Andrea Helmuth

Andrea Helmuth

SciaccheTrail 2015

Una corsa tra vigne, cielo e mare

 

„Madonna!“ entfährt es Lucia beim Anblick der steilen, ungleichmäßigen und nicht enden wollenden Steintreppe in Riomaggiore. Und wirklich, ein wenig Beistand von ganz weit oben könnte nicht schaden. Elf Stunden ist das Zeitfenster für die siebenundvierzig Kilometer und dreitausendeinhundert Höhenmeter. Pah! Das müsste doch mit dem Teufel zugehen, würden wir das großzügig bemessene Zeitfenster nicht erreichen. Früher einmal hatte ich Italien geliebt, denke ich, verwische aber den Gedanken im nächsten Moment. Zu Klagen fällt mir nicht ein, schließlich laufe ich durch das mediterrane Paradies, bin mittendrin im italienischen Bilderbuch, dabei bei der Prämiere des Sciacche Ultratrail.

 

 

Und endlich: Vor uns liegt sie, eine der schönsten Landschaften Italiens. Das erste der fünf UNESCO Weltkulturerbe Dörfer der Cinque Terre Riomaggiore. In allen fünf Orten stapeln sich die Häuser wie Schachteln an den Hängen, in den Farben von Vanille-, Himbeer- oder Mascarponecreme. Siebzehn Kilometer und 1.200 Höhenmeter liegen noch zwischen hier und den Orten Manarola, Corniglia, Vernazza und dem Start-und Zielort Monterosso al Mare vor uns. Das wird der technisch anspruchsvollste, aber auch schönste Teil der Strecke, der auf dem sogenannten „Blauen Wanderweg“ bis nach Monterosso al Mare verläuft. Es ist ein Anblick, der seit Jahrhunderten Dichter und Maler begeistert. Kein Wunder, dass sich auf dem „berühmtesten Trampelpfad“ Italiens Touristen aller Länder, besonders Amerikaner, begegnen. Für mich ist es jedoch ein Stück unbekanntes Italien.

Bis zu 800 Meter hoch ragt die fast immer grüne Steilküste aus dem azurblauen Meer. In einigen Tagen, zu Ostern, wird dieser klassische Weg aus allen Nähten platzen. Dann, wenn die Touristen für diesen Weg eine Mautgebühr zahlen müssen. Alternativ muss man höher hinaus und tiefer hinein. Dorthin, wo die „gewöhnlichen“ Sandalentouristen mit ihren Nordgesichtern und Wolfshaut Branding nicht hingelangen und von wo wir gerade her kommen.

Rückblick

Heute Morgen am Start. Kaum jemand nimmt Notiz von mir. Ich stehe zwischen athletischen Italienern, deren Augen funkeln und deren Ausstrahlung so unschuldig wirkt, wie die Gesichtszüge der Madonnen in den vielen kleinen Kapellen der Cinque Terre. Je mehr ich mich umschaue, desto größer wird meine eigene körperliche Unzufriedenheit. Fast ausschließlich Italienerinnen und Italiener befinden sich unter den auf zweihundert legitimierten Sportlern.

IMG_2015-03-29_SciaccheTrail 2015_500x333_012_IMG_9408

Mein bleiches Gesicht bedeckt ein sportliches Makeup (ja so etwas gibt es), meine hobbytrainierten Beine gieren nach Frühlingssonne. Ich schaue zu meinen Waden hinunter, die mich an Weißwürste erinnern. Meine Körpersprache spricht Bände. Mir entfährt ein überzeugter Seufzer: Wie gerne möchte ich die weißen Dinger in eine formlose graue Jogginghose, so wie Rocky sie trug, verpacken. Dies wäre jedoch besonders hier, bei den gut gekleideten Italienern, ein absolut modischer Fauxpas. Auf Platz eins des beliebtesten Trail-Outfits findet sich ein Klassiker, der Rucksack, auf Platz zwei die leichten High-Tech-Carbon Stöcke und auf der drei farbige Kompressionsstrümpfe. „Aber auch die schönste Frau ist an den Füßen zu Ende“, wusste schon Giacomo Casanova. Ich trage die Startnummer 17. Sally trägt die Startnummer 1. In ihren Augen brennt die Begeisterung. Sie ist der natürliche Typ, mit einem strahlendweißen, amerikanischen Zahnpastalächeln. Die langen Haare sind zu einem Zopf geflochten und die muskulösen Beine glatt rasiert. Die kalifornische Spitzenathletin Sally McRae hat starke Konkurrenz. Ich gehöre nicht dazu, fühle mich aber artverwandt, wie die anderen knapp vierzig Frauen im Feld. Wie von der Mafia gehetzt, rennt die Meute durch den Ort. Dann ist es wieder still in Monterosso al Mare um kurz nach 7:30 Uhr am Morgen. Die Meeresbrandung trifft sanft auf den Strand.

Monterosso ist der älteste Ort der Cinque Terre und wurde 1056 erstmalig urkundlich erwähnt. Entlang der Strandpromenade haben wir bald die zahlreichen Übernachtungsmöglichkeiten und Villen hinter uns. Während ich einen Fuß vor den anderen setze, zieht die Landschaft an mir vorüber; in der Ferne bellt ein Hund. Ein Film in Blau- und Grüntönen, bei dem die Lautstärke auf Leise gestellt ist. Das Meer und die Berge sind sich so nah, die salzhaltige Meeresbrise und der Duft nach Erde und Macchia. Wer würde diesem anziehenden Kontrast nicht erliegen? Die meisten sind bereits nach dem ersten Anstieg entlang der Weinreben und mit Olivenbäumen bepflanzten Hügeln außer Sichtweite. Die Stöcke fest in den Händen steht das Mundwerk nicht still. Egal, was Italiener machen, sie sind mit vollem Herz dabei. Ob sie telefonieren, diskutieren oder laufen. Das Chiacchierata, also das italienische Quatschen ist laut und gestenreich. Ich lerne schnell: „Bellissimo!“, „Avanti, avanti“ oder „Ti incrocio le dita“ (Ich halt dir die Daumen) höre ich es rufen. Steil geht es für uns aufwärts durch die „Macchia Mediterranea“ ins waldige Hinterland, auf die ligurischen Berge. Zwischen jedem grell geschrienen Ton aufgeregter Italiener, folgt ein dreimaliges Atemholen.

IMG_2015-03-29_SciaccheTrail 2015_500x333_013_IMG_9466

Schmale Wege auf einem alten Saumpfad schlängeln sich hinauf zur Soviore, dem ersten Schutzgebiet der Cinque Terre. Einem Landstrich, der sich lange in einem Dornröschenschlaf befunden hat. Die typische immergrüne Maccia, Kiefern und Eichen stehen Spalier. Nach ca. neun Kilometern auf 500 Metern über N.N. ist der lecker bestückte „Ristoro“ (Verpflegungspunkt) an der über 1000 Jahre alten Wallfahrtskirche Santuario Nostra Signora di Soviore erreicht. 9:45 Uhr lautet die Cut-off-Zeit für diesen Punkt. Eine Hand voll Nüsse, ein Glas Wasser und ich muss los; dreißig Minuten Puffer sind nicht viel. Mein letzter Trainingslauf auf den Hügel des Feldbergs war noch im Schnee. Was ist das heute für ein Unterschied.

IMG_2015-03-29_SciaccheTrail 2015_500x333_014_IMG_9514

Dieser Streckenabschnitt gleicht einem gewaltigen Sonnenstudio. Nur besser! Denn die Sonne schaltet heute nicht nach einer halben Stunde Bestrahlungszeit ab. Nur ab und zu versteckt sich die Sonne hinter einer Schäfchenwolke. Der höchste Punkt der Strecke ist nahe der Stadt Reggio bei Kilometer 18 auf 786 Metern N.N. erreicht. Auf dem Kirchplatz der Stadt soll die älteste Zypresse Liguriens stehen.

Der Boden ist angenehm weich, keine Steine stören den Tritt. Auf der schmalen Trail-Autobahn kann ich einige hundert Meter gutmachen. Im Unterholz raschelt es. Ich bin im Runner‘s High, als plötzlich keine Stocklänge vor mir eine genervte Wildschweinmutter mit ihren Frischlingen aus dem Gebüsch sticht. Stumm, fasziniert und regungslos klammere ich mich an den nächstbesten Baum. Hinter mir kommt eine Läuferin, sie bleibt neben mir stehen. Einige der zart gesteiften Frischlinge haben wohl den Anschluss an ihre Rotte verpasst und suchen verwirrt nach ihrer borstigen Mutter.

IMG_2015-03-29_SciaccheTrail 2015_500x333_015_IMG_9553

Andere Frischlinge kommen neugierig auf uns zu. Himmel, ihr seid ja wirklich süß, aber mit eurer Mutter, die lautstark schnaubt und bläst, möchten wir wirklich keine Bekanntschaft machen. Keine ungefährliche Situation, so zwischen Bache und Frischling. Das Herz klopft bis zum Hals, wir vergessen zu fotografieren. Die Zeit läuft, auch ohne Rücksicht auf derartige ungeplante Pausen. Irgendwann ist es wieder ruhig. Die Familienzusammenführung scheint geglückt. Die oberste Regel lautet „leise sein“. Und so pirschen wir uns auch wieder auf die Strecke. Und was passiert? Nichts!

IMG_2015-03-29_SciaccheTrail 2015_500x333_016_IMG_9600

Am Colle del Telegrafo ist die nächste Zeitkontrolle erreicht. Ich atme erleichtert auf, trotz des tierischen Abenteuers liege ich noch gut in der Zeit. Hoch über dem Meer genieße ich für einen Moment den Ausblick. Korsika versteckt sich im Dunst. Noch schnell ein Stoßgebet beim Vorüberlaufen an der Wallfahrtskirche Santuario Madonna Montenero auf dem Hügel (324 Meter über N.N.) oberhalb von Riomaggiore, denn schon warnt mich ein Schild an der Strecke: „Attenzione! Tratto pericoloso!“ (Gefährliche Strecke). Gemeint ist ein steiler und technisch schwerer Abstieg über einen uralten Mulattierra, einem Saumpfad, der hinunter nach Riomaggiore führt.

31,4 Kilometer – Riomaggiore

Es ist 12:56 Uhr. Vor mir liegt das erste und östlichste Dorf der Cinque Terre: Riomaggiore, auch als Fototapete „Riomaggiore Cinque Terre – Italien“ für 19,90 Euro auf eBay zu ersteigern, endlich in live und in Farbe. Dieses Dorf war früher nur auf dem Seeweg oder wie für uns heute, auf einem langen beschwerlichen Fußweg an der Küste und über die Berge erreichbar. Der Küstenweg SVA (Sentiero Verde Azurro) führt über steile Hänge mit Hunderten von Stufen und teils sehr schmal an (geschützten) Abgründen entlang. Ein erstaunliches Profil liegt vor meinen Augen; teils steil wie eine schwarze Piste. Verpflegungsstellen, besonders Wasserstellen, sind ab jetzt noch mehr vorgesehen, denn unablässig müssen Höhenmeter bezwungen werden. Jahrhunderte waren die fünf Dörfer vom Rest der Welt getrennt und die Bewohner galten als eigenbrötlerisch. Die Obrigkeit des reichen Genuas untersagte den armen Bauern dieser Region, die „edlen Speisen des Meeres“ selbst zu essen. Fischfang war, bedingt durch den schweren Meereszugang, noch aufwendiger als der Wein- und Olivenanbau.

IMG_2015-03-29_SciaccheTrail 2015_500x333_017_IMG_9696

„Saubere Gesichter, vierfüßige Tiere, eine Hebamme, ein Arzt findet man hier nicht“, schrieb 1860 der Florentiner Maler Senniorini bei seinem Besuch der Cinque Terre. Ein Chronist ihres Lebens. Weiter erwähnte er „…und wir stiegen zwischen diesen schwarzen und schmutzigen Höhlen, zwischen diesen Abgründen von Gewölben und stinkenden Treppen zum Hafen hinab.“ Noch heute ist Riomaggiore ein Gewirr aus schmalen hohen Häusern, steilen Treppen und verschlungenen Gassen. Als weitgehend autofreie Region ist in allen fünf Dörfern das alte Ortsbild erhalten geblieben und in jedem Dorf lauern gefahren.

Eis, Kaffee, Schinken, Käse ….. Auch für uns gibt es Wasser. Putz bröckelt teilweise von den Häusern, weiße Wäschelaken und bunte Hemden wehen von den Wäscheleinen über unsere Köpfe. Es ist Palmsonntag, die kleinen Mädchen haben ihre schönsten Kleider an. Vor der Kirche San Giovanni Battista verabschiedet der Pfarrer gerade die letzten Gläubigen der Messe. Auch an einer großen Mauer bröckelt bereits die verblaste Farbe ab. Noch ist das Motiv zu erkennen, es zeigt Schiffe, Menschen in Not und wundersame Errettungen. Auf der gegenüberliegenden Seite, sieht man noch deutlich die Ruinen der Burg aus dem 15.-16. Jahrhundert.

Nicht weit von hier würde der berühmte Weg der Liebe beginnen, der „Via dell’amore“, der sich mit Vorhängeschlössern und Treueschwüren schmückt. Trotz Befestigung von Stahlnetzten ist eine Gefährdung durch Steinschlag nicht auszuschließen und der Weg daher geschlossen. Für Liebesgeflüster ist heute ohnehin keine Zeit. Nur würde dieser bequem in wenigen Minuten nach Manarola führen – also der perfekte Weg für Einsteiger. Unser Weg aber, führt uns über einen extrem beschwerlichen Umweg hinauf zur Cantina Sociale del Groppo. Warum? Das sollen wir bald erfahren.

Sciacchetra(il)

Ich schwitze und ich komme kaum voran. Selbst Everest Besteiger sind auf ihren letzten Metern zum Gipfel schneller unterwegs als ich gerade. „Madonna!“ entfährt es Lucia beim Anblick der steilen, nicht enden wollenden ungleichmäßigen Steintreppe. Der Weg zur „Cantina Cinque Terre“ führt durch unglaublich steile Weinterrassen.

Nur die kräftigsten Rebstöcke überleben auf dem mageren Boden, die Trauben reifen lang und langsam. Halsbrecherische Weinlese, da haben Maschinen keine Chance mehr. Noch heute ist der Weinanbau harte körperliche Handarbeit. Die Arbeiten und die Ernte sind mühsam und gefährlich auf den extrem steilen, terrassierten Hängen. Also eine echte Herausforderung, genauso wie der Sciacchetrail.

Der Name „Sciacchetrail“ und „die Vereinigung der Wörter Sciacchetra (il) und Trail bringt die Natur und die Seele der Region nahe. Nicht wir stehen hier im Vordergrund. Es sind die Menschen, die hier leben und arbeiten. Die Beine sind schwer, die Oberschenkel ziehen, nein sie brennen! Und sie werden es auch noch die nächsten Tage tun, so viel ist sicher. Die Philosophie des Sciacchetrail scheint aufzugehen! Dabei laufe ich doch nur hier rum, wie hart muss erst das Arbeiten in diesen Weinbergen sein?

IMG_2015-03-29_SciaccheTrail 2015_500x333_018_IMG_9742

„Das Außerordentliche geschieht nicht auf glattem, gewöhnlichem Wege“, wusste schon Goethe. Genau von diesen steilen Terrassen kommt der herbe Weißwein sowie der ambrafarbene Dessertwein Sciacchetrà. Hier also gibt es eine, bei uns würde man sagen, Weingenossenschaft, die sich zur Aufgabe gemacht hat, sich um die Erhaltung der Weinberge und die enge Verbindung zwischen der Landwirtschaft und nachhaltigen Tourismus, zu bemühen. Uns allen soll bewusst werden, dass man sich durch den Kauf eines lokalen Weines aktiv an der Aufrechterhaltung dieses einmaligen und schutzbedürftigen Weltkulturerbes beteiligen kann. Nur so werden die mit harter Arbeit erzeugten Produkte den Landwirten und Weinbauern angemessen honoriert.

Zum Vergleich: Ein Hektar Rebfläche erfordert in den Cinque Terre etwa vier- bis fünfmal so viel Arbeitszeit wie in einem ebenen oder nur leicht hügeligen Gelände. So gibt es nur noch sehr wenige Winzer, denn Geld lässt sich leichter verdienen, als mit der aufwendigen Pflege der Trockenmauern und der Herstellung von Wein. Davon wollen die wenigsten Besucher etwas wissen. Nur wer am eigenen Leib Anstrengung und Qual erfährt, kann, zumindest für einen ganz kleinen Teil, erahnen, wieviel Kraftaufwand die Herstellung dieser edlen Tropfen bedeutet.

Kein Tourist würde mehr den Kopf schütteln über die Preise auf den Etiketten und wüsste was es heißt, einen Sciacchetrà aus dieser Lage entkorken zu dürfen. Sciacchetrà, der Name stammt möglicherweise von dem Verb „schiacciare – quetschen oder pressen. Dieser Wein wird nur in äußerst geringen Mengen hergestellt und traditionsgemäß zu festlichen Anlässen getrunken. Neben dem Sciacchetrà wird vor allem der weiße Cinque Terre Wein erzeugt. Vor der Cantina ist für uns eine weitere Verpflegung aufgebaut. Wir werden schon lautstark empfangen. Eine nette Dame bietet mir einen kleinen Becher goldgelb schimmernden Sciacchetrà an.

IMG_2015-03-29_SciaccheTrail 2015_500x333_019_IMG_9800

Erwartungsvoll beobachtet mich der Kleine neben ihr, wie ich meine Nase in den Becher stecke. Wie das duftet. Fast ehrfürchtig lasse ich den kostbaren süßschweren Tropfen auf der Zunge zerrgehen. Süß auch die Verlockung, jetzt einfach bei den netten Winzern zu bleiben. Aber trotz aller Versuchung locken die anderen Orte, die ich ja noch nicht gesehen habe. Begleitet mit einem „Forza, Forza“ führt der Weg mitten durch das Gebäude an den glänzenden Stahlfässern und Kisten Cinque Terre Weins vorbei. Über breite Treppen geht steil hinunter ins zweite Dorf namens Manarola.

35,5 Kilometer – Manarola

Um 14:00 erreiche ich Manarola, das zweite und zweitkleinste Dorf der Cinque Terre. Trotz des etwas längeren Aufenthaltes an der Cantina habe ich mittlerweile doch zwei Stunden Pufferzeit zur Verfügung. Ich quere die „Hauptstraße“. Das Hafenbecken, nicht größer als ein Swimmingpool, ist zu klein und so parken die vielen farbigen Boote wie Autos vor den Häusern und Restaurants. Früher fielen die Piraten über die Dörfer her, heute sind es die Touristen. Sie plündern Pesto und Pasta.

Ich atme tief ein. Aus den Gassen duftet es nach würzigem Basilikum und frischem Thymian. Einfach köstlich – Kopfkino: Vor mir dampften die gezwirbelten Pastawürmchen mit der knallgrünen und kalorienhaltigen Creme aus Basilikum, Pinienkernen, Olivenöl und Knoblauch: die Pesto alla Genovese, prall gefüllt in einem weißen Teller. Ich versuche zu verdrängen. Doch ganz so einfach lässt sich der Schalter nicht umlegen; das Kopfkino geht weiter. Frisches Gemüse, fangfrischer Fisch mit einigen Tropfen frischer Zitrone. Dazu ein Gläschen Wein aus der Region und zum Dessert einen Sciacchetrà. Wartet nur, die kommenden Tage gebe ich mich all den Genüssen des „dolce vita“ hin!

Wie wandern – nur extremer!

Auch heute herrscht Gedränge auf dem gerade einmal einen Meter breiten, hoch über dem Meer verlaufenden Steilhang des Küstenklassikers „Numero 2“, der „Wanderweg“, der die Dörfer Riomaggiore und Monterrosso al Mare verbindet. In einem Wanderführer wurde die reine Gehzeit ab Riomaggiore mit 4:30 Stunden angegeben.

IMG_2015-03-29_SciaccheTrail 2015_500x333_020_IMG_9841

Diese Aussage macht mich stutzig. Deutlich mehr als 850 Höhenmeter liegen noch vor mir und die 2.200 Höhenmeter, die hinter mir liegen, spüre ich inzwischen deutlich in meinen Beinen. Jetzt wird sich zeigen, wer die Ausschreibung zu diesem Lauf richtig gelesen hat: „Läufer mit einem angemessen hohen Fitness-Level auf der Suche nach neuen Herausforderungen“. Dafür sind die Steilhänge und die Felsstufen gerade richtig. Sie gleichen einem schwindelerregenden Hindernisparcours. Ständig wechselt die subtropische Pflanzenwelt: Von A wie Agave bis Z wie Zitronenbaum. Zwischen den nackten Felswänden gedeiht Ginster und Wolfsmilch. Wer jetzt noch Kraft hat, und sich vor der Reizüberflutung der Augen beim Anblick der Landschaft entziehen kann, der wird seine Stärke auf diesen steinigen Pfaden voll ausspielen können.

Forstwege sind für mich langweilig und alltäglich. Auf den schmalen Pfaden wie hier dagegen läuft es wie von selbst. Vor mir klappert eine Gruppe Wanderer mit ihren modernen Gehilfen. Sie zu überholen oder mich an Einzelnen vorbeizuschlängeln, weckt meinen sportlichen Ehrgeiz. Denn ich bin kein Wanderer, auch wenn es gerade so aussieht. Wenn schon, dann nennt mich Gehsportler. Dies klingt schon athletischer und rechtfertigt meine Startnummer.
Was folgt, ist der Auftakt zu einer gnadenlosen Verfolgungsjagd. Ich rufe, um mir Platz zu verschaffen: „Scusi“ keine Reaktion! Ich versuche es mit einem freundlichen „Sooorry“. Das klappt. Der beliebteste Trampelpfad Italiens ist international bevölkert. Besonders Amerikaner zieht es auf den Trail. „Grazie“ äh, „Thank you“ und schon bin ich an der nächsten Gruppe vorbei. Sollte sich aber doch jemand derart erschrecken oder verletzen, so befinden sich auf dem Streckenabschnitt der Dörfer entlang des Weg „Emergency Points“ deren Koordinaten bei einem Unfall schnelle Rettung bringen. Sanfte und steile Treppen und Hänge wechseln sich ab. Schmal führt der Weg durch Weinterrassen und einem alten Saumweg auf dem man früher das Öl, Wein, Obst und die Fische transportiert hat, in die Ortschaft Volastra.

37 Kilometer – Volastra

Noch bevor die ersten Bewohner die Steilküste bewohnten, war der kleine Ort Volastra bereits in römischer Zeit besiedelt. Daher stammt wohl auch der Name Volastra, der vom lateinischen Oleaster, was so viel bedeutet wie „das Dorf in den Oliven“, herrührt. „Attenzione! Tratto pericoloso!“. Der steile Abstieg nach Corniglia, dem dritten Dorf der Cinque Terre, beginnt. Konzentration und der Einsatz von Kraft werden ununterbrochen gefordert.

40,6 Kilometer – Corniglia

Corniglia sieht man die mittelalterliche Bauweise eines typischen Bergdorfes, welches auf einem Felsen erbaut wurde, noch an. Es ist das Einzige der fünf Dörfer ohne einen Hafen. Auch hier überwiegen in den steilen Hanglagen der Weinanbau und die Landwirtschaft. Einfach und gefährlich war das Leben hier. Beim Errichten der Terrassen auf den schrägen Hängen etwa, wo auch heute noch das Schneiden der Trauben nur per Hand erfolgen kann, und wo selbst Kletterziegen das Kraxeln verweigern würden. Dafür bietet es eine wunderbare Sicht über Küste und das azurblaue Meer. Auch ihre Ursprünge, erstmalig 1211 erwähnt, sind auf römische Zeiten zurückzuführen. Der Name entstammt der Familie Gens Cornelia, der das Anwesen gehörte und die guten Wein herstellte. Später, als auch hier Genua die Herrschaft übernahm, wurde die Festung und die Stadtmauer errichtet. Nur ein Hotel, das gibt es bis heute noch nicht.

IMG_2015-03-29_SciaccheTrail 2015_500x333_021_IMG_9851

Unser Weg führt mitten durch Corniglia hindurch und knapp an der Kirche San Pietro aus dem Jahr 1334 vorbei. Die Fassade strahlt in weißem und rosa Carrara-Marmor. Unsere Verpflegungsstelle befindet sich direkt neben einer kleinen Bar. Espressoduft steigt mir in die Nase und obwohl es bei der Verpflegung an nichts fehlt, kann ich der Verlockung nicht wiederstehen – ich liebe es einfach, wenn das Wasser durch die Maschine in den Espresso faucht.
„Attenzione! Tratto pericoloso!“ Neue Energie für die kommenden mehr als 200 Höhenmeter hinunter bis ans Meer, zum vierten Dorf der Cinque Terre, Vernazza. Langsam finde ich meinen Rhythmus, denn das runter macht es nicht leichter. Die Mauern reflektieren die Sonne. Es ist angenehm warm, auch die gut getarnte Smaragdeidechse fühlt sich sichtlich wohl.

44 Kilometer – Vernazza

Steil auf einer Felsnase um das Jahr 1000 erbaut. Die Meeresbrandung schlägt unaufhörlich an die Felswand von Vernazza. Sklaven der reichen römischen Familie Gens Vulnetia bewirtschafteten deren Anwesen. Die Gründung des Ortes geht also auf Sklaven zurück, die sich nach ihrer Befreiung hier ansiedelten und vorbeisegelnde Schiffe kaperten. Um 1180 setzte eine genuesische Strafexpedition der Piraterie ein Ende.

Skurril ist heute der Blick weit herab auf den Bahnhof. Mit den Reserven fast schon am Ende, fällt mir der Schmachtfetzen „Azzuro“ von Adriano Celentano ein, er geht mir nicht mehr aus dem Kopf. In der Ballade heißt es: „Blau, der Nachmittag ist zu blau und zu lang für mich. Ich bemerke, dass ich nicht mehr viele Reserven habe, ohne dich, und also, nehme ich fast den Zug, und komme zu dir, aber der Zug der Wünsche, fährt in die entgegengesetzte Richtung“. Und da: Auf Gleis zwei hält gerade der Zug auf dem schmalen Bahnsteig. Touristenmassen ergießen sich auf das Feld das von hier oben aussieht, wie eine Spielzeugeisenbahn. 1870 fuhr die erste Eisenbahnlinie, Gleiße wurden durch die Ortschaften gelegt und jeder Ort bekam seinen Bahnhof. Das schaffte Arbeitsplätze und auch die ersten Reisenden endeckten die fünf Dörfer.

IMG_2015-03-29_SciaccheTrail 2015_500x333_022_IMG_3533

Noch nicht ganz so lange her ist ein verehrendes Naturschauspiel: Es war im Oktober 2011 als oberhalb von Vernazza und Monterosso sich die Hänge in die Dörfer schoben. Innerhalb weniger Stunden fiel die Niederschlagsmenge eines durchschnittlichen Jahres. Es fiel so viel Regen, dass die Flüsse über ihre Ufer traten. Beide Dörfer wurden unter der Schlammlawine begraben und die Bewohner über den Seeweg versorgt oder evakuiert, da für viele ihr Heim nicht mehr bewohnbar war. Die Notwendigkeit, in der diese vom Mensch geschaffene Landschaft entstand, passt nicht mehr in unsere Zeit; ein aufwendiges Kuriosum in der fortschrittlichen Welt. Bereits seit dem Mittelalter wurden die gewichtigen Steine hier hoch gewuchtet und geschleppt. Viel zu niedlich klingt die italienische Bezeichnung „muretti a secco“ (trocken und ohne Mörtel gebaute Mäuerchen) für diese Steinmauern, die, würde man sie verbinden, länger als die Chinesiche Mauer sind. Unvorstellbar!

Das allein aber macht nicht das Einzigartige, das Besondere aus – es ist ihre Zerbrechlichkeit. Der „Parco Nazionale 5 Terre“, ist seit den 90er Jahren bemüht, sich den Schutz dieser Landschaft zu widmen. Denn wo die Weinberge aufgegeben werden und die über viele Generationen instand gehaltenen Trockensteinmauern verfallen, ist die gesamte Landschaft von der Erosion bedroht. In Peking unterschrieben, wurde die Partnerschaft zwischen der Chinesischen Mauer und der Cinque Terre.

IMG_2015-03-29_SciaccheTrail 2015_500x333_023_IMG_3582

Ich blicke zurück. Das Bild ziert jeden Ligurien-Reiseführer. Abgründe tun sich auf. Aus der Ferne wirkt Vernazza wie viele wild zusammengesetzte Legosteine, ganz unten, im Spielzeugland, wie hingekleckst die kleinen Boote im Hafenbecken. An der Spitze der Halbinsel thront der größte Legoklotz, wie ein alter Burgturm. Eine Ligurien-Reportage ohne Vernazza wäre wie Venedig ohne Gondeln – tausendfach fotografiert. Man kann es sich nur wünschen, dass, anders als in anderen bekannten Orten in der Welt, die Häuser und Grundstücke statt an profitorientierte Investoren, an nachhaltig denkende Landschaftsschützer verkauft werden.

„Attenzione! Tratto pericoloso!“ Heißt es nun wieder auf meinem Weg ins Ziel und damit auch in den fünften Ort der Cinque Terre, Monterosso. Vor mir liegen nur noch 142 Höhenmeter im Aufstieg; und zwar fantastisch schöne. Der schmale Trail führt vorbei an bereits blühenden Sträuchern und gigantischen Kakteen. Die traumhafte Aussicht macht den meist schmalen und steilen Weg einzigartig schön.

47,5 Kilometer – Monterosso al Mare

Ich laufe an gackernden Hühnern vorbei, an Olivenhängen, riesigen Kakteen, prall gefüllten Zitronenbäumen begleitet von dumpfem Frosch-Gequake. Ich stoppe und beobachte gebannt das rege Liebesleben der Dutzend fetten Kröten am Bachlauf. Es ist Paarungszeit und in dem trüben Wasser geht es hemmungslos drunter und drüber. Das kann keinen Spaß machen. Einige wirken erschöpft und müde. Ich empfinde beinahe so etwas wie Mitleid und frage mich, wie lange die unter den anderen drei Kröten Liegende wohl noch aushalten wird. Um darauf zu warten, dafür fehlt mir die Zeit. Ein Blick auf die Uhr spricht das Gegenteil. Ja! Ich habe Zeit. Endlich, alle Zeit der Welt. Unten in der Bucht scheint der Zielbogen des Sciaccetrail am Strand von Monterosso al Mare im frühen Abendlicht. Wie bei der Siegerin ist das Zielband vor mir gespannt, ich hebe es in die Luft und sage: Danke Madonna!

Resümee: Auch in den Cinque Terre ist es möglich an nur einem Tag die 3000er Grenze zu überschreiten. Ein idealer Trail für fitte und trainierte Bergläufer, denen es auf gut ausgebauten Wegen zu langweilig wird. Wer sich die Frage stellt: In die Berge oder ans Meer? Der kann hier beides kombinieren!

47 Kilometer klingen für einen Ultratrail-Lauf nach „Kinderspiel“. Aber wenn es solche Kilometer sind, wie auf dem Sciaccetrail, dann ist das alles andere als ein Instant-Abenteuerspaß. Das bekam auch Sally zu spüren, die ihrer Favoritenrolle nicht gerecht werden konnte. Gewonnen haben die Italienerinnen. Sally aber ist um eine Erfahrung reicher!

Informationen:

Gesamtzeit: 11 Stunden / Höhenmeter: 3.100 / Streckenprofil: Schwierig und anspruchsvoll. 99 % Singletrail.

Anreise: Aus Frankfurt am Main mit dem Flugzeug nach München. Von München nach Genua. Weiter ca. 80 Kilometer mit einem günstigen Regionalzug.

Temperatur: +/- 20°C

Verpflegung: Jederzeit ausreichend Nüsse, Rosinen, Wasser, Coca-Cola, Iso, frisches Obst und Gebäck

Verlaufen unmöglich: Der gesamte Cinque-Terre-Höhenweg ist durch eine rot-weiße Markierung gekennzeichnet. Der Sciaccetrail zusätzlich mit einem grellgelben Flatterband und einem gesprayten orangefarbenen Weintrauben Logo. Die Laufstrecke wird das ganze Jahr zum Testlauf geöffnet bleiben.

Zeitmessung: Leihchip

Finisher:

142 Männer, 38 Frauen und nur 5 „Aussteiger“

Starterbag: Stoffbeutel von Cinque Terre Trekking, eine Flasche 2014er Cinque Terre Vendemmia, Sportiva-Event-Shirt, zwei kleine Gläser regionalen Honigs, ein Schlauchtuch, ein Testarolo (eine Art Pfannekuchen), ein Energie-Gel, zwei Wanderkarten, eine handgearbeitete Medaille sowie einen Gutschein für eine leckere Pasta, frische Muscheln, Joghurt und ein Getränk.

Angemerkt: Zum Schutz der Natur und um Bodenerosion vorzubeugen, werden insgesamt nur 200 Läufer zum Rennen zugelassen. Eine gute Kondition sowie Trittsicherheit sind unbedingt erforderlich. Die Teilnahme am künftig jährlich stattfindenden Event kostet 40 Euro. Es wird Live-Musik angeboten, Weinverkostungen mit lokalen Sommeliers und einem Rennen für die Jüngsten.