Patagonian International Marathon 2014
„Puro, Chile, es tu cielo azulado“
Es ist dieser eine, erste Augenblick. Der Moment, der auf einmal tausend Empfindungen durch meinen Körper strömen ließ. Nie werde ich jenen Tag im März 2009 vergessen, als mich die Flugroute auf den Weg zum Marathon in die Antarktis von Buenos Aires nach Ushuaia über die Weite Patagoniens führte. Gebannt schaute ich aus dem kleinen Flugzeugfenster auf das unter mir liegende wilde Paradies. Sofort war es da, dieses Gefühl von Sehnsucht. Es gibt Landschaften, die vergisst man sein Lebtag nicht und so blieb sie bis heute als Sehnsucht in meinem Herzen.
Ausdauer ist bereits bei der Anreise zu diesem einzigartigen Marathon, bei dem ich mich für die Ultra-Strecke von 63 Kilometern angemeldet habe, gefragt. Denn der Weg aus Deutschland bis an den Start des Patagonian International Marathon im äußersten Süden Südamerikas ist verdammt lang und alles andere als eine Kaffeefahrt. Die Frage, die man sich vor dem Buchen solch eines Trips stellt, lautet: Ist ein gleitender Kondor, grasende Guanakos, ein kalbender Gletscher und eiskalter Wind und Wasser fast am Ende der Welt mehr als dreißig Reisestunden wert?
Chile, das sind die Osterinsel, die knochentrockene Atacama-Bergwüste, aber auch die Anden. Sie sind die zweithöchste Gebirgskette der Erde nach dem Himalaya. Über ein Viertel des Erdumfangs erstreckt sich die sogenannte Mauer der Cordillera de los Andes am Westrand von Südamerika. Dabei bildet die Andenkette vom 18. bis zum 52. Breitengrad die natürliche Grenze zwischen Chile und Argentinien.
23. September, Herbstanfang in Europa
Vor etlichen Stunden betrat ich das Gelände des Frankfurter Flughafens. Kurz vor dem Nachtflugverbot dröhnte die vollbesetzte und eng bestuhlte Boeing 777 der lateinamerikanischen Fluggesellschaft TAM über mein Wohnhaus hinweg – heute war es mir egal. Die vor mir liegende Route führt mich über Sao Paulo nach Santiago de Chile über Puerto Montt und Punta Arenas, Punta Natales und schließlich und endlich in den Nationalpark Torres del Paine.
Den Flug bis nach Sao Paulo in Brasilien verschlafe ich. Dann aussteigen, warten, um zwei Stunden wieder später in die gleiche Maschine einzusteigen. Nun aber geht’s weiter nach Santiago de Chile. Was mich dort erwartet: Aussteigen, mit allem Gepäck auschecken. Hinten an der langen Menschenschlange anstehen, bis ich an den Schalter einer unfreundlichen, nicht englisch sprechenden Dame an der Pass- und Gepäckkontrolle stehe. Immerhin, wenigstens die RideShots von PowerBar, meine Nahrung für den Ultralauf, darf ich behalten. Ansonsten herrschen hier strengste Einreisebestimmungen. Penibel werde ich kontrolliert. Milchprodukte, Fleisch und Früchte sind gänzlich verboten – auch Honig oder Früchtetee. Selbst den verschweißten Globetrotter Kaiserschmarren habe ich, nach Rückversicherung mit dem Fremdenverkehrsbüro, zuhause gelassen. Hurra, ich habe einen weiteren Stempel in meinem Reisepass, ich bin in Chile, doch noch lange nicht am Ziel.
Die Zeit rennt. Wieder lange Schlangen, diesmal beim Check in. Panik. Durchgeschwitzt besteige ich als eine der letzten Passagiere zwei Stunden später das letzte heute startende Flugzeug nach Punta Arenas. Einige der Passagiere sehen aus wie Lauftouristen. Wie ich. Bordservice. Ich versuche einer Stewardess in feuerroter Uniform und feuerrotem Lippenstift zu erklären, dass ich keine Nüsse möchte. Sie versteht nur spanisch, ihre feuerroten Lippen lächeln nicht. Ich nehme die Nüsse dann doch.
Noch habe ich die letzte Nuss nicht geschluckt, setzt die Maschine auf. Es ist nur eine Zwischenlandung zum Tanken im chilenischen Hafenstädtchen Puerto Montt. Die Panamericana endet in Puerto Montt. Passagiere steigen aus, andere ein. Ich darf sitzen bleiben. Eine kleine Ewigkeit später heben wir wieder ab. Erneut Bordservice. Erneut versuche ich einer Stewardess in feuerroter Uniform und feuerrotem Lippenstift zu erklären, dass ich keine Nüsse möchte. Sie versteht mich, lächelt und ich beiße glücklich in ein Stück Kuchen!
Die Nachmittagssonne über den Wolken scheint grell durch das kleine Kabinenfenster, Unter uns verhüllt eine dicke Wolkendecke jeden noch so kleinen Blick auf die weite Patagoniens. Ich genieße die wärmenden Sonnenstrahlen, als müsse ich sie vorsorglich für die nächsten Tage speichern. „Puro, Chile, es tu cielo azulado“, aus einer Strophe der Nationalhymne: Rein, Chile, ist dein blauer Himmel. Die Farben, die Tiere, die Berge sind wie im Paradies; aber es wird regnen, bestimmt. Denn Patagonien wäre ohne seinen Regen nicht denkbar. Drei Tage ohne Regen gelten, laut verschiedenster Reiseführer, bereits als Sensation. Der Wind saust mir um die Ohren. Der erste Eindruck von Punta Arenas ist kühl und ungemütlich. Ja, ich bin in Punta Arenas, aber noch immer nicht am Ziel.
Drei Flugzeuge, viermal Starten und Landen, jeweils begleitet von einigen Turbulenzen. Irgendwann werde ich am Flughafen der südlichsten Großstadt Chiles an der Magellanstraße aus dem Bauch des letzten Fliegers ausgespuckt – fern jeglicher Orientierung.
25. September, Frühlingsbeginn in Südamerika
Am frühen Abend, die erste Sensation: Die hier seltene Frühlingssonne wirft ihre letzten Strahlen auf eine mir noch unbekannte Stadt, Punta Arenas am dreiundfünfzigsten Breitengrad gelegen. Bevor der Panama-Kanal gestochen wurde, war hier der wichtigste Hafen an der Magellan-Straße. Ferdinand Magellan, der große Seefahrer, war es auch, der im Jahre 1520 der Region Patagonien ihren den Namen gab. Inspiriert von den Patagones (Großfüßler). Doch erst 300 Jahre später wurde die Stadt gegründet. Man glaubte lange, es sei zu unwirtlich, um hier zu Leben. Heute ist der Flughafen und die Stadt häufig nur Durchgangsort, besonders für die vielen Touristen, die jedes Jahr die Nationalparks besuchen wollen. Auch Robert Scott nutzte 1904 auf seiner Expeditionsreise zum Südpol Punta Arenas für letzte Besorgungen.
Noch liegen zweihundert Buskilometer auf der einsamen „Ruta fin del mundo“, was so viel heißt wie „Straße am/zum Ende der Welt,“ bis zum kleinen Fischerort Punta Natale vor mir. Es ist windstill und die Sonne versinkt dunkelrot am Horizont. Lachsfarbene Flamingos stehen an einem Wasserloch inmitten der flachen patagonischen Tuntra, um sie herum gelbe, meist windgeplagte Sträucher und kilometerlange Weidezäune in deren Mitte Fleckvieh bis zum Korpus im feuchten Sumpf steht.
Es ist bereits dunkel, als der Bus endlich das Hotel erreicht. Sofort falle ich in dem großen weichen Bett in einen tiefen Schlaf, der, durch die Zeitumstellung bedingt, schon bald beendet ist. Ich schlage die Augen auf und erlebe die nächste Sensation: Schneeweiße Bergspitzen ragen in den blauen Himmel. Das Wasser des Ultima Esperanza Fjords, was so viel bedeutet wie „Fjord der letzten Hoffnung“, kräuselt sich und die nur im Süden Südamerikas vorkommenden schönen Schwarzhalsschwäne tanzen auf seinen Wellen; das Pampasgras weht seicht im Wind.
Um das Hotel Remota herum ist nichts als große Weite. Im Ortskern von Punta Natales suche ich nach einem Outdoor-Shop, während die Profis sich die Beine locker laufen. Ich benötige dringend Gaskartuschen und Proviant für mein Trekking, welches ich mir im Anschluss an den Ultramarathon auf dem sogenannten „W-Weg“ im Torres del Paine Nationalpark, auf welchem auch in Abschnitten der Ultra Trailrun stattfinden wird, vorgenommen habe. Doch davon später mehr. Die Startnummernabholung für alle Distanzen erfolgt völlig unspektakulär im ersten Stock eines Restaurants mit angeschlossenem Souvenirgeschäft.
Bald darauf sitze ich wieder im Bus. Nur noch 150 Kilometer liegen von Punta Natales bis zum Nationalpark Torres del Paine vor mir. Die Schotter-Rüttel-Strecke führt an brauner kargen Pampa und vielen Schafherden vorbei. Deren Wolle wurde einst das weiße Gold Patagoniens genannt, denn mit der Wolle begann der Aufschwung der Region. Die Wolken spiegeln sich in den funkelnden Seen. Kurz tauchen Nandus vor dem Busfenster auf. Einige dutzende Kurven und zahllose Schlaglöcher später erreiche ich endlich das Hotel Serano, aber wieder nur ein Zwischenziel. Die Ankunft ist wie eine Erlösung. Befreit taumle ich mit weiteren reisegeplagten Laufwilligen aus dem Bus.
Bereits in der Lobby des Hotels treffe ich auf interessante Menschen aus der ganzen Welt. World-Traveller mit schwerem Gepäck, junge Hipster und junggebliebene Hippies. Aus- und Einsteiger. Luxustouristen, die diesen Teil der Erde nur für einen Tag mit einem Pisco sour, dem chilenischen Nationalcocktail in der Bar der Edel-Lodge entdecken. Und dazwischen tummeln sich die Läufer in ihren engen Lycras. Jeder hat seine eigene Heldengeschichte im Gepäck. Eines aber eint uns. Der staunende Blick hinter der Panoramascheibe des Hotels, als die Sonne hinter den berühmten Torres verschwindet. Der grandiose Blick entschädigt für alle Strapazen der vergangenen Stunden.
Freitag, 26. September 2014 – Tag des 1. Ultra-Trail Torres del Paine
Mit der dritten Ausgabe des Patagonian International Marathon wurde der Ultra-Trail als neuester Coup des Veranstalters über Distanzen von 109, 67 und 42 Kilometern ins Programm aufgenommen. Dieser wird bereits am Freitag gestartet. Dabei führen alle Distanzen durch den beeindruckenden und bereits seit 1978 von der UNESCO zum Biosphärenreservat erklärten chilenischen Nationalpark Torres del Paine. Die jeweiligen Distanzen werden von unterschiedlichen Orten gestartet, enden aber alle im weitläufigen Areal des Hotel Las Torres, direkt am Fuße der berühmten Torres del Paine.
Sie konnten nur ahnen, was auf sie zukommen wird, trotzdem wagen sich fünfzehn Ultra-Trailläufer, davon zwei Läuferinnen, um 2:00 in der Früh vom sogenannten „Mirador del Lago Sarmiento“ mit Stirnlampen auf die 109 Kilometer lange Strecke. Dazu braucht es mehr als nur Abenteuerdrang und überdurchschnittliche Fitness. Es ist der gigantischste Sternenhimmel, den ich je gesehen habe und das bei Temperaturen, wie in der heimischen Tiefkühltruhe. Der kalte Wind fährt allen durch die Knochen; Furcht vor den Naturgewalten wäre hier unpassend. Wer sich für den Trail entscheidet, egal auf welcher Strecke, durchläuft ein botanisches, menschenleeres wildes Wunderland. Entlang der Strecke wachsen Bäume, in deren knotigen Ästen Flechten wie hellgrünes Haar hängen.
Eine echte Herausforderung: Stundenlang führt der enge, teils noch eisige, rutschige und steinige Singletrail auf- und ab, über kreuz und quer wachsende Baumwurzeln, Geröllwüsten und Flüsse, die, wenn es regnet, als Sturzbäche ins Tal fließen, wo der Wind tobt wie der Sturm in einem Windkanal. Dafür führt die Strecke aber auch an wolkenverhangenen weißen Berggipfeln und farbenprächtigen Seen vorbei. Die Luft ist mal mediterran warm, dann wieder kalt und feucht. Wegweiser und Markierungen sind sparsam gesetzt. Ein Ort für Masochisten? Das Wetter kann blitzschnell umschlagen. Plötzlich aufziehende Wolken, Regen, Schneefall und Eiseskälte.
Im Zweifelsfall retten soll die vorgeschriebene Notfallausrüstung; ein Handyempfang gibt es aber nicht. Genau für diese Art von Ausdauerevents ist NIGSA seit 2002 berühmt. Außergewöhnliche Expeditionen, die es so noch nicht gab. Stjepan Pavicic, Racedirektor und Initiator des Patagonien Marathon, freut sich und gibt das Zeichen zum Start. Stjepan liebt die Natur, das Unsichtbare und Unbekannte, nicht zufällig ist er Geologe. Über zwanzig Jahre war die Vorstellung in seinem Kopf, in seinem Heimatland, dem südlichen Patagonien, ein Outdoor-Abenteuer-Event zu initiieren, das die Wildnis und das empfindliche ökologische Gleichgewicht in das öffentliche Bewusstsein rückt. Hinter NIGSA, einer Non-Profit-Organisation, steht ein Team von Visionären, die in Asien, Europa, Südamerika, Nordamerika, Australien und sogar der Antarktis und der Arktis gearbeitet haben. Gemeinsam schufen sie 2002 auch das Patagonian Expedition Race – ein Abenteuer am Ende der Welt.
„Nie zuvor habe ich solch elende Kreaturen gesehen“, sagte Darwin, der mit diesem Satz die Ureinwohner meinte. Er hätte erstmal heute die Trail-Läufer sehen sollen. Im Ziel habe ich triumphale Mienen erwartet, einen schwärmerischen Gesichtsausdruck. Aber jetzt sehe ich nur Erschöpfte. Auch Yassine Diboun aus Oregon, erfahrener Ultra-Trailläufer unter anderem dreimaliger Western States 100 Meilen Finisher und 2013 auch unter den Top Ten, hat sich verschätzt. Im Vorfeld gab es keine Bilder vom Trail, nur eine Karte und ein klitzekleines Briefing Minuten vor dem Start – auf Spanisch, dass musste reichen. Nach 14:41:05 Stunden durchläuft Yassine den Zielkanal und kommt erschöpft, aber als Sieger an. Dutzenden Fotografen gönnen ihm keine Minute des Durchschnaufens, ich auch nicht.
Jeder will ein Bild von dem malträtierten Korpus, dem von Anstrengung Gezeichneten. Eine von zwei gestarteten Läuferinnen beendet das Rennen vorzeitig. Als bei der abendlichen Siegerehrung auf dem Zufriedenheitstreppchen die zehn besten jeder Kilometer-Kategorie die Sektkorken knallen lassen, sind noch immer nicht alle im Ziel.
Anmerkung: Wer Geschmack auf den Trail-Lauf bekommen hat, erhält einen guten Einblick auf den vielen Fotos über mein W-Weg-Trekking, welcher über viele Kilometer über die Strecke des Ultra Trail führt, am Ende des Berichts.
Samstag, 27. September 2014 – Tag des 3. Patagonian International Marathon
1:00 Uhr: Ich sitze (mal wieder) wach in einem Bus und starre in die Dunkelheit. Logistische Schwierigkeiten sind es, die mich ohne Abendessen erst spät ins Hotelzimmer ankommen lassen. Aus lauter Verzweiflung werfe ich meinen Campingkocher an und verschlinge gierig die erste Tüte hochkalorischer Trekkingnahrung. Sind das schon die patagonischen Verhältnisse? Eben, herausfordernd und schwierig? Ich werde es herausfinden, sage ich schließlich zu mir, ziehe gegen 2:30 Uhr die Decke über den Kopf und schlafe endlich ein. Fünf Uhr dreißig: Jetzt ist es da, das unerbittliche Ende einer viel zu kurzen Nacht! Der Frühstücksraum ist karg besucht. Die ersten kleinen Vögel begrüßen lautstark zwitschernd den neuen Tag.
Toiletten? Einen furchtbaren Augenblick lang und ein paar verzweifelte Augenblicke später ist klar, dass hier an den öffentlichen Toiletten des Lago Grey nur der Treffpunkt aller 63 Kilometer Läufer ist. Grausam werde ich aus dem kuschlig geheizten Shuttle-Bus hinaus in die Kälte geschickt. Inmitten der jetzt noch in dicke Jacken gehüllten Läufergruppe treffe ich hier auch wieder auf Andrea. Fassungslos, dass wir uns ausgerechnet tausende Kilometer von Deutschland und mitten in Patagonien begegnen, fielen wir uns gestern in die Arme. Sie ist mit einer großen deutschen Gruppe Laufwilliger angereist. Wie ich Andrea kenne, ist sie ebenfalls ausgestattet mit einer gehörigen Portion Abenteuerdrang und solider Fitness. Immerhin hat sie erst vor kurzem den 100 Meilen Mauerwegslauf erfolgreich gefinisht, erzählt sie mir stolz.
Wie ein zorniges Rumpelstilzchen, vor Kälte schlotternd, hungrig und übernächtigt, berichte ich ihr von meinem letzten Abend und der viel zu kurzen Nacht. Nur schwer kann ich mich von meiner Daunenjacke trennen, aber es wird Zeit, sie in meinen mit der Startnummer markierten Beutel zu stecken und abzugeben. Ich hefte mir die Startnummer ans Hosenbein und befestige den Zeitmesschip am Schuh. Ich bin soweit, meinetwegen kann es beginnen: mein 63 Kilometer langes Abenteuer Patagonien Marathon.
Start am Guarderia Lago Grey
Was mit großer Nüchternheit am Toilettenhäuschen beginnt, endet schlagartig bereits auf dem Weg zum Start. Fast surreal sehe ich durch Dunst haushohe, bläulich schimmernde Eisbrocken. Die kalten Abbruchreste des Grey-Gletschers sterben hier im Lago Grey. Auf den wenigen hundert Metern hinunter zum Strand treffe ich auf Matt. Der US-Amerikaner trägt kurze Hosen und als sein Markenzeichen einen gepflegten Kaiser Wilhelm Bart. Der junge Jurist, der seinen Vollzeitjob in einer Kanzlei aus Liebe zum Sport an den Nagel hängte, um nun als Nachwuchsprofi im Team Salomon durch die Welt zu laufen, wirkt aufgekratzt. Er zittert beim Reden und die Worte kommen gepresst zwischen seinen Lippen hervor. Dann verliere ich ihn aus den Augen. Er will heute den Streckenrekord brechen. Talent hat er allemal: 2:21 Stunden war seine Zeit beim Boston-Marathon; ohne großes Training. Ich hege keinen Zweifel daran, dass, wenn alles gut geht, er sein Ziel heute erreichen wird.
Dumm gelaufen ist nur, dass auch er gestern Abend auf ein Carboloading verzichten musste und es ihm ebenfalls an Schlaf mangelt. Ultima Esperanza, letzte Hoffnung, heißt die chilenische Provinz, in der sich der Park befindet offiziell. Was soll da noch schief gehen?
Ansichtskarten-Perspektive
Der gewaltige Grey-Gletscher legt uns sein Eis fotogen zu Füßen. Nur wer sich für die Ultralangstrecke entschieden hat, kommt auch in den Genuss dieses einzigartigen Startes im westlichen Teil des Nationalparks. Bekanntermaßen hat die südlichste Provinz Chiles seit jeher den Ruf, dass sich dort niemand gerne freiwillig aufhält. Nur ehemals Strafversetzte, Auswanderer, später Abenteurer und heute zahlreiche Touristen. Ein kalter Wind schlägt mir entgegen; Kühlschranktemperatur.
Es ist Frühlingsanfang noch bleiben die Touristen aus, denen ist es jetzt viel zu kalt. Sie kommen lieber erst im europäischen Winter, also im hiesigen Sommer, aber selbst dann steigen die Temperaturen kaum über 20 Grad. Das fast farblose Ende der Welt bekommt heute dennoch hunderte bunte Sprenkel: Wie mit einem Pinsel auf eine Großformatleinwand getupft werden die aus aller Welt kommenden Läufer über alle Strecken verteilt sein. Neben der Ultramarathondistanz (63 KM), die alle anderen Strecken miteinbezieht, hat man aber auch die Möglichkeit, auf der klassischen Marathondistanz (42,2 KM) zu starten. Wer mag, startet beim Halbmarathon (21,1 KM) oder auf der ebenfalls kurzweiligen 10 Kilometer Strecke.
Das Gebiet um die Torres del Paine wurde 1959 zum chilenischen Nationalpark erklärt. Hauptsächlich beschränkt sich alles auf die Berge. Durch Zukauf und Schenkungen wuchs er im Laufe der Jahre auf die Größe von über einer viertel Million Hektar an. Der Park ist fast autofrei, die wenigen Schotterpisten, die meist nur von kleinen Shuttlebussen befahren werden, durchziehen diesen wie eine Hauptverkehrsader und enden in einer Sackgasse am Hotel Las Torres. Nicht selten wehen im Park oft Winde mit Geschwindigkeiten von 80 bis 100 Stundenkilometern. Dadurch sinkt auch das subjektive Temperaturempfinden auf Werte weit unter dem Gefrierpunkt.
Jetzt ist die Stimmung erhitzt, denn in der Mitte des Strandes stehen die Läufer und fotografieren oder werden fotografiert. Dann geht alles viel zu schnell. Wir sind gestartet, Sekunden später vernehme ich nur noch das Knacken der Eisblöcke auf dem See und das Knirschen der Laufschuhe auf dem Kiesbett. Schon einige steinige Meter und einen kurzen Anstieg weiter, kommt das gerade erst gestartete Läuferfeld zum Stehen. Der Weg endet vor dem Übergang an einer langen Hängebrücke. Durchschnaufen! Immer nur sechs Personen gleichzeitig! Die Brücke wankt und schaukelt. Heftig strömt das Wasser unter mir. Alle wanken wie Betrunkene zügig auf die andere Uferseite, die schnellsten Läufer sind schon weit weg und das Läuferfeld zerstreut. Die ersten Meter sind fabelhaft. Dennoch erwarten uns auf der noch über sechzig Kilometer breiten Schotterpiste konditionell rund 1.200 Höhenmeter mit mal groben, mal mit feinem Schotter.
Grenzenlose Weite, vor mir ein paar Läufer und hinter mir ein paar Läufer. Alle verteilen sich auf der langen, bis zum Horizont geradeaus führenden breiten Strecke. Die nächsten Meter meditiere ich über die Frage, ob ich nicht vielleicht doch ein Kilometerschild oder Wegweiser verpasst habe. Offenbar habe ich mich auch von den gewaltigen Eindrücken um mich herum ablenken lassen. Hier war doch gestern der Start für den Marathon-Traillauf?! Immerhin, diesen Ort erkenne ich wieder. Dennoch fühle ich mich gerade etwas orientierungslos. Dann habe ich mich wieder im Griff, schaue mich um und erkenne Andrea in dunkler Kleidung hinter mir. Ich bleibe kurz stehen, will die Karte rausholen. Schon zieht sie an mir vorbei. Entweder hat sie es eilig oder sie kennt sich hier aus, denke ich mir. In dieser Weitläufigkeit bin ich doch lieber zu zweit allein, als alleine allein.
Wow, links von mir erheben sich die verschneiten Bergspitzen des Cerro Paine Grande und der Monte Almirante Nieto sowie DIE Torres del Paine. Der Abstand zwischen der konzentrierten Tempomacherin Andrea wird größer und größer.
Abseits geteerter Wege
Wie verrückt ist das denn? Ich laufe vor einer Cinemascope-artigen Kulisse inmitten einer der grandiosesten Gebirgslandschaften der Erde. Wie zum Greifen nahe erscheinen die über 2000 Meter hohen Cernos der Torres del Paine und am blauen Himmel schwebt ein Andenkondor. Es ist nicht nur das Ende der Welt, sondern das Ende aller Vorstellungskraft.
Für einen Moment lausche ich dem plätschernden Wasser, dem Gurgeln und Murmeln. Ein verträumter Augenblick. Ein Wagen rumpelt über die Schlaglöcher an mir vorbei und hinterlässt mich in seiner Staubspur. Abrupt kommt er einige hundert Meter vor mir zum Stehen. Ich erschrecke. Drei- oder vier Männer springen aus dem Van und werfen sich mit Fotoapparaten bewaffnet vor mir auf die Knie. Ich muss lachen und versuche, einen möglichst guten Vordergrund für das Fototapetenmotiv im Hintergrund abzugeben. Selbst die hier meist seltene Sonne spielt mit.
„Leave No Trace“
Nach etwa zehn Kilometern erkenne ich am Straßenrand einen einsam stehenden Tisch. Darauf Äpfel, Bananen und zwei große weiße Plastikkanister gefüllt mit Wasser. Das war´s. Damit ich auch morgen noch kräftig zubeißen kann, lasse ich lieber die Finger von den grasgrünen und gut gekühlten Äpfeln, auch an den nächsten Verpflegungsstellen. Hätte ich nur mein Schweizer Messer dabei; zumindest die Bananen sind geteilt, denke ich. Weiß vielleicht jemand den Grund, warum es bei Läufen an den Verpflegungsstellen immer dieses krumme, meist schon überreife Obst gibt? Eine Banane hat etwa 120 Kalorien: Zuwenig für diesen Lauf und die nächste Banane gibt es erst nach weiteren zehn Kilometern. Mit drei Bananen ginge es mir kalorienmäßig besser. Mit drei Bananen im Bauch kann ich aber nicht mehr laufen.
Vorsorglich habe ich mich mit massiven Snickers und PowerShots eingedeckt. Ich drehe am roten Plastikhähnchen des Wasserbehälters und das vom Wind gekühlte, klare Nass gluckert in meine Plastik-Einwegflasche. Apropos Einwegflasche. Natürlich gelten im Park strengste Umweltauflagen. Die gelten auch für uns Läufer. So ist jeder Teilnehmer dazu verpflichtet, sein eigenes Trinksystem (Wasserflasche oder Trinkblasen-System) bei sich zu tragen.
Puente Weber – Berge spiegeln sich im See
Kilometer 21: Ich laufe direkt auf die Nordwestspitze des Lago Toro zu. In einer großgezogenen Kurve kurz vor der Brücke „Puente Weber“ die über den Rio Paine führt, erreiche ich den Startplatz der Marathonläufer. Hier ist es klar. Einundzwanzig kurzweilige Kilometer liegen bereits hinter mir. Die sogenannte Administration, also der Parkeingang, befindet sich unweit von hier. Die Marathonläufer sind um zehn Uhr gestartet, jetzt ist von den etwa 1000 gemeldeten Marathonläufern niemand mehr zu sehen. Nur die verlassenen hellblauen Dixis künden von dem Betrieb, der hier vor kurzem wohl noch herrschte.
Die Berge spiegeln sich im blauen See des Rio Paine, an dessen Ufer ich noch sehr lange entlang laufe. Es ist zu schön. Gerade jetzt steigt die Stecke. In Kurven und Wellen weiter immer weiter hoch. Ein Schild sagt mir, ich bin nun am Lago Pehoé, fast unbemerkt ist der Rio Paine mit dem Lago Pehoé verschmolzen. Ich treffe Andrea wieder. „Nein“, sagt sie, „ich spüre die spitzen Schottersteine nicht unter meinen Füssen“. Kein Wunder, ihre Laufschuhe haben Plateausohlen hoch wie einst die Bühnenschuhe von ABBA. Meine Füße leiden dagegen sehr. Bezahlt macht sich auf diesem Geläuf jedenfalls der knöchelhohe Schaft meiner Sportiva.
Lago Pehoé – wie im Paradies
Kilometer 30: Wellen schlagen ans Ufer. Der Lago Pehoé sieht aus und benimmt sich wie ein schäumendes Meer und die Gischt erwischt mich noch auf der Straße. Das spektakuläre Türkisblau des aufgewühlten Lago Pehoé hebt sich gegen die schneeweiße Berge im Hintergrund und den kobaltblauen Himmel ab. Kein Maler hätte es farbenfroher zeichnen können. Hier gibt es keine Wanderwege, nicht ins Gebirge und nicht ins Inlandeis. Vielleicht haben deshalb Menschen in dieses Naturparadies ein Hotel gebaut? Unpassend wie ich finde, trotzdem würde auch ich gerne darin übernachten.
Das dunkelrote Haus befindet sich jenseits einer langen, schmalen Brücke, sozusagen mitten in diesem türkisfarbenen See. Für manche ist dieser Luxus sogar bezahlbar. Ein einsamer Katamaran auf dem großen See schippert die Touristen über das sonst abgelegene Gewässer in Richtung Salto Grande, dem großen Wasserfall, der den Nordenskjöld-See mit dem Pehoé- See verbindet. Wellig wie der See führt die Strecke weiter. Links von mir der wunderschöne See und rechts leuchtet hin und wieder saphirrotes Torfmoos durch den Friedhof der Bäume. Wie in einem Endzeitfilm ragen die schwarz verbrannten und abgestorbenen Äste wie Arme gen Himmel; dazwischen empfindsames junges Leben: Wiederaufforstung. Hautnah erlebe ich hier die Idee einer Baumspende, die in der Anmeldegebühr enthalten ist. Zwei Brände, 2005 und 2012, von ignoranten Menschen verursacht, zerstörten bald ein Viertel des gesamten Waldbestandes.
Nähe zu den Eingeborenen
Ich verlasse den Lago Pehoé und nach der nächsten Kurve erkenne ich bereits die Ausläufer des Lago Sarmiento de Gamboa. Unweit des Lago Sarmiento de Gamoa wurden Höhlenzeichnungen gefunden, die auf 13.500 und 10.000 vor Chr. datiert werden. Weiter steigt die Schotterstrecke. Das Beige der Landschaft wechselt in leichtes Grün. Die Straße macht nun eine sehr steile Kurve nach oben. Ein Brasilianer mit schriller Klamotte hat sich wohl in der Richtung geirrt und läuft mir flott entgegen.
Mitten auf dem Schotterweg steht plötzlich eine wildlebende, von Selbstbewusstsein strotzende, Guanako-Familie. Fast schon arrogant halten sie ihre Nasenspitzen nach oben. Die bis zu zwei Meter großen Tiere mit ihrem wolligen hellbraunen Fell sind Verwandte der Lamas und Alpakas und dienen Pumas als Hauptmahlzeit. Vor Menschen haben sie keine Angst, sie beäugen nur neugierig das ungewohnte Treiben auf der Straße, die sonst meist nur von Autos befahren wird. . 50 Millionen Guanakos sollen bis zur Ankunft der Spanier in Südamerika gelebt haben. Dann wurden sie massenhaft abgeschossen. Wegen ihres schönen Fells und für Weideland der Schafe. Der Bestand wird heute auf 600.000 geschätzt. Hier bei der Laguna Melitas findet man die etwas zu groß geratenen Kuscheltiere.
Der Brasilianer lässt mich gerne vorauslaufen. Unbeirrt zeige ich ebenfalls keine Scheu, doch die Tiere springen mit ihren relativ langen Beinen wie Bergziegen auf und davon. Ich bin allein mit den Tieren und der gigantischen Landschaft. Ich komme mir vor, wie ein Eindringling in einer Welt, in der andere zuhause sind. Ich beschließe ein Stück zu gehen, um die Eindrücke auf mich wirken zu lassen. Schönheit, Ruhe und Bewegung, alle möglichen Themen bieten sich zum Träumen an. Wie es wohl wäre, hier für immer zu bleiben, die überdrehte Welt einfach hinter mir zu lassen? Vielleicht wie die Gouchos mit roter Filzkappe, Schaftstiefeln und Pluderhose zu reiten und dann und wann mal ein E-Mail nach Hause zu schreiben?
Lago Nordenskjöld – Vom Winde verweht
Ca. Kilometer 42: Keine Ahnung, wie viele Kilometer ich nun gelaufen bin. Ich hatte mir das doch nicht eingebildet. Es gibt keine Kilometerschilder. Rechts von mir ist der Lago Sarmiento de Gamboa, links der Lago Nordenskjiöld, benannt nach dem schwedischen Geologen Otto Nordenskjöld. Weitere Orientierung geben mir die Verpflegungspunkte so etwa alle zehn Kilometer Pi mal Daumen.
Stimmt, von weitem erkenne ich den Verpflegungsstand. Von dort sind die Halbmarathonläufer vor einiger Zeit gestartet. Ich habe unglaublichen Durst, ich weiß nicht woran es liegt, aber ich könnte ständig trinken – so viel Durst habe ich sonst nie. Liegt es tatsächlich am Wind oder an der trockenen Luft? Das Mittagsmahl ist karg; zu Wasser, Banane und Snickers gibt es patagonisch-frühlingshafte Wetterverhältnisse. Die Vorstellung, kaltes Wasser an einem regenreichen, windigen und schneereichen Tag durchzustehen… wir sind doch sehr verwöhnt in unserem Europa mit warmen Tee und Apfelschnitzen. Ich verspreche, dies in Zukunft mehr zu würdigen!
Mir geht die Puste aus, dem Wind nicht
So wie sich die Läufer unter der Pein des Aufstiegs beugen, so krümmen sich die Bäume und Sträucher im rauen Wind. Südamerikas Spitze ist der einzige Zipfel auf der Erde, an der die „Roaring Forties“, zwischen dem 45 und 55 Grad südlicher Breite als subantarktischer Westwindgürtel fegen. Wenn die Breeze das Festland erreicht und dort auf die Eiswüste vom Südpol trifft, kann das nur sehr, sehr kalten Wind bedeuten. Mir ist das egal, solange er nur von hinten kommt. Der Wind sei hier immer, erfuhr ich tags zuvor im Hotel, er sorge für gutes Wetter. Nun schiebt er mich den Berg hinauf als wolle er sagen, ich soll aufhören zu bummeln. Unfreiwillig werden meine schweren Schritte kürzer, dafür immer schneller und schneller. Fast wie von selbst habe ich die Bergkuppe erreicht und yippi, es geht abwärts. Ich breite die Arme aus wie Flügel – es würde mich nicht wundern, könnte ich jetzt fliegen.
Laut ist der Wind, still segelt der Kondor
Mein Soundtrack ist das rhythmische Klimpern der Steine unter meinen Füßen auf der schnurgeraden Straße und das Lied in meinem Kopf „El cóndor pasa“ („Der Kondor fliegt vorüber“), als ich plötzlich und unerwartet Fluggeräusche über mir höre. Kann das sein? Und wirklich, ein mächtiger, schwarzer Greifvogel mit weißer Halskrause und einer Flügelspannweite von bestimmt drei Metern zieht über meinen ausgemergelten Leib seine Kreise. Das glaubt mir zuhause keiner! (Die Bilder sind mein Beweis.) Fasziniert kann ich meinen Blick nicht von dem Kondor abwenden.
Die immer wieder einsetzenden Sturmböen und die Kälte ziehen auch den anderen Läufern jegliche Energie aus den angeschlagenen Körpern, fast könne man glauben, er lauert hier schon auf seine Beute, denn der Andenkondor ist ein Aasfresser. Um an seine Beute, normalerweise bestehend aus Kühen, Guanakos oder Scharfen zu kommen, versucht er die Tiere durch heftige Flügelschläge an steilen Berghänge zu treiben, um sie zum Absturz zu bringen. Ist ihm das gelungen, kann er genüsslich von den Teilen seiner „erlegten“ Beute fressen. Einen Kondor zu sehen, hat nicht nur faszinierende, sondern auch für mich auch nützliche Seite. So heißt es: Solange der Kondor fliegt, gibt es keinen Regen.
Ich beginne Marathonläufer und Halbmarathonläufer zu überholen – die hinteren versteht sich. Sie sind jeweils durch ihre andersfarbige Startnummer gut zu erkennen. Kurven schlängeln sich nach oben. Beigebraune Büschel wie Blumenkohl. Schade, so plötzlich wie er kam, ist der Wind auch wieder verschwunden. Jetzt schwitze ich in der Sonne. Beim kleinsten Windhauch wird es sofort wieder kühl. Doch der ständige Wind bläst die Falten der Anstrengung schnell wieder aus meinem Gesicht. Für mich sind einige der Steigungen aber auch eher willkommen als abschreckend.
Einer der großartigsten Momente, sich ganz klein zu führen
Schon steigt die Strecke wieder. Steil zwar, aber breit wie eine Landstraße und zunächst ganz ohne Kurven. Auf einmal, wie aus dem Nichts, erscheinen die berühmten Bergspitzen der Andenikonen, die bizarren Zähne der Torres. Namensgeber sind der Cuerno Principal und der Cuerno Este, zusammen als die „Hörner des Parks“ bekannt. Dichte Wolkenberge hängen davor, bilden die dramatische Kulisse als Nebendarsteller dieser Naturbühne, mir einsamen Läuferin aus Europa. Ich muss mich richtig anstrengen, um nicht fortwährend auf diese magischen, zackigen Torres, die wie aus dem Boden zu wachsen scheinen und so unglaublich nah erscheinen, zu starren. Die Perspektive ist auserlesen, viel Zeit für Aussteiger-Romantik bleibt jedoch nicht: Weit, sehr weit kann ich nun auf die Strecke schauen, die noch vor mir liegt. Es hat so etwas wie die Badwater Road in Kalifornien, die mitten durch das Death Valley führt. Die grasenden Guanakos interessieren sich nicht mehr für mich. Weit ist der Blick in die Landschaft, über die Steppe, über grünbeige Hügelketten in der Ferne.
Laguna Amarga – Eine letzte Brücke führt über den Rio Paine
Ca. Kilometer 55: Yippi, in Serpentinen geht es abwärts. Kleine Läuferpunkte unter mir. Wie aus dem Nichts spüre ich hinter mir den Atem einer Läuferin in meinem Nacken. An der letzten Verpflegung blicken wir uns gegenseitig auf die Startnummern und dann in die Gesichter. Der Lauf sollte kein Rennen werden. Aber meine Stärke ist das Bergablaufen und die spiele ich jetzt aus.
Weit, sehr weit unter mir erkenne ich die Brücke, die über den Rio Paine führt. Ein weiter Weg in einer weiten Landschaft. Schritt für Schritt rase ich bergab; schaue nicht nach der vermeintlichen Altersklassenkonkurrentin irgendwo hinter mir. Schließlich erreiche ich die Brücke. Der Holzboden der schmalen Brücke ist wie ein kurzer Moment Wellness für die durch die Schottersteine seit Stunden geschundenen Fußsohlen. Und nicht nur wegen des Schotters werden die letzten Kilometer nochmal hart. Besonders wegen der vielen Fahrzeuge, die sogar nicht hier her passen wollen und der langgezogenen Strecke, die nicht enden will.
Wie ein Paukenschlag endet an der Brücke das schöne Naturschauspiel. Immer mehr Vans, Busse und Kleinwagen werden von Guardaparques, also Park-Rangern, auf Motorrädern eskortiert. Rushhour? Kaffeezeit? Ja, auch. Es sind vor allem die Fahrzeuge derer, die ihre Laufdistanzen schon beendet haben und nach Hause fahren. Außerdem ist die Strecke der Verpflegungsweg, auf dem alle Güter von Puerto Natales in den Park gebracht werden. Der Wind weht den Staub und den Gestank der Autos aber schnell runter von der Straße und die Eindrücke der vergangenen etwas mehr als sieben Stunden sind von so erhabener Schönheit, dass ich die Fahrzeuge und deren Insassen in meinem Kopf einfach ausblenden kann.
Noch knapp einen Kilometer. Von weitem erkenne ich die grünen, unverwechselbaren Kuppelzelte des „EcoCamp“. Die wie Stelzen mit einer Plattform stehenden Zelte sind den Hütten der Ureinwohner nachempfunden und mehrfach wegen ihrer Umweltfreundlichkeit ausgezeichnet. So verfügen die edel eingerichteten Kuppelzelte über Komposttoiletten – nicht zu verwechseln mit den Donnerbalken – über Kleinwasserkraft, Windkraft und Recycling. Grandios stelle ich mir das Einschlafen unter der Kuppeldecke vor, wenn der Sternenhimmel die durchsichtige Außenhaut des Zeltes durchleuchtet.
Zieleinlauf in Gaucho-Atmosphäre
Weiter zieht sich die Strecke, um in der nächsten Kurve noch einmal weitläufig auszuholen, bevor es wieder lange geradeaus geht. Noch über eine winzige Holzbrücke, an einer Estanzia mit hunderten von Pferden vorbei und ich bin im Zielkanal. Nur ein letzter Anstieg über eine Wiese, dann habe ich hier am Hotel Las Torres das Ziel erreicht: Eine junges Mädel steift mir eine Medaille über den Kopf. Es sollte für heute nicht die letzte sein.
Das riesige Areal rund um das Hotel Las Torres ist ideal gelegen für eine Finisher-Arena, Siegerehrung und einem magellanischen Grillfest. Ein gutes Dutzend ausgeweiteter Lämmer hängen aufgespießt am Feuer. Das bezeichnet man hier als „Asado al Palo“. Ich mag Lämmer lieber lebend und verzichte daher gerne, freue mich aber auf eine heiße Dusche im Hotel Las Torres. In der Wohlstandsherberge sind die Läufer mit ihrer verschwitzten Kleidung und ihren staubigen Laufschuhen gern gesehen. Viele haben sich hier gleich ein Zimmer genommen. Andere müssen für eine aufgrund des Ansturms überforderte lauwarme und spärlich wassergebende Dusche 5.000 Peso ausgeben.
Alte Schwarzweiß-Fotos in der Lobby und eine Ausstellung im Nebenraum zeugen von vergangenen Tagen. Es spielt Andenfolklore. Das Hotel Las Torres war einst eine große Ranch, erst Schaf-, später eine Rinderranch mit über sechshundert Tieren. Zu Beginn der 90er Jahre wurde es ein Hotel. Dort schläft die Wildlife-High-Society, um mit den Gauchos durch die Pampa zu reiten und von hier starten die meisten Backpacker ihre Trekkingtouren. Aus den einstigen zehn einfachen Zimmern wurden weit über achtzig, darunter einige Suiten, zwei Restaurants und ein Wellnessbereich. Rinder gibt es keine mehr, dafür breiten sich mehr als zweihundert Pferde auf dem weitläufigen Areal aus.
Westernatmosphäre, besonders dann, wenn die Gauchos reklametauglich auf ihren Pferden die verstreute Herde wieder zusammentreiben. Die Herde der Läufer kommt ganz freiwillig, nach einer Dusche oder der Grillfleischvöllerei, vielleicht aber auch nach beidem, zur Siegerehrung wieder zusammen.
Die Siegerehrung erfolgt auf Spanisch. Es dauert einen Moment, bis ich verstanden habe, was hier z. B. die Altersklasse „Puma“ bedeutet. Für alle Distanzen erfolgt die Altersklassenwertung in Zehn-Jahres-Schritten. Zuerst werden die Sieger der 18-29 Jährigen hier als Guanacos bezeichnet, aufgerufen. Es folgen die Pumas, Huemules, Zorros und die Condores.
Als Matt, ihr wisst schon, der 29 jährige US-Amerikaner mit dem Kaiser Wilhelm Bart, als Gesamtsieger über die 63 Kilometerdistanz aufgerufen wird, weiß ich zumindest mal, dass es jetzt vielleicht spannend werden könnte. Matt hat die 63 Kilometer und 1200 Höhenmeter übrigens in 04:19:17.2 gelaufen und damit den bestehenden Streckenrekord um mehr als eine Stunde unterboten!
Dann werden die Zorros aufgerufen. Gewonnen? Tatsächlich gewonnen! Andrea und ich fallen uns in die Arme. Stolz, gemeinsam und doch zufällig ein großes Abenteuer in Patagonien erlebt zu haben und jetzt dafür geehrt zu werden. Eigentlich war doch für mich der Weg das Ziel. Aber jetzt, vor der großen Kulisse, dem überwältigenden Panorama, verleiht die große massive Medaille diesem einmaligen Lauf einen ungeahnt würdigen Rahmen. Diese Medaille wird mich auch noch Jahre später an meinen Altersklassensieg bei diesem Ultra-Marathon erinnern.
Sensationell: Die Sonne, unsere Gesichter und – so scheint es – auch die Torres strahlen vor Glück.
Anmerkung: Wen nun die Abenteuerlust packt, aber weder der Marathon noch der Trailrun Herausforderung genug sind, der sollte sich ab 27. Oktober 2014 für das Patagonian Expedition Race® in 2016 bewerben. Das Rennen selbst findet vom 13. bis zum 26. Februar 2016 statt. NIGSA verspricht eine extreme Erfahrung in einem wilden Gebiet, wo die Teilnehmer sich selbst in Frage stellen und miteinander außergewöhnliche Erlebnisse im Süden Patagoniens teilen.
Anschlussprogramm: W-Trek ohne W-Lan
Ab jetzt gehöre ich zu den Mochileros – wie man die Rucksacktouristen hier bezeichnet. Jenseits des Lederhosen-, Rote-Socken- oder dem Tatzen-Jacken-Image. Bei diesem abenteuerlichen Treck bekomme ich hoffentlich die Extraportion Abstand zum Alltag. Raus aus der Zivilisation und rein ins Abenteuer.
Aber was ist ein Abenteuer? Der Vorstoß in mir unbekanntes Terrain? Nur eine neue Herausforderung hat noch das ein- oder andere persönliche abenteuerliche Geheimnis. Abenteuer ist etwas, mit dem man sich schon lange beschäftigt. „Wenn dem Wollen ein Tun folgt, ist das der erste Schritt zu einer neuen Erfahrung“ – Monika Minder. Für mich stehen unter den Outdoor-Zielen mit Abenteuerpotential Patagonien neben Nepal und Kanada ganz oben. Für den einen mag es die Besteigung des Kilimandscharo oder des Everests bedeuten, für mich reicht schon die „beste Trekking-Tour der Welt“ und die beginnt, wie für die meisten Backpacker vor dem Hotel Las Torres im chilenischen Nationalpark des Torres del Paine.
Diese Trekkingtour hat ihren ganz besonderen Reiz: Ich dringe in Landstriche vor, die Autofahrern und Tageswanderern verschlossen bleiben, ich kehre der Zivilisation tagelang den Rücken und erlebe bei der Übernachtung im Zelt die Natur intensiver als sonst. Ich laufe mal weniger oder mache an einem anderen Tag Strecke, um an einem besonders schönen Platz mehrere Nächte zu verweilen. Und selbst das Fertigessen schmeckt unter freiem Himmel besser als zu Hause.
Mein Abenteuer heißt „Dabbelju-Trek“ der mich Tage lang in W-Form durch den Nationalpark Torres del Paine führt. Es ist ein kalkulierbares Abenteuer. Wer sich die Karte vom Nationalpark anschaut, erkennt schnell die zwei unterschiedlichen Wegmöglichkeiten. Der eine heißt O, weil man darauf in acht bis zehn Tagen einmal um den Gebirgsstock herumgeht (vielen ist der Rundweg zu anstrengend, sie quartieren sie sich in den wenigen Unterkünften ein, und unternehmen von dort aus Tagestouren) und der andere heißt „W“ und führt im Laufe von vier bis fünf Tagen im Zickzack zu den eindrucksvollsten Punkten. Nachdem das „O“ wegen Schnee nicht zu machen ist, ich aber genügend Zeit habe, habe ich mir den „W-Weg“ doppelt vorgenommen – hin und wieder zurück. Das hat den Vorteil, dass ich mich nie umdrehen muss.
Meine Statur würde ich als eher klein und zierlich beschreiben und ich schleppe schwer an meinem riesigen Rucksack, der an meinem Rücken festgezurrt ist. Bepackt mit reichlich Lebensmittel, Wasser kann man getrost aus den Flüssen und Bächen trinken, dazu all die Ausrüstung, die man braucht, um in der Wildnis zu überleben. Jedes Kleidungsstück habe ich zuhause gewogen, die Waschanleitungszettel rausgeschnitten, den Stiel der Zahnbürste abgesägt und immer, immer wieder etwas aussortiert. Dennoch ist ein Zelt, eine Isomatte, ein Schlafsack, Regenbegleitung, Kochtopf unverzichtbar. Jetzt fürchte ich gar bis zum Ende der Reise auf ein Bonsai-Format zu schrumpfen.
Nach der ersten Etappe sind die angstvollen Visionen von stundenlangem qualvollem Gehen, in Sturm und Dauerregen, vom Winde verweht. Zum ersten Mal weckt mich der Wind. Es ist morgens um drei, immer wieder zerren Böen an meinem, für starke Stürme gemachten Zelt. Rau und wild peitscht der Wind in einer Geschwindigkeit oftmals 120 Stundenkilometer darüber hinweg. Um mich herum donnert es, wie man es von einer Herde galoppierender Büffel in der amerikanischen Prärie erwartet und nicht von eine Horde übergroßer Pampashasen. Weitere Schläge kommen vom Berg: Wie das Getöse eines Orkangewitters rollen immer wieder Stein- oder Schneelawinen in die Schlucht. Nur Frühaufsteher können sie mit ein wenig Glück erleben: Die Magie der „Türme“ bei den ersten Sonnenstrahlen.
Um 5:00 Uhr heißt es im sogenannten „Base Camp“, einem auf das Gemüt schlagender düsterer Wald der als Selbstversorgercampingplatz aber Ideal gelegen, sozusagen direkt an der Wurzel der Torres-Zähne, Schlafsack in den Rucksack packen, lange Funktionsunterwäsche, Mütze, Buff und Handschuhe anziehen und zum Schluss die Stirnlampe aufsetzen. Dann steige ich auf. Mein Körper dampft in der Kälte der Nacht. Sternenklarer Himmel. Ich starre in den Kegel meines Lichtes. Rechts und links davon ist es finster. Weit hinter mir sehe ich, wie an einer Kette, andere Lampen aufblitzen. Gerade jetzt fällt mir der Puma ein. Hält er sich nicht hier in Bergen auf? Beobachtet er mich nicht gerade aus seiner Höhle? Der Winter ist gerade erst vorbei und er sicherlich noch ausgehungert. Aber wäre es nicht auch irgendwie toll, einen wildlebenden Puma vor die Linse zu bekommen, der sich zu Hause selbst im Zoogehege vor uns Menschen versteckt?
Eine gute Stunde und einige Höhenmeter später habe ich das Fotostativ im Schnee aufgebaut, meine fast erfrorenen Finger umklammern die Tasse mit heißem Tee. Die Luft und der Himmel sind glasklar. Da schmerzen auch 5 Grad Celsius unter null wie 20 Grad Celsius unter null in dem eigentlich kuschligen warmen Schlafsack. Eisiger Wind pfeift mir um die Ohren, aber es fühlt sich gut an, diese eiskalte, klare Luft und die unglaubliche Ruhe. Das einzige was tobt, ist der Tinnitus in meinem Ohr. Im Schlafsack eingewickelt warte ich an der Wurzelspitze der berühmtesten Bergspitzen der Welt auf das gleich einsetzende Schauspiel: Der Sonnenaufgang an den Cuernos del Paine, den „Hörnern des Parks“, die obwohl ich sie schon zuhause auf der gemütlichen Couch im wohltemperierten Wohnzimmer auf so vielen Titelblättern von Outdoor-Magazinen, im Fernsehen und auf Postkarten gesehen hatte.
Die Sonne und die „Torres del Paine“ sind die Hauptdarsteller auf der Naturbühne Patagoniens. Ich sitze leibhaftig wie ein Zuschauer im unbeheizten Theater in der ersten Reihe und warte gespannt auf den Beginn der Torres-Show. Dabei handelt es sich, realistisch betrachtet, doch nur um drei nadelartige Granitberge, die senkrecht wie Türme in den Himmel ragen; sie sind noch nicht mal sonderlich hoch (2.600 und 2.850 Meter). 1952 wurde zum ersten Mal der Paine Grande, der höchste Berg im Torres del Paine, bestiegen. Dieser Berg ist zwar nicht viel höher als die Zugspitze, aber er gilt mit seinen Gletschern, Granitwänden und Wetterwechseln als extrem anspruchsvoll.
Es dämmert und dennoch zieht mich die Magie dieser mächtigen Türme sofort in ihren Bann. Melancholische Schweigsamkeit und nur ab und zu ein Seufzer, so überwältigend ist die Schönheit. Die Show beginnt ganz zaghaft um sich nach und nach in den Höhepunkt zu steigern. Was jetzt beginnt, ist die Torres-Show. Als wenn jemand ein Streichholz anzündet, fangen die Spitzen der Türme zu glühen, dann goldgelb zu leuchten an. Minuten später erscheinen die vollständigen Türme im strahlenden Glanz des wärmenden Sonnenlichts.
Nach dem Abstieg schmeckt ein aufgebrühter Pulverkaffee nochmal so gut. Nach jedem Tag, jeder Stunde, noch jeder Kurve, nach jedem zurückgelegten Höhenmeter jagt ein Höhepunkt den Nächsten. Der gut vorgespurte schmale Single Trail ist ideal für Tagestouren von einer bis zu mehreren Stunden. Je nach Lust, Wetter und körperlicher Verfassung. So genieße ich z. B. nach einer Nacht im „Campamento Italiano“ einen Marsch ins sogenannte französische Tal. Entlang des milchigen Flusses “Río Francés” laufe ich bergauf bis zum Gletscher “Glaciar Francés”, begleitet vom ständigen Krachen der Lawinen, die sich staubend aus dem Gletscher lösen und über eine dunkelgraue Felswand ins Tal hinabstürzten, weiter bis zum Ende des Tales dem “Mirador del Valle del Francés”. Von dort eröffnet sich der Blick auf eine der beeindruckenden Naturkulissen des ganzen Nationalparks, ein Amphitheater aus Felswänden und -gipfeln des Paine Grande, Catedral, Hoja, Máscara, Espada, Aleta de Tiburón und Cuerno Norte… Dazwischen gibt es immer wieder Sahne-Nuss-Schokolade, Paprika-Chips, Nüsse und jede Menge Kekse.
An keiner Stelle übt sich die Natur in Bescheidenheit. Jeder See spiegelt in einer anderen Farbe. Von smaragdgrün, türkis, tiefblau, und dem Lapislazuli-Blau. Am kalbenden Ende des Lago Grey Gletschers genieße ich den Fernblick auf die im dem See schwimmen mächtigen Eisberge. „Tierra del Fuego ist keine Gegend für Sonnenbäder und Bikinis“, schreibt T. C. Boyle in seinem Buch „Zähne und Klauen“. Die Nacht ist kalt. Weiter oben in den Bergen fällt Schnee. Was mir gerade fehlt, ist eine wärmende Nasszelle und ein heißer Tee der von innen wärmt. Bereits nach fünf Tagen ohne Dusche wird jedes Aufflackern von Abenteuerromantik durch die kalte Dusche, die unglücklicherweise nach dem Einseifen meiner langen Haare, ganz ihren Dienst versagt, im Keim erstickt. Ich zweifle an meiner Tauglichkeit als Abenteurerin, wenn ich hier schon… Und dabei habe ich die Bücher und Erlebnisse von Amundsen, Scott, Messner und Co. zu Hause auf der Couch am warmen Kamin regelrecht verschlungen. Selbst in der Antarktis war es scheinbar wärmer…
In der Saison jedenfalls können der Weg und seine Hütten/Campingplätze sicherlich bedingt durch die Menschen- insbesondere Studentenmassen sicherlich zum Albtraum werden, jetzt jedenfalls ist es einfach nur ein Traum, zu der auch schon mal eine kalte Dusche gehört. Unterwegs treffe auf die unterschiedlichsten Charaktere: Aussteigern auf Zeit, die sich mit einem RTW-Ticket eine Reise um die Welt gönnen und die hier am Lago Pehoé ihr Ende findet. Oder auf eine allein reisende junge Medizinstudentin aus Frankfurt, die in Punta Arenas ein Praktikum macht. Weiter einer jungen Schweizerin, die mich ernsthaft fragt, ob der Zauberberg von Thomas Mann eine Fernsehserie sei.
Auch treffe ich überraschend Yassin und Matt sowie zwei weitere Profi-Trail-Läufern wieder. Sie nutzen das abwechslungsreiche Gelände und trainieren noch einige Tage im Park. Mit ihren kurzen Laufshorts und minimalistischen Rucksäckchen sowie ihrer hohen Laufgeschwindigkeit sind sie die Exoten auf diesem Trail. Im Gegensatz zu mir haben lassen sie es sich für eine andere Übernachtungsvariante entschieden. Sie genießen die Tage im schönen Refugio Los Cuernos.
Ein Backpacker aus Namibia, mit deutscher Mutter und dem gleichen Zelt in anderer Farbe, fragt mich mit ernstem Blick und ohne dass ich vorher ein Wort gesprochen hätte, ob ich Deutsche sei? Woran er das erkenne, antworte ich. „Your tent is bolt upright“, und macht die entsprechende Handbewegung dazu, indem er eine gerade Linie andeutet „That‘s typical German“!
Mehr als sechs Backpacker oder Tagestouristen begegne ich nie auf meinem Weg. Es folgt, fast schon ein Ritual, die immer gleichen Konversation: „Wo kommst du her?“, „Wo willst du hin?“ Ach ja, das Leben kann so einfach sein. Nach 9 Tagen im Zelt und dann doch immerhin 145 Trekking-Kraftausdauer-Kilometer und 6.848 Höhenmetern liege ich in wohliger Erschöpfung auf dem Bett des Hotels las Torres und nehme einen kräftigen Schluck Sekt aus der Flasche, die ich vor einigen Tagen beim Ultra-Marathon gewonnen habe und die ich hier im Hotel für diesen Tag deponieren ließ.
Meine Ausrüstung war o.k., was ich mir hätte sparen können, war die wasserfeste Handyhülle. Nachdem ein gewaltiger Waldbrand vor vier Jahren im Park 15 000 Hektar Wald zerstört hatte, forderten viele einen Sendemast. Vermutlich wäre der Brand schneller gelöscht worden, hätte es Handyempfang gegeben. Die Parkverwaltung entschied sich für die Waldbrandgefahr und gegen die Klingeltöne.
Was mich morgen auf der Reise nach Europa erwartet, weiss ich. Die Bilder der letzten Tage erscheinen vor meinem inneren Auge. Noch einmal wecken sie die Sehnsucht nach eisiger Luft, nach der puren Ruhe in meinem Kopf. Ja, so mein Resümee: Auch wenn die Höhenunterschiede unwesentlich sind, die landschaftlichen Eindrücke sind erstklassig. Die Outdoor-Erlebnisse im Nationalpark Torre del Paine sind großartiges Kino; sozusagen Patagonien im Breitwandformat – und die mehr als dreißig Reisestunden allemal wert.
Steckbrief für den ULTRA-MARATHON: 63 Kilometer / 9:30 Stunden / 1200 Höhenmeter / 100 % Schotterpiste
Anreise nach Chile: Die Erreichbarkeit ist (fast) kein Problem, lediglich die Zeit ist es. Von Frankfurt am Main fliegt die TAM über São Paulo weiter nach Santiago de Chile. Weiterflüge nach Punta Arenas gibt es mehrmals am Tag. Ein gültiger Reisepass genügt zur Einreise.
Den Nationalpark Torres del Paine erreicht man ab Punta Arenas mehrmals täglich mit Linien-Bussen, die über Puerto Natales fahren. Ein Busticket von Punta Arenas nach Punta Natales kostet 6.000 Peso für die zweieinhalb stündige Fahrt. Ein guter Ausgangs-, Zwischen- oder Endpunkt ist das Design-Hotel Remota in Punta Natales.
Wechselkurs: 1000 Peso = 1,33 EURO. Die Landewährung ist der Chilenische Peso. Alle Preise sind in Peso ausgezeichnet.
Die Amtssprache ist spanisch: Die Chilenen sind sehr freundlich und man kommt mit englisch und Zeichensprache immer weiter.
Veranstalter: Nomadas International Group, S.A.
Verpflegung: Wasser, Äpfel und Bananen
Wettbewerbe: Neben dem Ultramarathon (63 km), Marathon (42 km), Halbmarathon (21 km) und den 10 km Lauf, wird seit diesem Jahr auch ein Ultra-Traillauf über 109, 67 und 42 Kilometer angeboten.
Finisher Patagonien International Marathon:
Ultramarathon Finisher: 40 Männer, 13 Frauen
Marathon Finisher: 123 Männer, 42 Frauen
Halbmarathon Finisher: 266 Männer, 176 Frauen
10-KM Finisher: 158 Männer, 164 Frauen
Angemerkt: Der Gesamtanteil der Frauen liegt bei 40 %!
Ultra Trail:
109 Kilometer Ultra Trail Finisher: 8 Männer, 1 Frau
67 Kilometer Ultra Trail Finisher: 29 Männer, 4 Frauen
42 Kilometer Ultra Trail Finisher: 25 Männer, 8 Frauen