Salzkammergut-Marathon 2012
Mythos und Leidenschaft
Was tun, wenn der Urlaub aufgebraucht ist und durch rasante Geschwindigkeit und digitale Dauervernetzung sowohl Kopf als auch Rücken schmerzen? Wir sehnen uns nach Ruhe und Entspannung.
Was waren das früher doch für Zeiten, als man meist mehrere Wochen von der Arbeit sich in der „Sommerfrische“ erholte? Schon um 1850 bot der Wolfgangsee alles, was gestresste Menschen wieder auf die Beine bringt. Gerade richtig für Leute wie uns, die im Einzugsgebiet einer Großstadt leben, gibt es den Salzkammergut Marathon, sozusagen als erste Regenerationsmaßnahme. Kurgast für 48 Stunden – Erholung und Entspannung im Schnelldurchlauf.
Noch 1968 hatte ein Bayer namens Strauß getönt, er wolle lieber in Alaska Ananas züchten als in Bonn Bundeskanzler werden. Noch keine 50 Jahre später spielt Bonn in Berlin, ist der Kanzler eine Kanzlerin. Noch keine 42 Jahre später heißt der neue Chef des Wolfgangseelaufs nicht mehr Franz Zimmermann, der 41 Jahre der Organisator, Gründer und der erste Sieger war, sondern erstmals Franz Sperrer. Er sieht zufrieden aus. Mit einem charmanten Lächeln begrüßt der neue Organisator die Läufer. Seine gute Laune ist verständlich (Teilnehmerrekord). Seit damals hat sich der Wolfgangsee nicht nur in touristischer Hinsicht weiterentwickelt, sondern auch in läuferischer Sicht: Im vergangenen Jahr wurde dem populären Wolfgangseelauf in seiner 40. Auflage mit dem Salzkammergut Marathon ein Face-Lifting gegönnt.
„Einmal zumindest solltest Du diesen Lauf machen“. Das musste sich Klaus (Duwe) oft anhören. Aber er hat(te) ja da so ein persönliches Problem. „27 Kilometer sind kein Marathon“ sagte er. 2011 kam seine Chance. Mit dem vierzigjährigen Jubiläum des Wolfgangseelaufes wurde auch der 1. Salzkammergut Marathon angeboten.
Das war Klaus‘ Chance, er war sofort dabei – aber krank. Aus dem geplanten 1. Salzkammergut Marathon wurde so für ihn ein ungeplanter Wolfgangseelauf über 27 Kilometer(!). Sein Malheur ist unsere Gelegenheit und somit sind wir die ersten m4you-Laufreporter, die von diesem Marathon berichten dürfen.
„Shake the Lake“
Rund um den Wolfgangsee ist das ganze Jahr über etwas los: See und Bauernfeste, Operettenabende und Platzkonzerte, Sportwagen-Alpentrophys. Heute zeugen Marathon-Fahnen von dem „Event-Weekend“. An jedem 3. Sonntag im Oktober zieht die Gemeinde am Wolfgangsee all jene an, die sich weniger etwas aus dem süßen als aus dem schweißtreibenden Leben machen. Für ein paar Stunden werden auch die Besucher des Wolfgangsees aus ihrer gnadenlosen Gemütlichkeit geholt, die Brücke zu den Sportlern gebaut und das Publikum verjüngt. Schon am Samstag, mit dem Wolfgangsee-Nachwuchslauf, beginnt der sportliche Auftakt des beliebten Laufeevents an der malerischen Seepromenade in Strobl.
Erstbegehung der (Kur) Umgebung
Für uns ist es Zeit für eine Erstbegehung unserer (Kur)Umgebung vor dem Abholen der Startunterlagen. Diese erhalten wir im Michael-Pacher-Haus.
Dem gegenüber setzt die Scalaria Kontraste. Er ist der wohl ungewöhnlichste Bau in St. Wolfgang und über Schönheit lässt sich bekanntlich streiten. Ursprünglich ein Schloss, wurde es zum Erlebnis-Ressort auf einem Felsen am Ortsrand umgebaut. Wer kein Zimmer in St. Wolfgang findet, der kann sicherlich noch eines von 400 Designer-Zimmern dort buchen. Es verfügt über ein Theater-Restaurant mit über dem See schwebender Showbühne und einer Wellness-Area. Zurück zum Michael-Pacher-Haus: Alles ist bestens organisiert. Nirgendwo wird einem das Gefühl vermittelt, man müsse sich anstrengen. Alles ist da: Die Startnummer, der Gutschein für die Shuttle-Busfahrt, Fahrplan und der bereits nummerierte Plastik-Kleidersack. Im Hotel: Ein reservierter Parkplatz, ein Liegestuhl auf dem Balkon und WLAN auf dem Zimmer. So schön unser Zimmer ist, den Läuferempfang um 19:30 Uhr wollen wir uns nicht entgehen lassen. Wir bekommen einen Einblick in die Geschichte des Heiligen St. Wolfgang. Heuschober-Musik unterhält die Anwesenden.
Einer geht noch
Wegen der Sommerfrische oder dem guten Heilwasser aus der Trinkhalle würde Horst Preisler sicher nicht den weiten Weg von Hamburg bis nach Oberösterreich auf sich nehmen. Aber für einen Marathon schon. Marathonläufe sind für den (Vize)Weltrekordler im Sammeln von Marathons das beste Anti-Aging-Programm gegen die Zipperlein der späten Jahre. Sport als Verjüngungsmittel. Kern seiner Laufphilosophie: „Jeder Lauf ist eine Geschichte! Jeder Lauf ist eine Begegnung mit seiner Landschaft und deren Menschen! Jeder Lauf ist ein Treffen von Freunden.“ Es ist ihm fast schon ein wenig unangenehm, wenn man ihn auf seine bislang gezählten Marathonläufe anspricht. Die Zahl scheint für die meisten unbegreiflich. Ich sage hier nur so viel: Horst kann auf über 1700 Marathonläufe mehr als Kay und ich zurückblicken. Allein 2012 hat er schon 30 Marathons (und 100 Kilometerläufe) in den Beinen. Im Unterschied zu manchem Wettbewerber lief er seine Marathons in über 70 Ländern (!). Er beendet seinen Auftritt mit den Worten: „Ich laufe für mich, manchmal gegen mich, selten gegen andere“. Staunen im Läuferpublikum und großer Applaus.
St. Wolfgang erwacht
6:30 Uhr – heute ist kein gewöhnlicher Tag. Diese Geschichte beginnt im Morgengrauen eines längst wachgewordenen Städtchens. Die Musikboxen werden aufgebaut, Busse zwängen sich langsam durch die kleinen Gassen, ein Bäcker liefert in den Hotels und Pensionen knackig-frische Brötchen und die Kellner richten die Gartenstühle und Tische mit Aussicht auf den See her. Es ist kalt und ein leicht vernebeltes Zwielicht lässt den See funkeln.
Die Urlauber schlafen noch und alles ist, wie es eben ist, wenn ein touristisch beliebter Ort erwacht. St. Wolfgang ist jedoch schon lange kein alltäglicher Touristenmagnet mehr. Wer heute hier ist, will laufen und ist garantiert um 6:30 Uhr auf den Beinen. Ein Fischer vertäut sein Boot gleich neben dem schwankenden Anleger für die Ausflugsdampfer, die der Tag erst noch bringen wird.
Start mit Kaiser-Ambiente
Franz Joseph, verlegte während der Sommermonate fast den ganzen Wiener Hofstaat nach Bad Ischl. Der Kaiser höchstpersönlich hat hier die Sommerfrische eingeführt und alles was in Wien Rang und Namen hatte, folgte dem kaiserlichen Vorbild. Und so auch heute wir. Um 8:30 Uhr eröffnet der Pfarrer in der Wallfahrtskirche von St. Wolfgang für die 27 Kilometerläufer den Läufergottesdienst. Zur gleichen Zeit schließt sich für uns die Tür. Nicht an der Kutsche, wie zu Kaisers Zeiten, aber die des Shuttle-Busses. Dieser bringt uns in 30 Minuten von St. Wolfgang nach Bad Ischl, den berühmten Kurort der Sommerfrische, wo so mancher schon sein Zipperlein kurierte. Keine Angst, wir sind heute nicht als Sissi- und Franz-Double unterwegs. Hier treffen wir auch Martin, der wie der Kaiser aus Wien angereist ist. So manche kalte Nacht und so manchen schnarchenden Lauf-Kollegen im Berberzelt mitten in der Sahara haben wir gemeinsam durchgestanden (siehe m4you Bericht).
Gemächlich lassen wir es angehen, schlendern in dem „Kaiser-Ambiente“ zwischen Café, Kurmittelhaus und Trinkhalle hin und her. Erst kurz vor dem Startschuss füllt sich langsam der Startbereich. Es ist 9:25 Uhr, der Startschuss fällt kaum hörbar. Alles läuft, also geht es wohl los. Das historische Ambiente beflügelt. Guten Morgen, Bad Ischl. Frühe Spaziergänger wundern sich über fast 200 Läufer, die weder zu einer Seniorenfreizeit noch zu einer japanischen Reisegruppe gehören. Wir laufen an eleganten Häuserfassaden, feinen Restaurants und Cafés vorbei.
Weiter an der Promenade. Neu gepflanzte Bäume sind zu sehen. Kaiser-Linden, was denn sonst? Über dem Nebel strahlt der Himmel in kaiserlichem Blau wie im Jahre 1853, als Österreichs Kaiser Franz Joseph zur Sommerfrische in Bad Ischl weilte und sich dabei in die 15jährige Elisabeth Amalie Eugenie, die spätere Kaiserin von Österreich-Ungarn und Herzogin in Bayern, kurz: Sisi, verliebte. Am Nordufer der Ischl befindet sich die Kaiservilla, einstige Sommerresidenz Kaiser Franz Josefs. Man sagt, er hätte in Bad Ischl annähernd 60 (!) Sommerfrischen verbracht und auch von dort das gesamte Reich regiert. Der Schreibtisch, an dem er die Kriegserklärung an Serbien im Juli 1914 unterschrieb, löste den Ersten Weltkrieg aus. Eine Kopie des verhängnisvollen Manifests „An Meine Völker“, befindet sich auf diesem Schreibtisch.
Wer es sich leisten konnte, ließ sich eine eigene Villa am Seeufer errichten. Wer nicht, logierte in Gasthäusern oder in Bauernhöfen. Wir laufen vorbei an kleinen Geschäften, an einer Apotheke ist mit Leuchtziffern zu lesen: 6 Grad (im Schatten). Recht schnell dünnt die Stadt aus. Die Häuser werden weniger und die Abstände zwischen ihnen größer. Schon nach etwa einem Kilometer laufen wir nicht mehr in der Masse, sondern hinter einander in einer Reihe auf den Salzkammergut-Radweg. Flussaufwärts führt der Weg parallel entlang der rauschenden Ischl über einem fast zwei Kilometer langen Trampelpfad. Überholen ist kaum möglich. Auf einem schmalen Dammweg geht es weiter. Vorbei an Wohnhäusern der Ischler und immer wieder über kleine Holzbrückchen. Nach etwas mehr als drei Kilometern entfernen wir uns von der Ischl und laufen über einen Wiesenweg in der wärmenden Sonne.
Weiter nach Pfandl geht es über einen ersten leichten Anstieg und am Ortsausgang schon wieder hinunter. Auf diesem ersten Marathon-Teilstück ist die Strecke teilweise für den öffentlichen Verkehr gesperrt. Es sind aber auch kaum Autofahrer unterwegs, dafür umso mehr Kirchgänger. Klar, dass wir Läufer da am frühen Morgen kaum jemanden überraschen können. Allenfalls die Kühe schauen verdutzt, immer dann, wenn ein Golfball vom Hang oberhalb ihrer Weidefläche auf einem dunklen Fladen einschlägt. Jetzt jedenfalls ist kein Golfer zu sehen; es ist ja auch noch vor 10:00 Uhr. Die Gemeindegrenze Ischl-St. Wolfgang ist erreicht und über nicht zehrende Anstiege führt die Straße weiter hinauf. Kilometer fünf und das Gasthaus Rega mit der zweiten Labestation ist erreicht. Weiter laufen wir über sanfte Geländewellen. Es ist schon ein wahrhaft kaiserliches Vergnügen.
Ganz in weißen Schleiern gehüllt liegt der See, umrahmt von dem schönen Gebirge. Stimmungsvoller geht es nicht, das dachte ich zumindest bis dahin. Der ein oder andere Läufer sucht bereits auf den ersten Metern zwischenmenschlichen Kontakt. Die meisten haben aber nur sich selbst im Kopf und reden konsequent aneinander vorbei. Und ja, es wird eine ganze Menge gequasselt von „Bestzeiten“ und „nie dagewesenen Läufen“. Ganz anders Jürgen. Schon mehrmals in New York beim Marathon gestartet, wurde ihm gestern per E-Mail mitgeteilt, dass er zum Fahnenträger der Deutschlandflagge beim Einzug der Nationen beim NYC Marathon auserwählt wurde. Wenn ihr ihn dort trefft, dann richtet ihm doch bitte schöne Grüße von uns aus. Er muss schon ein netter Kerl sein, wenn seine Takewando-Schüler für ihn sammeln, um ihn, an seinem (runden) Geburtstag mit der Reise zum Two Oceans Marathon in Südafrika, zu überraschen.
Noch völlig ins Gespräch versunken, merke ich gar nicht, wie die letzten Kilometer verflogen sind. Der Anblick des Altkanzlers Helmut Kohls befördert mich zurück in die Gegenwart. Für drei Jahrzehnten hielt er St. Wolfgang und besonders St. Gilgen die Treue. Einmal im Jahr kam er für vier Wochen hierher und lies sich einmal pro Woche im gepanzerten Wagen von St. Gilgen (wo er Ehrenbürger ist) zur hauseigenen Sauna des „Weißen Rössl“ fahren. Übrigens ist es bereits 30 Jahre her, dass Helmut Kohl Bundeskanzler wurde. Er regierte 16 Jahre lang. 1,93 Meter misst der Pfälzer, nun steht er hier am Straßenrand, unverwechselbar groß und körperlich mächtig. Ein ortsansässiger Holzschnitzer wirbt mit ihm für seine Arbeiten. Schlingensief übrigens wollte Millionen von Arbeitslosen in den Wolfgangsee rufen, um durch die Erhöhung des Wasserstandes Kohls Villa am See zu fluten. Geschichten über Geschichten.
Wir sind kurz nach der zweiten Verpflegung und die 5 Kilometer-Panoramaläufer stürzen sich zu uns ins Rennen. Sie sind um 10:30 Uhr vom Dorfplatz in Strobl gestartet. Darunter eine große Menge Teenies. Sie preschen an uns vorbei. Knallrote Köpfe schnaufen wie die Dampflok auf dem Weg zum Schafsberg. Man kann sich auch auf 5 Kilometern (oder gerade da) die Kugel geben. Nun sind wir auch auf der Traditionsstrecke 27-km-Klassikers angelangt.
St. Wolfgang ist erreicht
Dieser Ort hat viel erlebt, die Einheimischen nehmen es gelassen. Im schönen Ortskern von St. Wolfgang geht es ganz schön schnell und elegant abwärts. Das zeigt Wirkung bei den Zuschauern, die rechts und links von der Strecke stehen und applaudieren. Ein großes Transparent über den Köpfen der Läufer sagt uns, dass wir nach einigen Metern scharf rechts abbiegen müssen. Vorbei am Rössl. Nicht das Weiße, sondern das Schwarze Rössl. Jetzt ist der langersehnte Moment endlich gekommen. Jedoch nicht für uns. Die fünf Kilometerläufer sind im Ziel. Vor uns liegen noch 27 Kilometer.
Wir Marathonläufer werden sozusagen um zwei Häuserecken geleitet. Dabei laufen wir einmal über die Zeitmatte und gelangen dann wieder auf die klassische 27 Kilometerrunde des Wolfgangseelaufes. Hier wäre auch für uns ein Verpflegungspunkt gewesen, diesen haben wir aber verpasst. Wir sind zu beschäftigt, uns durch die vielen Finisher der anderen Läufe zu schlängeln. Auf einmal fehlt uns auch die Orientierung und wir sehen auch keine anderen Läufer mehr vor uns. Eine Passantin weist uns den richtigen Weg.
Der steilste Zahn Österreichs
Die Morgensonne glitzert grell auf dem See und hat dem Nebel eingeheizt. Weiter geht’s am Fuße der Bergstation der Schafbergbahn vorbei. Sie ist die steilste Dampfzahnradbahn Österreichs. Bevor 350 italienische Arbeiter 1892/93 die Bahnschienen auf den Schafberg legten, kraxelte das Volk stundenlang bergauf. Feinere Herrschaften ließen sich auch schon mal tragen. Heute fährt man bequem mit der Dampfeisenbahn in einer halben Stunde nach oben. Man kann aber auch am Wettkampf „Mensch gegen (Dampf)Maschine“ teilnehmen. Auf einer Streckenlänge von nur 5,8 km gilt es 1240 Höhenmeter, immer entlang der Bahntrasse zu überwinden.
Für uns geht es da weitaus gemütlicher zu, denn wir laufen wunderschön flach am Seeufer entlang. Slalomartig laufen wir an den vielen Touristen auf der „Benatzky-Promenade“ vorbei, die hier am Schiffsanleger auf eines der Wolfgangseeschiffe warten. Ralph Benatzkys „Im Weißen Rössl“ ist für uns auch sozusagen die Antritts-Inszenierung kurz vor dem Aufstieg zum Falkenstein.
Seit 1873 fahren Passagierschiffe auf dem Wolfgangsee. Als es noch den Kaiser gab und die Adriahäfen Triest und Pula zu Österreich-Ungarn gehörten, fuhren die Alpländer mit einer eigenen Marine über die Ozeane, feuerten mit Kanonen, setzte Missionare zum Missionieren bei den „Heiden“ ab und entdeckten sogar ein kleines Stückchen der Arktis. Es erhielt den Namen nach seinem Kaiser „Franz-Josef-Land“.
Der Ortsteil Ried (18 Kilometer) ist erreicht und auch der Anstieg zum Falkenstein. Damit hatte ich tatsächlich nicht gerechnet. Mit diesem (200 HM) Anstieg wird das gängige Klischee von einem flachen Lauf rund um den See im wahrsten Sinne des Wortes auf die Spitze getrieben und lehrt uns erholungsbedürftigen Läufer auch schon Mal das Fürchten.
Der Weg der Wallfahrer
Wie es sich auf einem Pilgerweg gehört, reiht man sich ein in den Strom von Menschen, die alle von derselben Sehnsucht, derselben Hoffnung beflügelt sind. Vielleicht auch von der Zuversicht, am Ende des Weges etwas zu finden, was man im Alltag vergeblich sucht.
Jetzt sind wir auf dem ältesten Pilgerweg Europas unterwegs und schon entdecke ich die erste Schautafel. Seit dem Mittelalter berichten Pilger von einer Reihe mystischer Kraftplätze rund um den Wolfgangsee, vornehmlich am Berg Falkenstein. Nach ein paar wenigen Höhenmetern schaue ich zurück. Der Blick auf den Wolfgangsee von oben raubt einem den Atem. Ha ja, auch ein wenig der immer steiler werdende Aufstieg auf diesem St.-Rupert-Pilgerweg. Wie heißt es so schön: „Wallfahrern gibt er Kraft, Läufern kostet er sie“.
Rast am „wachsweichen Stein“
Als der heilige Wolfgang vom Falkenstein herabstieg, um seine Axt zu suchen, ließ er sich auf einem Stein nieder um zu rasten. Über den von Hunger und Durst ausgemergelten Einsiedler gleichsam erbarmt, wurde der Stein weich wie Wachs. Die Eindrücke des „Wundertäters“ sind bis heute tatsächlich zu sehen. Sich darauf setzen und das „Vater-Unser“ zu sprechen, soll bei manchen schon Wunder bewirkt haben. Für uns wird ein Wunder dann heute wohl ausbleiben, denn wir wollen ja schließlich noch irgendwann in St. Wolfgang ankommen. Stundenlang könnte man sich hier für den Aufstieg Zeit nehmen, aber noch liegen 23 Kilometer vor uns.
Plagen auf der Pilgerreise
Man muss sich das mal vorstellen. Einige Pilger haben sich im Eifer ihrer St. Wolfgang-Verehrung den Weg zusätzlich erschwert. Eiserne Ringe hängten sie sich um den Körper oder um den Hals. Oder stellt euch nur mal vor, was hier los wäre, liefe einer nackt und mit ausgestreckten Armen auf den Falkenstein. Für den ein- oder anderen Läufer ist es aber auch heute nicht einfach. Schleppte man früher schwere Bußkreuze, so trägt man heute schwere Rucksäcke auf dem Rücken (Kay). Steckte man sich früher Linsen in die Schuhe oder ging Barfuß, so sind es heute drückende Einlagen (Andrea).
Nur wenige Kilometer und 200 Höhenmeter von St. Wolfgang entfernt, empfängt uns diese weiße Kirche, wie den Eindringling mit einer fast schon unheimlichen Stille.
Die kleine Kirche, die sich an die Felswand des Falkensteins lehnt, ist eine „Unserer Lieben Frau“ und dem „Heiligen Wolfgang geweihte Wallfahrtskirche“ bereits im Gemeindegebiet von St. Gilgen. Sie befindet sich oberhalb der Höhle, in welcher der Heilige Wolfgang der Legende nach fünf Jahre gelebt haben soll. Nur das gleichbleibende Läuten der Glocke, hier und da der Applaus eines Wanderers, vermittelt das Gefühl, an dieser Pilgerstätte doch nicht ganz allein zu sein.
Im Wald riecht es nach nasser Erde und Pilzen. Wie zur Erlösung macht der Weg, der nun erst leicht bergab führt, den Blick frei zum Wolfgangsee. Es ist tatsächlich unbeschreiblich schön. Das sind die seltenen Momente, auf die ich mich während des ganzen Laufes freue.
Konditionstraining mit Panoramablick
Der sehr steile Abstieg des mit feinem Schotter gespickten Hanges macht Spaß, fordert aber auch volle Konzentration und gute Oberschenkelmuskulatur. Immer wieder begegnen uns Wanderer beim Aufstieg. Das Interesse an diesem Weg ist mittlerweile so groß, dass einmal im Jahr „Mystische Wandertage“ angeboten werden. Wer es mehr mit irdischer Power hält, den wird eher das hervorragende Konditionstraining mit Panoramablick beeindrucken.
Wir sind wieder unten am See. Von weitem schallt die Stimme des Moderators zu uns. Bei Kilometer 22 ist hier am 300 Jahre alten Gasthof Fürberg eine Verpflegung aufgebaut. Der Moderator nennt jeden Läufer namentlich und die vielen Helfer verbreiten einfach nur gute Laune. Weiter führt die Strecke an einem schmalen Uferweg direkt am Wolfgangsee mit seinem blauen Wasser. Der See ist so klar, dass sich die Fischarten vom Land aus bestimmen lassen könnten. Segel-Farbtupfen von Orange und Weiß – wie für uns arrangiert.
Kurschatten
Die vielen händchenhaltenden Spaziergänger und Wanderer machen uns freundlich Platz. Attraktive Kurschatten stimulieren den Heilerfolg, damals wie heute. Kein Wunder also, dass beim Spaziergang so manch rüstiger Pensionär nach einem Kurschatten Ausschau hält, ist meine Vermutung. Es geht wieder leicht aufwärts (Kilometer 23). Es lohnt der Blick zurück von oben hinunter auf den Wolfgangsee. Durch den Wechsel von seichten und tiefen Stellen schimmert der See in unterschiedlichen Schattierungen.
Über den Buckel geht es wieder leicht abwärts und die Kirchturmspitze von St. Gilgen ist zu sehen. Auch der Kaiser war hier oft zu Gast. Mit der Kutsche ließ er sich in den Ort fahren, um dann hier am gelben Schloss Frauenstein, der Schauspielerin Katharina Schratt, regelmäßig einen Besuch abzustatten. Das Verhältnis, oder wie immer man es nennen mag, ist eines der Freiheiten, die er sich in der Sommerfrische gönnte. Der Kurschatten war geboren.
Noch 17,5 Kilometer. Einst lebte das Dorf kärglich von Viehzucht und Fischfang. Heute ist hier der Yacht- und Ruderclub ansässig. Die Mittagssonne strahlt vom Himmel und die Glocken läuten, als wir durch St.Gilgen laufen. Bei Dallmann werden Schokokugeln gedreht. In der Saison gehen schon mal täglich über 400 dieser nach Mozart benannten Kugeln über den Verkaufstisch. Tatsächlich ist St. Gilgen mit der Mozartschen Familiengeschichte verbandelt. 1720 wurde Mozarts Mutter Anna Maria Walpurga Pertl geboren, später wohnte hier Mozarts Schwester Nannerl. An diesem geschichtsträchtigen Haus kommen wir nun vorbei (Labestelle).
Die Stadt macht ihr Mittagsschläfchen. Vereinzelt sitzen Leute bei einer Tasse Kaffee und beobachten dabei das bunte Läufertreiben. Eifrige Helfer sind bereits damit beschäftigt, die Straßen von den vielen Pappbechern der 27er-Läufer mit großen Besen zu säubern.
Nun laufen wir nur noch der Sonne entgegen, vorbei an Bootshäusern mit Schwimmdocks. Einige Enten balgen sich um Brotstückchen, ein See, der die Sehnsucht weckt. Gegenüber sieht man die Klippen vom Falkenstein wie eine senkrechte Wand. Bis zu 27 Meter stürzen sich die Cliff-Springer an Wettkampftagen von hier aus in die Tiefe.
Der Rössl-Klassiker wird wiederbelebt
Noch 16 Kilometer sind zu laufen, als wir an einem verlassenen lila Gasthof verbeikommen. Von 1890 bis 1957 befand sich hier die Haltestelle Lueg der Salzkammergutlokalbahn.
Wir laufen weiter, während auf den Schiffen die Touristen stehen und Kulissen knipsen, die gar keine sind. Denn das „Weiße Rössl“ in St. Wolfgang war niemals Originalschauplatz für die Filme, habe ich erfahren. Die Besitzer verweigerten dies aus Angst, die vielen Stammgäste zu verlieren, wenn sie wochenlang zuschließen müssten. In diesem Monat erst wurde eine österreichisch-deutsche Neuinterpretation des Kultfilms hier am lila Gasthof Lueg abgedreht.
Cabriowetter
Ein mentaler Kraftakt ist die Einsamkeit des Langstreckenläufers. Auf dem Salzkammergutradweg ist vor uns ist kein Läufer zu sehen, aber hinter uns auch nicht. Viele genießen die warmen Sonnenstrahlen an diesem Tag allerdings nicht auf dem Mountainbike, sondern im Cabrio. Dabei bewundern sie auf der B 158, der Wolfgangsee-Bundesstraße, den blauen Himmel und die über ihnen liegende Gamswand. Auf der Spitze des 1782 Meter hohen Schafberg, der auch „Abbiss des Teufels“ genannt wird, auf der anderen Seite des Sees, schillert die Bergstation in der Sonne.
Wir entfernen uns ein Stück vom See. Zusehends erlahmend, schleppen wir uns auf dem Hauptweg, der parallel zur B 158 läuft, entlang. Jetzt ist wenig Verkehr auf der Straße. Das Gasthaus Gamsjaga ist erreicht. Noch etwa 14 Kilometer liegen vor uns. Dass hier vor noch gar nicht so langer Zeit ein Stimmungsnest war, erahnt man nur noch durch die Posaunen und Trompeten, die vereinsamt in ihren Kästen schlummern. Zeit für einen Frühschoppen, den die Musiker sich jetzt gönnen. Sie teilen aber gerne. Einer streckt seinen Arm mit einem Schöppchen zu mir aus, ich greife aber doch im Moment lieber bei dem Pappbecher mit Iso zu.
Die Strecke verläuft von der Straße weg und führt indes weiter zwischen farbenfroh leuchtenden Laubbäumen. Noch 10 Kilometer bis ins Ziel. Hier ist nun der kleine Ort Gschwandt erreicht.
Für etwa drei Kilometer laufen wir durch das Naturschutzgebiet Blinklingmoos über die ehemalige Bahntrasse. Eine kleine schmale Birkenallee säumt die Strecke wie eine Flaniermeile mit spätsommerlichem Flair. Die Gemeinde Strobl (Kilometer 36,8) verfügt über herrliche naturbelassene Badestrände, an denen wir nun vorbei laufen. Der Strand ist allerdings verwaist. Heute ist zwar fast schon Hochsommerwetter, aber die Badesaison ist doch zu Ende, auch wenn auf dem See noch Wasserski gelaufen wird. Wir sind nicht alleine auf der Strecke. Ständig überholen wir jetzt noch 27-Kilometerläufer. Weiter ein Stück parallel zur Straße entlang, dann kann ich ihn schon von weitem entdecken – den holzgeschnitzten Kohl. Heute Morgen kamen wir von Ischl aus an ihm vorbei und sind nun nicht mehr weit von unserem Ziel in St. Wolfgang entfernt.
Von weitem hören wir den Moderator im Zielbereich. Er steht vor der 1477 erbauten spätgotischen Wallfahrtskirche. Der bronzene Wallfahrtsbrunnen von 1515 diente über Jahrhunderte als Heilquelle. In der Wallfahrtskirche ist der Doppelaltar für den Heiligen Wolfgang und Johannes den Täufer. Er enthält die Reliquien des heiligen Wolfgang. Jedenfalls sieht der Moderator von dort oben die Läufer ins Ziel sprinten und die vielen Zuschauer feiern jeden Finisher. Seit Stunden strömen dort die Läufer ins Ziel.
Tummelplatz
Es ist etwa 14:00 Uhr. Das Ortszentrum hat sich seit Stunden den laufenden Athleten nun ausnahmslos ergeben. Läuferinnen und Läufer sitzen bei Cola oder gesponserten Müsli auf dem Trottoir oder um den Brunnen.
Ein Lauf, bei dem in Ehren ergraut und in Würde gealtert werden darf, wo andere Läufe aufgrund des Zeitlimits erbarmungslos ausjäten. Ich blicke Richtung See, der ruhig daliegt wie die frisch gestärkte weiße Bettwäsche in unserem Hotel. Mit dem Tag, der morgens um sechs begonnen hat, sind wir zufrieden. Die Saison wurde um ein Wochenende verlängert. Bald werden die Hotels geschlossen und St. Wolfgang geht in den Winterschlaf. Jeder, wirklich jeder, ganz egal auf welcher Distanz, bekommt eine schön gestaltete Medaille umgehängt. Darauf zu sehen ist das Logo des Wolfgangseelaufes 2012.
Noch ist das 6 Stunden Zeitlimit nicht erreicht. Der Moderator unterhält die Zuschauer und erzählt Geschichten von Horst, der sich nun auch nicht mehr weit vom Ziel befindet. Am Donnerstag fliegt er schon wieder hinaus in die Welt, natürlich nicht zur Kur, sondern zu seinem nächsten Marathon.
Wie der berühmte Oberkellner Leopold im „Im Weißen Rössl“, verlassen auch wir mit dem berühmten Satz „Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut“ schweren Herzens St. Wolfgang. Hier wird so manches Klischee bedient. Doch das, was die meisten Interessierten wirklich bewegt, bleibt unsichtbar: der Kurschatten.
Resümee: „Wer einmal hier war, der kommt wieder“ sagt der Bürgermeister von St. Wolfgang. Recht hat er. Mit dem Marathon wurde der Wolfgangseelauf komplettiert und damit auch zu einer Familien- und Freunde-Laufveranstaltung, bei dem wirklich jeder seine Lauf-Strecke findet.
Was man sonst noch wissen sollte: Mit fünf Bewerben – dem Salzkammergut Marathon über 42,195 km, dem 27-km-Klassiker, dem 10-km-Uferlauf, dem 5,2-km-Panoramalauf und dem Wolfgangsee-Nachwuchslauf (0,2–1,6 km) ist für jede/n die passende Distanz dabei. Für Teamplayer gibt es den „Marathon-Triple“. Dabei startet je ein Teilnehmer über 27, 10 und 5,2 km – am Ende zählt die Gesamt-Marathonzeit.
Zeitmessung: Champion Chip
Zielzeit: 6:05 Stunden
Auszeichnung: Alle Finisher (alle Distanzen) erhalten eine schöne Medaille mit dem Logo des jeweiligen Bewerbes. Die Top-3 jeder Klasse (10 Jahresschritte) erhalten gravierte Glas-Trophäen
Verpflegung: etwa alle 4 Kilometer
Streckenanspruch: 42,195 km (417 m Steigung, 335 m Gefälle)
Parken: Genügend öffentliche Parkplätze und Tiefgarage in Bad Ischl und St. Wolfgang (Bustransfer)
Siegerinnen und Sieger (Marathon 2012)
1 Pfandlbauer Andreas AUT 2:49:48
2 Radlmayr Alois AUT 2:57:53
3 Russegger Gerhard AUT 2:58:11
1 Heiml Alexandra AUT 3:40:30
2 Schuller Christine AUT 3:41:33
3 De-Bettin Michaela AUT 3:45:33