Andrea Helmuth

Andrea Helmuth

Prag Marathon 2012

Rock und Barock

 

Wie steht es mit eurer Bereitschaft zu lesen? Werden unsere Texte nur überflogen? Die Wissenschaft bescheinigt uns allen eine schwindende Bereitschaft, gedruckten Gedankengängen zu folgen. Dagegen hilft nach Meinung von Experten eine Kombination von Körper und Gehirnjogging. Es reicht nicht das routinemäßige Abfragen von Wissen. Man muss seinen Geist schon quälen. Na denn, viel Spaß beim Lesen.

 

 

 

Finster soll es gewesen sein, barbarisch, man fror und hungerte, und mit Gegnern ging man nicht besonders zimperlich um. Könnten die Pflastersteine in den Straßen und Gassen sprechen, könnten sie aus der Zeit der Romanik, Gotik, Renaissance, Barock, Rokoko, Klassizismus, Kubismus erzählen. 1000 Jahre Stadtgeschichte. Viele Reiseführer sind über Prag geschrieben worden; durch einige habe ich mich im Vorfeld dieses Marathons, der auf geschichtsträchtiger Boden stattfindet, gewühlt. Dabei habe ich unzählige Informationen gesammelt über die Kirchen, Brücken und natürlich von der größten Burg der Welt. Hinzu kommt der 1. 2. und 3. Fenstersturz, der „Prager Frühling“.

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Zuviel Kultur und zu viel Geschichte für einen Laufbericht? Wo soll ich anfangen? Vielleicht mit dem, was wir über die Stadt schon wissen? Prag war für mich zunächst ein eleganter Herr im Stresemann, im Revers eine weiße Nelke, in der Hand ein schwarzer Regenschirm und auf dem Kopf eine schwarze Melone. Pan Tau klopft einfach mit den Fingerspitzen auf seinen Hut, streicht einmal an der Krempe entlang – und schon passieren ziemlich seltsame Dinge. Er kann zaubern und sich auf Puppengröße schrumpfen lassen. Karel Gott wollte mit den Taschen voller Geld einmal um die ganze Welt. Wir jedenfalls sind mit den Taschen voller Kronen unterwegs zum Prager Messegelände, um dort unsere Berechtigung zum Start, einen Rucksack zur morgigen Kleiderabgabe und das Event-Funktionsshirt zum Marathon, abzuholen.

„Vogel fliegt, Fisch schwimmt, Mensch läuft“

Jeder Läufer weiß, von wem dieser Spruch stammt. Der wackelnde Kopf und die herausgestreckte Zunge sind zu seinem Markenzeichen geworden. Emil Zátopek. Er war einer der großen Leichtathleten des 20. Jahrhunderts: Zwischen 1949 und 1954 stellte er 18 Weltrekorde auf und bei den Olympischen Spielen 1952 in Helsinki feierte er, nach einer Goldmedaille 1948 in London, weitere drei Olympiasiege – sowohl über 5000 und 10000 Meter als auch im Marathon!

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Ein überdimensionales schwarz-weißes Poster, welches Zátopek in Aktion zeigt, prangt über der Eingangshalle der Marathon Sport Expo. In einer der Hallen wird anlässlich des 60. Jubiläums mit einer kleinen Ausstellung an seine Siege erinnert. Auf einer Bühne präsentieren sich Mitglieder der Association of International Marathons and Distance Races (AIMS). AIMS ist ein Zusammenschluss von mehr als 300 Rennorganisatoren in über 90 Ländern auf sieben Kontinenten. Jedes Jahr kommen neue hinzu. In diesem Jahr sind 122 Veranstalter von Marathonläufen aus 55 Nationen Teilnehmer dieses Kongresses. Natürlich haben die Renndirektoren auch ihre Marathonflyer mitgebracht. Schon mal über den Nordpol-Marathon nachgedacht? Es mangelt nicht an neuen Marathonläufen oder Ideen, eher an der Zahl der Urlaubstage, die uns allen nicht unzählig zur Verfügung stehen. Der nächste Kongress findet 2014 in Südafrika statt.

Hundeschau

Eine Schau der ganz anderen Art erleben wir ebenfalls auf dem Messegelände. Hier findet gleich der „Walk with Dog“ statt. Ein bekannter Hundefutterhersteller ist Sponsor dieser außergewöhnlichen Idee. Gemeinsam mit dem Hund wird durch den Stromovka-Park gelaufen. Die Idee kommt an und das nicht nur bei den stolzen Hundebesitzern. Aus den Lautsprechern ertönt: „Who let the dogs out?“ und so manch eine Doge fällt bellend in den Kanon ein. Man sieht Hunde so klein wie ein Hamster oder so groß wie ein Pferd.

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Einer guckt, als ginge ihn das hier alles nichts an und ein anderer kneift den Schwanz ein und schaut verzweifelt aus seinem Fell. Auch dem Spruch, dass der Besitzer eines Hundes diesem meistens ähnelt, kann ich zustimmen. Im Startblock stehen sie dann alle dicht beisammen. Herrchen, Frauchen, Hund und jeder hat eine Startnummer.

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Mit dem Startschuss legen sie los. Die einen schnell, andere wiederum gemütlich. Im Ziel des Rundkurses sind 4,2 Kilometer gelaufen und der liebste Freund des Menschen erhält eine Medaille und Hundefutter vom Sponsor. Aber auch alle Finisher des Mini-Marathon über 4,2 Kilometer und die Finisher der Inliner Strecke über 6,5 Kilometer bekommen ihre Medaille. Nach diesen vielen Eindrücken geht es in die Altstadt.

Noch ist nicht viel zu sehen von dem, was ab Morgen die Kulisse des Marathons werden soll. In der Mitte der Altstadt, dem Altstädter Ring, bilden sich Trauben von Touristen um das Denkmal des Reformators Jan Hus, Tschechiens Nationalheiligen. Im Sommer 1415 legte ein Scharfrichter eine rostige Kette um seinen Hals, band ihn an einen Pfahl und schichtete Holz und Stroh von seinen Füßen bis zum Kinn. Dies ist nicht in Prag passiert, sondern in Konstanz. Als jedoch die Prager Bürger von der Hinrichtung erfuhren, wurden die Reform zur Revolte und zur Revolution.

Bislang sieht man zwischen den vielen Touristen nur vereinzelt einen Sportler im Laufdress. Das wird sich in den nächsten Stunden ändern. Dann, wenn die ersten Requisiteure eintreffen und den Marktplatz in eine Sportarena umgestalten und sich Touristen in Läufer verwandeln. Auf ca. 150 Metern wird ein blauer Teppich verlegt. Farbige Poster an Hauswänden künden von dem, was hier demnächst passiert. Nur noch wenige Stunden bis zum Beginn des 18. Prag Marathon.

Renntag

Die Stadt erwacht, es ist ein kalter und windiger Muttertag. Aber im Gegensatz zu gestern, funkelt heute Morgen die Sonne über den Dächern. In den Gassen werden die Rollläden an den Geschäften hochgekurbelt, Sonnensegel ausgefahren, Stühle vor die Kaffeestuben gestellt und so manche Bierkneipe lässt den Rauch und Dunst der letzten Nacht zur Tür hinaus. Langsam füllt sich die Fußgängerzone am Altstädter Ring mit Akteuren und Statisten.

Anstandswinkel

Während sich die Hauptdarsteller, sprich die Elite, im Startbereich bereits warm läuft, suchen wir Laien die Kleiderabgabe, andere ihren Startblock. Es herrscht ein wirres Treiben wie im Mittelalter beim Markt der Attraktionen.

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Wie viele andere auch führt mein Weg dann irgendwann zu Jenny. Jenny oder Jonny heißen hier die aufgestellten Plastikhäuschen, vor denen sich irgendwie immer eine Warteschlange bildet. In diesem Moment wünschte ich mir die Melone von Pan Tau zu besitzen, um mir das, was ich jetzt am dringendsten benötige, herbeizuzaubern. Dabei fällt mir ein, was ich im Reiseführer über die öffentlichen Toiletten Prags gelesen habe: Die ersten öffentlichen Toiletten in Prag gab es um 1835 und wurden auf Deutsch „Anstandswinkel“ genannt. Erst am Ende des 19. Jahrhunderts gab es selbständige kleine Häuschen im „Schweizer Stil“, die gut ausgestattet waren. Tatsächlich gab es die Toiletten der I., II. und III. Klasse. Toiletten III. Klasse waren kostenlos, für die erste Klasse bezahlte man vier, für die zweite Klasse dann zwei Kreuzer. Wer wollte und konnte, der kaufte sich gleich eine Jahreskarte. Schilder zeigen uns denn Weg zur Abgabe der Kleiderrucksäcke, zu den Duschen und den Weg zur späteren Massage. Doch bis hierhin sind es noch einige Meter zu laufen.

Dann haben auch wir es geschafft und stehen im Startblock. Über 9000 Läuferinnen und Läufer aus 80 Ländern stehen zum Start bereit. Unter ihnen auch der 51jährige Tscheche Ales Tvrdy. Vor 18 Jahren konnte nur eine Herztransplantation sein Leben retten. Davor war er Ultramarathonläufer und Ironman. Eines Tages kam er noch nicht einmal mehr die Treppe hoch. Während alle ihren Blick auf die Uhr oder gen Start gerichtet haben, möchte er heute erstmals seit dieser Zeit einen Marathon laufen, die Zeit ist ihm egal. Eben noch Lärm und wie auf ein Zeichen dann völlige Ruhe und gespanntes Warten.

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Passend zum Szenario schiebt sich eine Wolke vor die Sonne. Der Startschuss fällt und die hellblau-weißen Luftballons steigen begleitet von Bedřich Smetanas Noten in den Himmel auf. Smetana komponierte 1874 das Stück „Die Moldau“ bei fast völliger Gehörlosigkeit. Wie in einem Open-Air Konzert begleitet uns diese Musik auf unseren ersten Schritten über das historische Pflaster. Passender geht es nicht. Mit „Gänsehaut“ laufe ich durch eine Altstadt, die aufgrund ihrer geschichtlichen Gebäude zum Weltkulturerbe zählt.

Wir folgen den Spuren, die schon Schnabelschuhe auf diesen Straßen hinterlassen haben. Während im Mittelalter die Länge der Schuhspitze bei den damals modernen Schnabelschuhen etwas über die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stand aussagte, ist es heute der Laufschuh. Man sieht sie in Schwefelgelb, Mandarine, Wasabigrün oder Kobaltblau. Noch immer hören wie die Klänge Smetanas, als wir das Pflaster der Prachtstraße Pařízská (Pariser Straße) betreten. Bis zur Jahrhundertwende waren hier jüdische Ghettos, die im Zuge der Sanierungsarbeiten abgerissen wurden. Vorübergehend erhält die Straße den Namen Asanacni (Sanierungsstraße). Nach Abschluss der Sanierungsarbeiten um 1925 wurde sie in Pariser Straße umbenannt. Hier ist zwar nicht Paris, aber weltstädtisches Flair hat die Pařízská dennoch. Gebäude mit der typischen Giebelform und dem feinen Jugendstil – Mosaik am Erker. Das gehobene Bürgertum wohnte in den riesigen luxuriösen Mietshäusern, deren Bauart historisierende Baustile mit floralen Elementen des Jugendstils vereinigt. Geschäfte mit Luxusgütern und mondäne Restaurants sind heute darin. Nicht nur damals waren die Bewohner und Gäste Prags beeindruckt.

Wir laufen auf die Moldau zu, denn die Pařízská verläuft quer durch das jüdische Viertel. Umberto Eco hat sich in seinem Roman „Der Friedhof in Prag“ von dem Judenfriedhof, welcher sich in Schlagdistanz zur Laufstrecke befindet, inspirieren lassen. Weit über zwölftausend meist verfallene Grabsteine befinden sich auf diesem Friedhof.

Schon erreichen wir mit unseren Pflastertretern die Čechův most (Moldaubrücke). Die Moldaubrücke ist mit der Länge von 170 Metern die kürzeste Brücke über die Moldau in Prag. Auch „Georg eilt zur nahe gelegenen Brücke, schwingt sich über das Geländer und lässt sich mit dem »leisen« Ausruf: »Liebe Eltern, ich habe Euch doch immer geliebt«, hinabfallen“. Von dieser Brücke springt Georg Bendemann, von seinem Vater zum „Tode des Ertrinkens“ verurteilt, in Franz Kafkas Erzählung „Das Urteil“ von 1912. So schwermütig, wie sich die Moldau durch Prag schlängelt, laufen wir jetzt zum ersten Mal über den Fluss. Die Brücke verbindet die Stadtteile Staré Město/Josefov mit Malá Strana (Kleinseite), unserem nächsten Ziel. Nicht zu übersehen ist das Metronom gerade vor uns auf einem Hügel.

Spuren der jüngsten sozialistischen Vergangenheit sind im Stadtzentrum kaum zu finden. Schnell entledigten sich die Prager nach der „Samtenen Revolution“ von den Überbleibseln dieser „dunklen Zeit“. Das monströse Denkmal von Josef Stalin (dreißig Meter hoch und 14000 Tonnen schwer) wurde sogar schon 1962 gesprengt. An seiner Stelle steht seit 1991 nun das Metronom als Symbol der Vergänglichkeit der Zeit, nur leider tickt es heute nicht.

Wir haben alle Zeit der Welt und Kay freut sich über die erste Band, die sich und uns einheizt. Weiter geht es unterhalb der Prager Burg mit einer ganz leichten Steigung, bevor wir etwa bei Kilometer zwei auf die Mostecká (Brückenstraße) laufen. Entstand das Kopfsteinpflaster in der Altstadt bereits 1329 und damit in einer der ersten Städte Europas, so waren zu dem Zeitpunkt bereits erste Straßen als feste Trampelpfade auf der Prager Burg, dem Vyšehrad und in der Altstadt eingerichtet. im Mittelalter handelt es sich um einen pulsierenden Verkehrsweg, auf beiden Seiten gesäumt von Häusern mit Barockfassaden und Geschäften. Die Straßenlaternen flackern, es riecht nach Rossäpfeln und mit noch mehr Phantasie hört man das widerhallende Klappern von Hufen auf den Pflastersteinen, das durch das Labyrinth aus Häuserwänden dringt. Und was wäre Berlin ohne sein Brandenburger Tor und was wäre Prag ohne die Karlsbrücke? Schon haben wir die weltberühmte Brücke erreicht.

„Bringt Eier nach Prag“

Diesem Aufruf des Königs folgten die Untertanen aller Landesteile. Mörtel und rohe Eier, das ist die Mischung, die zur Festigkeit des 1357 begonnenen Brückenbaus verwendet wurde. 300 Jahre war die Karlův most (Karlsbrücke) ein schlichtes, aber wuchtiges Bauwerk und bis 1842 die einzige Prager Brücke über die Moldau. Erst 1683 begann Nepomuk den Reigen der steinernen Heiligen. Nepomuk, von der Mitte der Brücke stürzte sein König ihn hinunter in die Moldau, weil er das Beichtgeheimnis der Königin nicht preisgeben wollte. Dieser Umgang mit unerwünschten Mitmenschen ist wohl auch eine Prager Spezialität: Sie werden von Brücken geworfen, aus den Fenster gestürzt oder erdrosselt.

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Heute schauen insgesamt 31 steinerne Statuen und 10 Überwachungskameras uns beim Überqueren der 516 Meter langen Brücke zu. Wagenräder rumpelten einst über das Kopfsteinpflaster. Ich sehe Läufer von weitem als bunte Farbtupfer die einen dumpfen Geräuschteppich hinterlassen. Nur einmal laufen wir über diese Brücke, denn in ein paar Stunden wird sie wieder für alle Touristen geöffnet sein. Musik dröhnt von der anderen Brücke herüber. Am Ende der Brücke erreichen wir die Altstadt, was für ein überwältigendes Bild.

Über 6 Brücken sollst du gehen, dabei 42 Kilometer überstehn…

Fast zwanzig Brücken (mosty) verbinden heute die beiden Moldau-Ufer in der Hauptstadt. Einen Marathon mit mehr Brücken hat nur Venedig. Fast ein Brückentag. Tatsächlich gelangen wir nach einem kurzen Uferstück schon auf die nächste Brücke der Mánesův most (Manes-Brücke). Von hier aus sehen wir links die Karlsbrücke und rechts die Moldaubrücke. Auf beiden Brücken sieht man von weitem Läufer. Einzigartig.

Nach knapp 200 Metern über die Moldau erreichen wir auf Kopfsteinpflaster erneut den Stadtteil Malá Strana. Hier in diesem Stadtteil befindet sich der Lobkovický palác (Palais Lobkowitz) -allerdings von der Strecke aus nicht zu sehen. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts entstand der hochbarocke Palastbau. Das Adelswappen der Familie Lobkowitz krönt das mächtige Eingangsportal. Ein vergleichsweise unauffälliges Schild darüber klärt über die heutigen Hausherren auf: Es ist der Sitz der Deutschen Botschaft. Den Balkon hat jeder noch vor Augen. Von ihm aus informierte Außenminister Hans-Dietrich Genscher am 30. September 1989 die rund 4.000 DDR-Flüchtlinge darüber, dass ihre Ausreise … Auch diese Worte sind in die Geschichte eingegangen.

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Das Zentrum der Kleinseite ist der pittoreske Malostranské náměstí, einst der Marktplatz des Viertels. Hier ist auch das Kaffeehaus, in dem sich in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts Kafka, Brod, Werfel und weitere Literaten trafen.

Bei Kilometer 5 erreichen wir den ersten Verpflegungsstand in der Nábř. kapitána Jaroše. Bekannt ist der Stadtteil als Standort des Prager Zoos, sowie für das Stadion des Fußballclubs AC Sparta.

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Schon liegt der nächste Brückenanstieg vor uns, 400 Meter geht es über die Libeňský most (Lieben-Brücke). Links Tennis, rechts Golf. Schilder zeigen die Möglichkeiten, wir jedoch laufen geradeaus zum Bubenské nábřezí (Prager Markt). Es ist ein Industrie- und Gewerbegebiet auf einem ehemaligen Schlachthofgelände. Hier verlässt mich meine Fantasie, mir Prag als Motiv in einem Ölbild umgesetzt vorzustellen. Schon gar nicht vorstellbar ist der Gedanke, hier nochmal bei Kilometer 38 laufen zu müssen. Wenn die Strecke schon nichts bietet, freut man sich umso mehr wenn man jemanden trifft den man kennt.

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RLT Rodgau ist mit einem ganzen Bus angereist und Marita feiert heute auf der Strecke ihren Geburtstag; Herzlichen Glückwunsch! Schon wieder eine Band, an solchen Stellen wichtiger denn je. In ein paar Stunden werden wir sehen, wer den längeren Atem hat.

Smetana, Dvorak und auch Mozart hatten eine Bühne

Prag, am Abend des 29. Oktober 1787: Im Nationaltheater erwartet das Publikum mit Spannung die Premiere von Mozarts Oper „Don Giovanni“. Die Prager liebten schon immer die Musik und sie liebten und verehrten Mozart.

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Mehr noch, vielleicht liegt es an dem Tschechischen Sprichwort: „Musikanten kommen in den Himmel“. Jetzt wird klar, warum sich entlang der Strecke eine Band an die andere reiht. Dreißig Rockbands entlang der Strecke und Prag rockt!

Wir laufen durch gewundene Gassen und auf gepflasterten Wegen auf die Altstadt zu. Etwa ein Viertel der Strecke besteht aus Kopfsteinpflaster. Die nächste Band heizt uns am Eingang des Tesnovsky Tunnel (KM 11) ein. 360 Meter laufen wir durch eine Röhre. Aufgrund seiner Position vor dem ehemaligen Hauptquartier der Kommunistischen Partei und zum Zeitpunkt des Baus wird er auch als Husak (Schweigeminute) bezeichnet. Draußen schaukelt eine schwimmende Diskothek und das Hotelschiff Albatros ist am Ufer der Moldau vertaut. Wir laufen erneut auf den Luxus-Boulevard, der Pařízská, in die Altstadt. Hier befindet sich auch das bekannte avantgardistische Theater „Laterna Magika“, welches dem Nationaltheater angeschlossenen ist.

So schnell im Ziel?

Nochmals laufen wir über den Altstädter Ring, dem schönsten Platz in Prag, von dem schon Kisch 1941 schrieb „Marktplatz der Sensationen“. Noch keine eineinhalb Stunden unterwegs. Das kann nicht sein, oder doch?

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Ein tolle Idee, die Strecke nochmals durch das Start-/Zieltor zu führen. Die Stimmung ist enorm. Wieder eine Brücke, jedoch diesmal extra für die Fußgänger errichtet. Wir laufen darunter durch in die kleinen Prager Gassen der Innenstadt und an der Tschechischen Nationalbank vorbei. Dieses sportliche Großereignis zieht unglaubliche Publikumsmassen auf den „Marktplatz der Sensationen“. Die ganze Stadt ist auf den Beinen.

Bei Kilometer 15 erreichen wir in der Masarykovo nábřezí die Moldau. Ich höre von weitem den Hubschrauber und wo der Hubschrauber ist, da ist auch vorne. Die in Glas gehüllte Ginger Rogers schmiegt sich an Fred Astaire und tanzt die Moldau entlang. Diese ausgefallene Architektur zieht alle Blicke der Läufer auf sich. Tančící dům (Tanzendes Haus) und dabei ist es doch nur ein Bürogebäude.

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Linksverkehr

Kurz nach dem „Tanzenden Haus“ begegnen wir erstmals den Läufern, die vor uns liegen. Wir laufen links, sie laufen rechts. Ich schaue gerne in die gequälten Gesichter der Läufer vor mir, denn es lenkt von den eigenen Schmerzen ab. Es dauert nicht lange und die Begegnungsstrecke ist erst einmal vorbei.
Das unterscheidet keine Stadt von der Anderen. Meist nur beim Marathon bekommt man die Straßen und Ecken zu sehen, in die sich sonst kein Tourist verirrt. Wir laufen durch Straßen, von denen an den Hauswänden der Putz abbröckelt. Dort sind dann auch die kleinen Kneipen, Bars und Erotik Shops zu finden. Über eine Brücke führt die Stadtautobahn und in der Nähe die Eisenbahn.

„Nur wer weiß wo er herkommt, der weiß auch wo er war“

An der 180 Grad Wendepunktschleife sind wir am südlichsten Teil der Laufstrecke, im Stadtteil Praha 4 angelangt.

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Vielleicht weht ja der Geist von Antonín Dvořák, Bedřich Smetana oder Rafael Kubelík vom nahe gelegenen Friedhof zu uns? Der Vyšehradský hřbitov ist Prags bekanntester Friedhof aus dem Jahr 1869 und letzte Ruhestätte dieser bedeutenden Persönlichkeiten.

Die Staffel übergibt den Stab bei Kilometer 20 an den nächsten Läufer. Noch etwa einen Kilometer und wir haben die Halbmarathonmarke und kurz darauf einen weiteren Wendepunkt erreicht. Alles wieder zurück bis zur Palackého most.

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Auf ihr überqueren wir erneut die Moldau und die Uferstraße. Die vor uns liegenden Läufer sind unter uns Richtung Norden unterwegs. Prag 5 gehört zu den größten Stadtbezirken auf dem linken Moldauufer. Es ist ein Gebiet, mit Villenvierteln, kleineren Wohnsiedlungen, neuen Wohnanlagen, Fabriken, und einer Reihe von geschützten Naturgebieten.

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Der Strom der uns entgegenkommenden Läufer will nicht enden. Den letzten Wendepunkt erreichen wir bei Kilometer 28. Nun geht auch für uns wieder zurück Richtung Norden. Die nächste Brücke ist die Most legií (Brücke der Legionen). Man könnte sie aber auch die Brücke der vielen Namen nennen. Zwischen den Jahren 1898-1901 wurde sie erbaut. Im Zuge politischer Wechsel änderte die Brücke im 20. Jahrhundert mehrfach ihren Namen: 1901 wurde sie in Anwesenheit Kaiser Franz Josephs I. feierlich eröffnet und auch nach ihm benannt.

Nach Gründung der unabhängigen Tschechoslowakei im Jahr 1918 wurde sie in „Brücke der Legionen“ umbenannt, nach den Einheiten, die im Ausland gegen Österreich-Ungarn gekämpft hatten. Während der deutschen Besatzung in den Jahren 1938-45 wurde sie erneut umbenannt, diesmal nach dem Komponisten Bedřich Smetana. Nach 1945 hieß sie dann „Most 1. Máje“ (Brücke des 1. Mai). Nach dem Fall des kommunistischen Regimes im Jahr 1990 erhielt sie dann wieder ihren Namen Brücke der Legionen.

Nach dieser kleinen Brückenkunde laufen wir nun parallel zur Moldau am ältesten Kai entlang, erbaut 1841. Auf dem Kreuzherrenplatz treffen sich Gotik und Barock. Es ist faszinierend, durch Orte der Vergangenheit zu laufen. Wir erreichen die Kreuzherrengasse. Den Weg, den wir hier laufen, ist einer, den schon Kafka gegangen sein muss. Kafka sagte über Prag: „…und dieses Mütterchen hat Krallen“. Ob der berühmte Prager damit das Kopfsteinpflaster meinte, das sich Stein für Stein immer gnadenloser unter meinen Gummisohlen bemerkbar macht? Die Füße leiden in dem Gefängnis der Schuhe. Wir überholen eine Läuferin mit den sogenannten Zehenschuhen. Schon beim bloßen Anblick schmerzt mein Körper.

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Kilometer 32 ist erreicht und wir sind auf dem Náměstí Jana Palacha (Jan Palach-Platz). Dieser Platz wurde nach Jan Palachs Selbstverbrennung 1969 benannt. Nach einem kurzen Stück an der Uferpromenade überqueren wir die Mánesův most zum zweiten Mal und die Strecke verläuft identisch zum ersten Streckenabschnitt.

Auf der Libeňský most wissen wir, dass die letzte Brücke überquert ist und uns nur noch 5 Kilometer bis an unser Ziel trennen. Die jungen Bands sind absolut Marathontauglich. Zu unserem Erstaunen unterstützen sie die Läufer noch immer auf ihren Weg zum Ziel. Nur zwei Straßenblocks weiter wohnte im Hause „Zum Schiff“ Franz Kafka. Heute befindet sich an dieser Stelle das Hotel InterContinental, in dem auch Michael Jackson nächtigte. Ein letztes Mal führt die Strecke durch die Nobel Einkaufsstraße und der Altstädter Ring kommt immer näher.

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Keinen roten, dafür aber einen blauen Teppich samt großem Auftritt bietet sich uns auf den letzten Metern bis ins Ziel. Auch Ales Tvrdy bekommt nach 5 Stunden und 20 Minuten die Medaille umgehängt.

Ein paar Stunden später: Der blaue Teppich ist eingerollt, der Zielbogen und die Tribüne sind abgebaut. Der Marathon ist vorbei. Die Sonne ist untergegangen. An ihrer Stelle erhellt mattes, gelbliches Licht von hunderten Gaslaternen die Stadt. Sie strahlen den Krönungsweg entlang noch bis in den hintersten Teil des Burgviertels.

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Mit ihrer besonderen Beleuchtung unterstreichen sie schummrig schön die mittelalterliche Atmosphäre der Stadt. Wir sitzen mittendrin in der Postkartenkulisse und genießen unsere letzten Stunden in Prag.

RESÜMEE: Es gibt Läufe, die brennen sich ins Gedächtnis ein. Der Prag Marathon ist so einer. Er ist die sportlichste, schnellste und beste Möglichkeit, diese historische Stadt zu erkunden. Es gibt aber auch noch eine andere Art, die prall gefüllte historische Fundgrube Prags zu entdecken. Denn mehr als achtzig Museen und über einhundert Kunstgalerien warten darauf, besichtigt zu werden.