik her kommenden Winden der Nordeifel, mithilfe von Rotbuchen- oder Weißdornhecken. Die Hecken ersetzen Zäune und Mauern vor den Häusern. Sie wachsen langsam, brauchen fünfzehn Jahre für fünf Meter. So manche Hecke ragt schon mal sechs bis acht Meter in die Wolken und hat bereits zwei Jahrhunderte alte Wurzeln. Die meisten sind gerade frisch geschnitten, die Torbögen und Fenster der Haushecken sind preisgekrönt und zieren manch Tourismusbroschüre oder Reiseführer.
Zugegeben: Jetzt auf den letzten Kilometer hätte ich den gerade einsetzenden typischen Krimi-Nieselregen auch nicht mehr gebraucht. Er lässt mich den letzten Anstieg immerhin ungewollt schneller laufen. Wieder erkenne ich die Kirchturmspitze von Konzen, noch immer lassen sich die Toten nicht in ihrer Ruhe stören, noch immer läutet keine Glocke. Aber ich höre den Moderator, höre diesmal meinen Namen von vorne, ich bin im Ziel!
Christine scheint dem Werwolf entwischt zu sein, sie kam mit der tollen Zeit von 6:07 h ins Ziel. Mich überrascht man mit dem ersten Platz in meiner Altersklasse. „Das wird uns kein Schwein glauben…“. „Du brauchst bloß in die Eifel kommen, da ist was los!“. Aus dem Krimi Eifel-Blues von Jacques Berndorf.
Steckbrief: Der Ultramarathon 56 Km / 850 HM / Hügelige Streckenführung, fast durchgängig durch Feld und Wald
Achteinhalb Stunden/ 1.000 HM/ 60% Waldwege
Wettbewerbe: Neben dem Ultra-Marathon werden auch ein Marathon, ein Marathon Walk, ein Staffelmarathon, ein Mini-Marathon, ein Eifel-Panorama-Walk sowie eine Montainbike-Tour angeboten.
Funktions-Shirt, Urkunde und Medaille, für die Damen eine langstielige rote Rose.
Verpflegung: Ultra Buffer, Tee, Wasser, Cola, Brot, Müsliriegel, Salztabletten und jede Menge Obst.
Zeitmessung: Champion-Chip
Ultra-Marathon –Damen:
1. Dupont, Mieke Blankenberge 4:36:45 Stunden
2. Braun, Marion Germania Eicherscheid 4:53:25 Stunden
3. Fätsch, Sandra LSG Zeiskam Team 5:07:03 Stunden
Ultra-Marathon – Männer:
1. Mey. Markus Peters Sportteam 3:54:35 Stunden
2. Dunst, Florian LT Altburg 3:56:09 Stunden
3. Breuer, Markus Germania Dürwiß 4:08:04 Stunden
Platzierungen bei den Damen Marathon:
1. Smitiukh, Svitlana Turnerbund Wiesbaden 3:15:10 Stunden
2. Offermann, Eva TV Konzen 3:15:40 Stunden
3. Walter, Iris TV Meisenheim 3:32:05 Stunden
Die Platzierungen bei den Männern Marathon:
1. Collet, André Aachener TG 2:39:09 Stunden
2. Werker, Markus Peters Sportteam 2:41:31 Stunden
3. Niessen, Christian Peters Sportteam 2:47:04 Stunden