Night Marathon Luxemburg 2014
Streetlife
Ich führe ein Doppelleben, den gegensätzlicher könnte es nicht sein: Letzten Samstag faszinierten mich noch die wildwüchsigen Inseln der Azoren, deren Einsamkeit und Stille. Heute laufe ich inmitten Luxemburgs 42 km langer open-Air-Party-Zone.
Dass man Reisen aber auch immer begründen muss. Was willst du denn dort? Fragen mich die Kollegen. Luxemburg gehört wie Frankfurt am Main zu den bedeutendsten Finanzplätzen der Welt; ist nur etwas kleiner: Blitzblanke Bürohausarchitektur, Großraumbüros, Banken und Banker. Zuerst habe ich es humorvoll versucht: Ich suche den Graf von Luxemburg. Allgemeines Gelächter. Ich versuche es weiter: Ich wolle mir billige Zigaretten kaufen und günstig tanken. Das glaubte mir auch keiner. Denn dass ich nicht rauche ist bekannt und dass ich lieber Fahrrad als Auto fahre, schloss mein Wunsch auf billigen Sprit ebenfalls aus.
Dann suchte ich alle nur halbwegs glaubwürdigen Gründe zusammen: Es ist doch nicht verboten, Geld im Ausland anzulegen, oder? Die Prozentzahl derer, die mir das glaubten, stieg. Aber es ist nicht die Wahrheit. In Wirklichkeit habe ich diesen Kurztrip unternommen, weil es außer Geld noch andere Dinge gibt, die glücklich machen können: Zum Beispiel eine rauschende Party – bis in die frühen Morgenstunden.
Samba de Luxe
Ein Hauch von Karneval in Rio in der Innenstadt von Luxemburg. Auf dem Place d´Armes drängen sich bereits am Freitagabend Studenten und Touristen um die Sambaspieler. Büroangestellte stoßen bei der After-Work-Party mit Bofferding-Bier an. Rundherum befinden sich elegante Shoppingmeilen und verlockende Brasserien. Die Bewohner genießen in dieser Wirtschaftswunderlandschaft den beinahe höchsten Lebensstandard weltweit. Diese Anziehungskraft der Stadt lockt Arbeitswillige aus den Nachbarländern an – abwandern tun nur die Steuergelder. Doch ein Märchen ohne Happy End, jedenfalls was das Bankgeheimnisses anbelangt. Keine Frage, das Großherzogtum Luxemburg ist reich und schön, kennt keine Krise, schon gar keine finanzielle und gilt damit als mustergültigste Geschäftsstelle der Europäischen Union. Dann wird es dunkel, die Akteure räumen die Arena, aber nur für ein paar Stunden. Die Schilder am Straßenrand weisen hin auf das große Sportereignis im kleinen Großherzogtum Luxemburg am Samstag.
Samstag
Noch immer acht Stunden bis zum Start. Wie bringt man die rum? Noch einen weiteren Kaffee trinken und Spazierengehen, oder lieber noch mal Füße hochlegen auf dem Hotelbett?
Ich entscheide mich für zwei Runden mit dem Hop-On-Hopp-Off-Sightseeing-Bus, einer Tasse Kaffee und dem Hotelbett. Um 17:30 rolle ich in dem übervollen Shuttlebus vor das Messegelände der LUXEXPO auf dem Kirchbergplateau. Um 19:00 öffnen sich zum neunten Mal die Pforten der Open Air Großraumdiskothek, dann startet die Partypower, und es wird gelaufen, einige wohl bis weit nach Mitternacht!
Was sofort auffällt, ist die Menge von wirklich jungen, auch unerfahrenen Läufern. Marathon-Tyrannosauren, also erfahrene und unkaputtbare Läufer, sieht man eher wenig. Siegried Eichner, die 73jährige Extremultraläuferin habe ich schon erblickt. Sie ist im Vergleich zweier ebenfalls hier am Start stehender Senioren noch grün hinter den Ohren.
Zwei 81jähige lassen es krachen
Ist das zu glauben? Zwei rasend rüstige Rentner stehen in Laufschuhen ebenfalls am Start. Sie sind nicht gekommen, um ihre Enkel und Urenkel anzufeuern, nein, die fitten Senioren sind gekommen um zu laufen, aber nicht nur zum Spaß. Es geht um Rekorde. Wie beim Boxkampf forderte der gebürtige Luxemburger, Josy Simon (81), den Franzosen Maurice Jean (81) zum Duell und Opa Maurice ist vorbereitet. Und wie: Den New York Marathon vergangenen November gewann er in einer Zeit von 4:43:49 (Altersklasse). Josy ist ein starker Herausforderer, erst im vergangenen Jahr hat er einen 100 Kilometerlauf in einer Zeit von 12:17:04 Stunden gewonnen und wurde damit Weltmeister seiner AK im Ultramarathonlauf – da war er immerhin schon achtzig Jahre alt.
Keine Tickets mehr an der Abendkasse!
Türsteher kontrollieren den Einlass in die Läuferzonen. Manche versuchen dennoch hinein zu gelangen, lassen sich so einiges einfallen, um an den „Türstehern“ vorbei zu kommen. Wo sonst Anzug, Hemd und Krawatte das Bild bestimmen, sind es jetzt Läufer. Sie tragen Startnummern so groß wie Plakate auf modisch schicker Funktionskleidung oder schrillem Faschingskostüm. Das europäische Herz wirkt durchtrainiert, hat die High-Society-Zwänge abgelegt. Aufgerüschte Mädels mit spraygehärteten Kopfbüscheln und grellem Make-up oder Jungs mit eingedrehter Discowelle. Das bunt fröhliche Bild ergänzen die Luftballons, die blau und besonders in orange in der Sonne strahlen.
Überhaupt erlebt man hier sein orangefarbenes Wunder und das außerhalb der Niederlande. Die orangefarbenen Hüte, eine geniale Werbeidee des Titelsponsors, auf den Köpfen vieler löst auch meine Begierde aus.
Schnell trinke ich noch einen Sundowner in Form eines Energiedrink für den letzten Koffeinkick, mit dem nun die Nacht lang werden kann. Was monatelang an den Wochenenden eine verschlafene Stadt ist, wird jetzt zur wilden Partymeile. Es gibt wenige Städte auf der Welt, in denen man sich nachts über temperamentvolle, gutgelaunte Menschen freut. Luxemburg jedenfalls heißt die Läufer in der Stadt willkommen und ständig werden es mehr. Dass man auf der Strecke ordentlich feiern kann, hat sich rumgesprochen. Schon längst ist der Night-Marathon bei Sportlern aus der ganzen Welt ein begehrtes Ziel und noch nie war er so frühzeitig ausgebucht, höre ich eine Stimme aus dem Mikrofon über den Startbereich.
Der Moderator unterhält sich mit Irina Mikitenko, Deutschlands seit Jahren erfolgreichste Weltklasse-Langstrecklerin, erzählt etwas von vergleichbarer Strecke zum New York Marathon und dass es hier wie dort doch immerhin knapp 400 Höhenmeter zu bewältigen gilt – ich werde hellhörig.
Auf Letzeburgisch werden die letzten Sekunden heruntergezählt: 15 Sekunden, 10 Sekunden – orangefarbener Konfettiregen und Sommerpartymusik. Es ist 19:00 Uhr, erst 12 Minuten später bin auch ich (aus dem vorletzten Startblock) im Rennen. Die Meute tobt. Die vor mir liegende Strecke ist wie Stricken für Anfänger ein einziges koordinatives Rätsel, bestehend aus links und rechts, vorne und hinten, unten und oben Kombinationen. Sie führt durch die kleine kosmopolitische Stadt von Ost nach West, von Süd nach Nord und zurück nach Ost, ein dicht gewebtes Netz aus Avenues, Boulevards und Parkanlagen, die sich über die 42 Kilometer lange Strecke zieht wie ein ausgeklügeltes Strickmuster. Alles in allem hat die Stadt ideale Ausmaße, um die Miniaturmetropole binnen eines Nacht-Marathons zu entdecken und so erfahre ich, quasi ganz nebenbei, auch jede Menge über die 90.000-Einwohner-Stadt Luxemburg.
Über die schnurgerade-dreispurige Avenue John F. Kennedy rolle ich inmitten der endlosen Karawane aus Teamläufern, Halbmarathonläufern und über 1000 Marathonläufern im gemütlichen Laufbandtempo, vier Kilometer quer durch Europa, hinunter in die Stadt. Dort sind die Läden bereits seit achtzehn Uhr geschlossen. Tatsächlich ist die ganze Luxemburger City für ein paar Stunden ein Laufband der Nationen: Da sind Luxemburger, ansässige Ausländer, Ausländer und Grenzgänger. Unglaubliche 10.000 Läufer beim europäischen Nachbarschaftsplausch. Sprachbarrieren? Keine Spur! Ganz Luxemburg ist eine einzige Europa-Sprachschule (und das ab der Grundschule). Egal ob du in Französisch, Deutsch oder Englisch nach dem Weg fragst, du bekommst immer Anschluss und eine Antwort. Meist so fließend wie in deren Muttersprache, dem Letzeburgisch.
Europa Zentrum und Bankenpaläste
Von Montag bis Freitag ist das Areal das glamouröse Zentrum einer Bussie-Bussie- Society, hier sitzt die gesamte Finanzwelt auf engstem Raum zusammen. Freitagabends wird es schlagartig ruhig. Die Angestellten, Grenzgänger und Wochenendheimfahrer sind ausgeflogen. Europäische Flaggen wehen im Wind. Die Läufer spiegeln sich in den futuristischen Glas-Beton-Bauten.
Europäischer Gerichtshof, Europäischer Rechnungshof, Europäische Investitionsbank, Europaschule. Vermögensanlage, Firmengründung, Fondsgeschäft. Die Eurokraten und Banker vom Kirchberg haben ein positives Image. Zweihundert Banken, darunter annähernd fünfzig deutsche Geldinstitute, sind in Luxemburg ansässig. In der geldgetränkten Bankentown fühle ich mich ein wenig wie in Klein-Frankfurt. Kein Zufall also, dass der Hauptsponsor des Night Marathon seit neun Jahren ING Luxembourg heißt.
Sogar Luc Verbeken, der CEO der ING, hat eine Team Run Nummer auf dem Rücken. Auch Europabeamte, Modepüppchen und Konsumkids sind Teil einer Teamstaffel, andere wagen sich an den Halbmarathon. Pubertierende Jungs mit viel Gel in den Haaren nicken lässig und winken mit ihren Armen zum Beat. Lautstark feuert ein DJ uns rappend auf: 1. zu Gehen (go, go, go), 2. Spaß zu haben (have fun) und drittens „yeah!“ (yeah!)
Wie „Hans guck in die Luft“ fasziniert mich das bunte Treiben. Das Drängelgitter wird zur Stolperfalle. Mit einem Fuß bleibe ich an dem Standbein des Absperrgitters hängen und komme unwillkürlich ins Straucheln. Mit ein wenig Geschick, vielleicht auch Glück, fange ich mich gerade noch auf und vermeide einen Sturz. Diese Situation ist ein Klassiker und bestimmt schon einigen passiert. Tour de France Fahrer erwischt es immer wieder. Im Übrigen wird seit 1935 das Etappen-Radrennen „Tour de Luxembourg“ zur Vorbereitung auf die Tour de France, mit Start und Ziel in der Stadt Luxemburg ausgetragen. Vor fünf Jahren gewann der Luxemburger Fränk Schleck die Tour.
Jetzt halte ich meine Füße und meinen Blick künftig doch ein wenig mehr unter Kontrolle. Ich denke an das rennende Seniorenduell. Einundachtzig Jahre, leidet man da nicht unwillkürlich unter nachlassendem Sehvermögen, das das Sturzrisiko erhöht und ist nicht gar die Reaktionszeit verringert und der Gleichgewichtssinn gestört? Hoffentlich, denke ich, kommen die beiden gut ins Ziel. Jetzt habe ich keine Lust mehr auf den orange Hut – ich werfe ihn in den Ring.
Kilometer 7. Dicht am Pavillon der Philharmonie, der ein wenig an einen lächelnden Wal erinnert, füllt sich lückenlos die Straße mit feiernden Männern, Frauen und Kindern. Auch auf der über 350 Meter langen Grande-Duchesse-Charlotte-Stahlbrücke, die auch „Rote Brücke“ genannt wird, findet kein Partygast mehr eine Lücke. Ich laufe 74 Meter hoch über dem Alzette-Tal. Hier ändert sich die Stadtlandschaft. Es ist wie eine Zeitreise, von dem modernen ins alte Luxemburg.
Public Viewing
Mitten auf dem Platz des Rond Point Schuman steckt das Gefühl von Lebensfreude und Lebenslust der Samba-Trommeln das Publikum und uns Läufer an. Unermüdlich und dynamisch: Umbumbumbumb. Ich laufe wie von selbst einfach den tausenden Läufern vor mir hinterher. Dreimal rechts, dreimal links. Abbiegen. Treiben lassen.
Mal links, mal rechts. Abbiegen. Was für eine verwirrend verwinkelte Streckenführung – verloren geht hier trotzdem keiner. Querbeet liegen Studenten auf der Wiese. Der exzentrische Korso hat den „Le Parc de la Ville“ Teil I erreicht. Ältere, perfekt frisierte Damen schlendern uns gemächlichen Schrittes und Arm in Arm entgegen. Verstörte, nach Ruhe suchende Touristen, finden diese auch hier nicht, im Stadtpark, wo sie das für sie ungeplante und ungewohnte Treiben mit grimmigem Voyeurismus beobachten. Davor warnte kein Reiseführer, dennoch klicken die Fotoapparate. Hunde sehe ich nicht, dafür blühende Pflanzen und Vögel, die man nicht hört, eine versteckte Bronzeskulptur, ein kleiner künstlicher Teich. Die Sitzbänke führen in Versuchung. Ein Spielplatz wie eine malerische Abenteuerkulisse im Park – gleich biegt Peter Pan und Glöckchen um die Ecke.
Rechts, links und schon ist der Tross in den verwinkelten, engen Gassen der Altstadt eingetaucht. Bin ich im Wahn oder sehe ich tatsächlich an jeder Ecke eine Patisserie? Plüschig-kitschige Cafés? Schwache Gedanken aus meiner Kindheit steigen empor. Ein Schokoladenbonbon, was sag ich, Plombenzieher, die mir mein Stief-Opa tütenweise aus Luxemburg mitbrachte. Die waren sicherlich nicht alleine der Grund dafür, dass mein Opa Heinz die 280 Kilometer von Frankfurt bis nach Wasserbillig auf sich nahm. Hauptsächlich zum Tanken führe er her, na und wegen der Zigaretten auch. Er rauchte viel.
Vor den Bars und Cafés sitzen Gäste in der fast untergegangenen Sonne, deren Rauch steigt mir in die Nase. Unermüdlich und dynamisch sind die Samba Rhythmen: Umbumbumbumb. Wir sind in der „Uewerstad“, das pochende Zentrum, die la ville, die Hauptstadt! Hier irgendwo ist der Fischmarkt, der Mittelpunkt der Altstadt, die ein Teil des Unesco-Weltkulturerbes ist. Kirchen und Boutiquen, oder besser, Konsum und Glaube trennen hier nur wenige Schritte. Vor mir sehe ich einen laufenden Diener Gottes, er läuft in der Sonderwertung „Geistliche aller Weltreligionen“, ihn würde ich zu gerne morgen auf der Kanzel sehen.
Noch viel lieber würde ich jedoch Henri treffen wollen. Der Großherzog von Nassau-Weilburg wohnt gleich hier um die Ecke, im Palais Grand Ducal. Der Palast ist eigentlich ein spanisch inspirierter Spätrenaissance-Kasten mit Erkern und Türmchen und Wölkchengardinen vor den Fenstern.
Also auf Postkartenständern habe ich das royale Konterfei im fichtengrünen Jägerjackett schon gesehen. Aber wer kennt ihn schon, er steht ja nie in der Regenbogenpresse. Wer weiß, am Ende läuft er gerade vor mir auf den Place Guillaume II, im Volksmund auch „Knuedler“ genannt. An diesem Punkt trennen sich nun übrigens für einige Kilometer die Halbmarathonläufer von den Marathonläufern. Die Gassen gleichen Vergnügungsvierteln. Die Luft ist erfüllt vom Klang der Samba-Trommeln, Fiedeln und Klarinetten rivalisierender Musikertrupps.
Zum rhythmischen Klatschen eines ganzen Straßenzuges kommt das Tröten der Tröten. Rechts, rechts, rechts noch zwei Harken schon hat der Tross mit mir und vielleicht dem Herzog, den „Parc-Ed-J-Klein“ Teil II erreicht. Schnurstracks geht es geradeaus hindurch. Zweimal links, viermal rechts. Kurz darauf eine zweifache Linkskombination wieder halb rechts und den Rest des Kilometers wieder geradeaus. Schwubdiwub sind wir wieder im „Parc-Ed-J-Klein“ Teil III, jedoch in einer ganz anderen Ecke. Zweimal rechts und zweimal links.
Volksfeste in den Wohnvierteln
Die Laternen gehen an und auch die Bewohner in den Häusern machen Licht. Die Bevölkerung im Land wächst weiter – und mit ihr die Immobilienpreise. Die Garagen sind für die Autos längst viel zu klein. Manikürte Vorgärten, kleine Paradiese, wie eine Beruhigungszone, inmitten der Stadt.
Einfach Idyllisch, wäre da nicht überall der Partybetrieb. Ältere können von dem Lärm nicht schlafen, schauen durch polierte Glasscheiben runter auf die Straße. Unten vergnügt sich eine vielleicht dreijährige mit blonden Zöpfen auf der Spielstraße mit ihrem Prinzessin-Lilifee-Fahrrad. Mamas und Papas klatschen uns zu, für die Racker ist heute noch lange nicht Schlafenszeit, sondern die schönste Spielzeit des Tages! Sie brüllen uns an, spielen mit uns wildfremden verschwitzten Menschen „Give me five“.
Der Werbegag mit den orangefarbenen Hütchen ist genial. Aber wer um Himmelswillen kam auf die Idee, die orangefarbenen Vuvuzela-WM-Tröten auszugeben? Ein Kleinkind versucht sich an dem langen Ding. Heraus kommt nur ein wohlklingendes leises „pfff“. Jetzt übernimmt sein Erzeuger das Teil und zeigt seinem Sprössling und uns wie es funktioniert: 120 Dezibel (lauter als eine Sambatrommel) wirbeln als Schallereignis durch meine Ohren in meinen Kopf. Gebt den kleinen doch demnächst einfach mal eine Kettensäge in die Hand, die ist noch leiser als diese Tröte, denke ich, lächle und laufe weiter.
Zwischen Dämmerung und Dunkelheit
Nanu, hat das Wetter umgeschlagen oder wo kommt der Nebel her? Vor der Verpflegung quetsche ich mir ungern, weil eklig, Gel in den Mund. Der chemisch-süßliche Geschmack mischt sich mit dem Geruch verbrannten Grillguts aus der Nachbarschaft. Doch was zwar heute bei dieser lauen Nacht einen romantischen Charme versprüht, ist für das laufende Partyvolk eher ungeeignet. Ein schauriges Geschmacks- und Geruchserlebnis. Zweimal links, zweimal rechts und die Nebelbank liegt hinter mir.
War eben noch mildes Abendlicht, so ist es fast unbemerkt schlagartig dunkel geworden. Nicht die richtige Tageszeit, um durch einen Park zu laufen. Zum Glück bin ich ja nicht alleine. Viermal rechts einmal links einmal rundherum. Und so weiter, und so weiter. Es ist dunkel und ich sehe nicht mehr viel. Doch klar, da drüben, die Adolphe Brücke, auch Neue Brücke genannt. Sie wurde in den Jahren 1900 bis 1903 errichtet. Das Ausland verfolgte den Bau der Adolphe-Brücke mit großem Interesse, da es sich bis dahin um die größte Steinbogenbrücke der Welt handelte. Erzählte mir gestern die Stimme aus dem Kopfhörer des Sightseeing-busses.
Nur noch eine schnelle dreimalige links-rechts Kombination und die tiefste Stelle des Marathons ist unter dem Doppelbogen der Adolphe-Brücke geschafft. So einheitlich wie das Wasser ist, welches ich angeboten bekomme, so verschieden sind die Barkeeper-Persönlichkeiten, die es mir reichen. Nach dreißig Kilometern bestell ich mir einen Cola-Wasser Cocktail.
Hier unten an der Alzette waren die kleinen Handwerksbetriebe. Schuster, Scherenschleifer, Bierbrauer, Gerber oder Fischer. Sie lebten und arbeiteten in Höhlen, die aus den Sandsteinfelsen herausgehauen waren. Grobe Töpferware war das Geschirr der Unterschicht, die anspruchsvolle Oberschicht benutzte feines ausländisches Porzellan. Bis Maria Theresia 1767 die lothringischen Steinguthersteller nach Luxemburg holte und den Bochs ganz in der Nähe der Festung ein Grundstück in Erbpacht zur Verfügung stellte.
Dank dem weißen Gold begann die wirtschaftliche Entwicklung in Luxemburg und der Region. Das Renommee Villeroy und Bochs in Luxemburg war so beispielslos groß, dass man dem Unternehmen die Ein- und Ausfuhrzölle, die Straßen- und Brückenzölle erließ und ihnen obendrein Steuerfreiheit für sechs Jahre gewährte. Noch heute kennen wir das Kaffeegeschirr mit dem bekannten blauen Dekor „Brindille“, das 1770 geschaffen und unter „Alt Luxemburg“ zu bekommen ist.
Laufband der Nationen
Jetzt wird’s gemein. Von hier an geht es tendenziell immer aufwärts. Obwohl bereits der größte Teil der Strecke hinter mir liegt, ist der vor mir liegende Streckenablauf ungefähr doppelt so schwer wie stricken mit fünf Nadeln. Ich verlasse den Untergrund. Um mich herum tobt ein Volksfest: Partypeople mit Bierdosen in den Händen johlen, lachen und schreien, feuern mich an oder nicht.
Am Place de la Constitution umschwirrt das Partyfolk die Gëlle Frau (KM35), ein Wahrzeichen Luxemburgs, wie Motten das Licht. Weiter geht es durch ein dichtes Spalier aus Zuschauern in den engen Gassen der Altstadt. Das Getöse der Trommeln hallt durch die Stadt, es ist verdammt warm, die Nacht hat begonnen. Der Spruch an dem Erkerbalkon am Haus in der Altstadt kommt mir in den Sinn: „Mir wölle bleiwe wat mir sin.“ Es ist schon bizarr. Nur wenige Stunden oder 42 Kilometer später sieht man das ganze Luxemburg in einem anderen Licht.
Puh, 37 Kilometer sind an der Großherzogin-Charlotte-Stahlbrücke geschafft. Ich frage mich, ob die 81jährigen Marathonläufer sich auch gerade so alt fühlen wie ich? Der harte Betonboden macht sich an meiner Hüfte bemerkbar, auch die Füße schmerzen. Gähn! Müdigkeit überkommt mich. Harte, unglaubliche zwei Kilometer über die John F. Kennedy Avenue führt die Strecke nur geradeaus, geht es zurück in den Nordosten der Stadt. Wieder laufe ich an der Philharmonie, die ich als Architekturbanausin als gestrandeten Wal bezeichne, vorbei. Das Prunkstück mit den über 800 schlanken Säulen ist beleuchtet und funkelt futuristisch schön in der Dunkelheit.
Die letzte Tankstelle vor dem Ziel. An der beleuchteten Anzeigetafel lese ich 1.334 Euro für EURO 95, Diesel gibt es schon für 1.192 Euro. Eine andere Leuchtanzeige sagt mir, was ich schon fühle: Es sind noch immer (22:20 Uhr) 19 Grad. Zwei Ladys mit ihren Guga-Musikinstrumenten, sprich Tuba und Trompete, musizieren einsam vor sich hin. Das ist wohl der Rausschmeißer, denke ich, genieße aber die ausnahmsweise mal ruhigeren Klänge. Bevor auf dem nächsten Kilometer Electro-Underground, rhythmisches Geblubber, die Läufer beschallt. Gähn.
Für fünf Euro bekommt, wer zahlt, seinen persönlichen go))go))boy der sein persönliches go))go))girl an der Strecke. Jawohl, persönlicher Escort-Service für nur fünf Euro(!). Nur der Name ist von zweifelhafter Herkunft. Was sich so halbseiden anhört, hat aber einen gut gemeinten Hintergrund. Es hilft nicht nur den Läufern auf den letzten harten, weil langweiligen Kilometern, sondern der Erlös wird für ein Krankenhaus in Nepal gespendet.
Die nur Sekunden andauernde Stille wird von der Stadtreinigung mit ihren heulenden Bürstenfahrzeugen unterbrochen. Unglücklicherweise fahren sie so langsam, wie ich laufe. Von hier führt nur noch ein kurzer Fußmarsch zum Höhepunkt der Luxemburger Nacht. Es ist noch Zeit, denn erst um 1:12 Uhr geht der Strom für die Zeitmessmatte in der Messe aus. Kilometer 41. Eine letzte sehr großzügige Rechtskurve über den Platz des Messegeländes, welcher rechts und links von hunderten von Fackeln romantisch beleuchtet ist. Noch drei Meter und ich bin in der Halle – noch immer nicht im Ziel. Die Halle vibriert vor Energie.
Riesige Lichtprojektionen leuchten die Halle aus. Die Boxen dröhnen. Es ist laut. Es ist voll. Gereckte Fäuste, glänzende, glückliche Gesichter – es ist wie bei einem kosmopolitischen Popkonzert. Neonilluminationen und Lichtblitze, zwischendrin krachende Lautsprecheransagen. Statt einer Discokugel an der Hallendecke der Luxexpo schwebt ein ferngesteuerter Zeppelin über die Köpfe der aufgedrehten Läufer.
Im Mittelgang flimmern Bilder der Läufer, die in der nächsten Sekunde im Ziel sein werden, über den Monitor. Was für ein Abend, was für eine Nacht!
Sambódromo
Nach dem Marathon gibt es für die Läufer und die Sambabands nur noch ein Motto: Party, Party, Party. In der großen Luxexpo feiern die Sambabands, glückliche Gäste und strahlende Sieger.
Apropos Sieger: Mit einer Zeit von 4:29:37 kratze ich ganz bestimmt nicht an meiner Bestzeit. Immerhin wurde ich mit dieser Zeit Altersklassen 6. von 16 und damit schnellste deutsche Frau, wohlgemerkt in meiner Altersklasse. Der 81-jährige französische Senior lief in einer Zeit von 4:32:56 durch das Ziel. Puh, gerade nochmal Glück gehabt. Aber aufgepasst: Der 81-jähige Herausforderer Simon in unglaublichen 4:19:17!!! Jedenfalls habe ich mich lange nicht mehr so alt gefühlt wie an Ihrer Seite. Ganz ehrlich, wenn ich nicht dabei gewesen wäre und es mit eigenen Augen gesehen hätte, ich hätte es nicht geglaubt.
Übrigens, in der gleichen Nacht finishte die 91-jährige U.S. Amerikanerin Harriette Thompson den San Diego Marathon in 7:07:42!
Resümee: Luxemburg ist zwar eines der kleinsten Länder der EU, kann aber mit seinem Marathon-Nachtleben mit den anderen europäischen Metropolen jederzeit mithalten. Wer gern stimmungsvoll läuft, kommt an einem Trip nach Luxemburg nicht vorbei. Nachtschwärmer kommen hier auf ihre Kosten. Renndirektor und Chef-Organisator Erich François weiß eben, was sich das überwiegend junge Läuferfolk wünscht.
Wer open-Air-Partys mag, der sollte sich die Jubiläumsfeier zum 10. ING Night Marathon Luxembourg am 30. Mai 2015 auf gar keinen Fall entgehen lassen.
Info: Gesamtzeit/Höhenmeter/Streckenprofil für den Marathon: 6 Stunden / ca. 550 Höhenmeter / ausschließlich Asphalt, 100 Meter Kopfsteinpflaster
Anreise: Luxemburg liegt im Dreiländereck zwischen Deutschland, Frankreich und Belgien. Eine ganz neue Alternative bietet die Anreise mit dem Deutsche Bahn-Bus. Er fährt von Frankfurt/Main über den Flughafen Hahn nach Trier und Luxemburg und das bis zu 15 Mal täglich.
Veranstalter: step by step S.A.
Managing Director: Erich François
Wettbewerbe: Neben dem Marathon werden auch ein Halbmarathon, ein Teamlauf (8,8km; 11,1km; 13,4km; 8,9km) sowie ein Minimarathon und ein Mini-minimarathon (beide ohne Zeitnahme), angeboten.
Bus-Shuttle-Service: Vorhanden
Temperatur: Um 22:00 Uhr noch 19°C
Verpflegung: nach KM 5 alle 2,5 Kilometer Wasser, Iso, Bananen, Energie-Riegel. Ab KM 30 Cola
Zeitmessung: Champion Chip
Preise: Medaille für jeden Finisher. Ein Event-Shirt ist kostenpflichtig.
Ergebnisse Marathon gesamt Männer:
1 Maiyo, Johnston Kibet (KEN), 02:15:44 Stunden
2 Rutto, Stephen (KEN), 02:17:43 Stunden
3 Yator, Bellor (KEN), 02:20:00 Stunden
Ergebnisse Marathon gesamt Frauen:
1. Godana, Meseret Agama (ETH), 02:38:56 Stunden
2. Gulilat, Taye (ETH), 02:39:39 Stunden
3. Kedir, Zehar (ETH), 02:40:46 Stunden
Finisher:
Marathon: 1.022 Männer, 174 Frauen
Halbmarathon: 4.225 Männer, 1.812 Frauen
Teamlauf: 769 4er Teams