Thermen Marathon Bad Füssing 2014
Daumen hoch!
Wir laufen, fotografieren und schreiben gern. Die häufigen Ortswechsel, die permanente Einsatzbereitschaft und zig-tausende Lauf-Kilometer gehen jedoch ganz schön in die Knochen: Von der Achillessehne bis zur Schreibblockade. Zeit bei einer Wochenendkur mit Reizklima Körper und Geist zu entspannen! So tauschen wir unsere unübersehbaren, orangefarbenen Laufklamotten gegen weiße Bademäntel und Badelatschen.
Könnt ihr euch vorstellen, diesen oder andere Laufberichte eines Marathon4you-Autors würde es nicht geben? Genau da, wo ihr Woche für Woche mindestens ein liebenswertes Lauf-Geschichtchen eines ebensolchen Menschen erwartet, stünde, sagen wir, die Geschichte über einen Sonntagsausflug vom Angelverein. „Was ist denn bloß mit den laufenden Reportern los?“, würdet ihr euch vielleicht fragen. „War da ein Missgeschick? Ein Läuferburnout oder am Ende gar eine Lauf-Affäre?“.
Verwundert würdet ihr auf eurem iPad oder PC blicken und der Kaffee würde euch so gar nicht mehr schmecken. Und damit die Angst um uns Marathonflaneure euch nicht dann auch noch den ganzen Vormittag versemmelt, würdet ihr vielleicht in der Marathon4you-Redaktion anrufen. Dort würdet ihr erfahren: Ach was, denen fehlt gar nichts, die müssen nur einmal zur Kur.
Da sind wir also. In Bad Füssing. Europas beliebtester Kurort. Es ist nicht besonders mondän, aber sein Heilwasser gilt als „Altersbremse“. Rund 4.500 Quadratmeter Wasserfläche und 13 Becken sollten uns wohl genügen. Seit wir Ultraläufer und Ultraschreiberlinge in diesem verflucht geliebten Knochenjob unterwegs sind, hören wir oft: Ihr seid ja verrückt. Das kommt mal anerkennend, mal abschätzig rüber. Diejenigen, die letztes von sich geben, haben eine Sportschuh-Allergie und laufen noch nicht mal zu Fuß in den zweiten Stock. Diese Klientel ist etwa zehnmal so kontraproduktiv wie wir. Und? Machen wir sie runter, weil sie von einer anderen Art der Freizeitgestaltung wohlig erschöpft sind? Nein, wir haben einen Riesenrespekt vor solchen Typen.
Meine Erstbegegnung mit Marathon4you fand auf der Laufstrecke statt. Es war 2005 beim Rothaarsteig Marathon, als ich Klaus zum ersten Mal begegnete. Als „Miss Squeezy“ bezeichnet, wurde ich von ihm fotografiert und tauchte kurz darauf in seinem Laufbericht auf. Mittlerweile hat Klaus die Laufschuhe, nicht ganz freiwillig, mit einer fetten Kamera ergänzt. Ohne viel Brimborium agiert er meist aus dem Hintergrund und hält sein Team dabei nicht nur sprichwörtlich auf Trab: So geht es für uns auf Langstrecken-, Etappen-, Kreis- und Bergläufe. Über Forststraßen, Feldwege, Premiumwege und Top-Trails. Über die Alpen, durchs Mittelgebirge und Supersteige in die nahe und in die ferne Welt hinaus. Wir laufen durch Eis- und Sandwüsten. Mal unter der Erde, durch Hochhausschluchten, auf Nadelfilz im Büro- und Betonpisten im Parkhaus. Auch mal auf einem schaukelnden Schiff oder in einem Gefängnis. Die Stories erzählen von Triumpf und Niederlage; sie lassen nichts aus. Der Server biegt sich vor Erfahrungsberichten ohne Ablaufdatum. Das war nicht immer so.
Marathon-Ödland im Internet
Klaus 42KM-Debüt war der Berlin Marathon. Von da an war er infiziert und wusste, den Leihchip werde er nicht mehr zurückgeben. Als „Hobbyläufer“ ist ihm schnell das mangelnde Angebot an Informationen über die zahlreichen Veranstaltungen und die Beschreibung ihrer Strecke aufgefallen. Die geschwätzige Welt von Facebook/Twitter und Co. gab es in dieser Form noch nicht. Die Meldungen konzentrierten sich auf Ergebnislisten und Siegerbilder. Hinweise wo, wann, wer und wie man unterwegs ist, boten selten Treffer. „Wenn es so etwas nicht gibt, dann mache ich es“. Gesagt getan.
Aus diesem Internet-Marathon-Ödland erblühte Marathon4you. Der Thermen Marathon von Bad Füssing wurde Klaus erster Bericht der online ging und Eberhardt Ostertag wurde neben Klaus zum ersten laufenden Autor. Fortan opfert Klaus jede freie Minute, kennt alle Anekdoten. Es folgen 2500 Laufberichte mit über 300 000 Bildern – bis jetzt. Es folgen gedruckte Jahresterminlisten, später ein halbjährlich erscheinendes Printmagazin, welches 2014 durch ein nunmehr jährlich erscheinendes Marathon Jahrbuch abgelöst wurde. Darüber hinaus ergänzen der Marathon4you Supercup, Trailrunning.de und Marathoncheck.de das Angebot. Nach nur 10 Jahren ist Marathon4you so etwas wie die Enzyklopädie der Marathonläufe geworden. Klaus steht neben seinem Team, ein verschmitztes Siegerlächeln ist nicht zu übersehen.
Bewegung nur auf Rezept
So friedlich, wie es sein Name nahelegt, geht es tatsächlich zu in Bad Füssing, trotz der fast drei Millionen Übernachtungen (übrigens mehr Nächtigungen als die Nordseeinseln verzeichnen). Wo kann man sich sonst so voll und ganz mit seinem Wohlbefinden befassen? Nichts lenkt bei diesem Gesundheits(kurz-)urlaub ab.
Es gibt keine Berge zu besteigen, keine (Meister-) Kirchen zu besichtigen. Die Spielbank verspricht ein Hauch Las Vegas; willkommene Abwechslung zu Kreuzworträtsel und Bingo. Das Bernstein- und das Bauernhaus-Museum im Kurpark sind „nice to have“, treiben einem aber auch nicht den Schweiß auf die Stirn. Das vermag schon eher ein Besuch im „Haslinger Hof“ oder im „Saunaparadies“ der Therme. Wem dort die Hitze zu Kopf steigt, schwimmt raus.
In den Außenanlagen dampft es wie aus einem Waschkessel. Bad Füssing besuchen, heißt baden gehen. In keinem anderen Kurort wird mehr gebadet. Oder, besser gesagt, lässig herumgefläzt, denn mehr ist auch nicht erlaubt. Die Thermen sind kein Spaß-, Sport-, oder Freizeitbad. Das darf ich auch gleich erleben, als eine nicht zu überhörende laute und schroffe Stimme die Badefreude stört. „Schwimmen verboten!“, bellt ein Bademeister vom Beckenrand durch den Nebeldampf. Er erinnert mich an meine Kindheit, als ich ohne Badekappe ins Wasser wollte. Zwei Kurgäste, gerade in der Versuchung sich zu bewegen, stoppen ihre zaghaft ausgeführten Schwimmzüge im Strömungskanal. Es bleibt ihnen auch gar nichts anderes übrig, als sich im warmen Wasser treiben zu lassen. So liegt man also im Dämmerschlaf auf einer der vielen Luftsprudelliegen und wärmt sich bis zum Hals wie eine gestrandete Kegelrobbe auf der Düne vor Helgoland.
Das Bad in einer Therme gehört zum Kuralltag – wie das Kännchen Kaffee und der Kurschatten. Bereits 400 vor Christus wurde in Pompeji gebadet und auch im Mittelalter. Auch damals schon sorgte ein Kurschatten für Heilungserfolge. Bad Füssing ist nicht so alt wie die klassischen Kurbäder. Weder Kaiser Franz Joseph noch die Kaiserin Elisabeth besuchten das Bad. Keine Gedenktafeln, die auf einen Besuch von Kaiser und König hinweisen. Keine Sommerfrische für die Monarchie. Man muss wissen, dass Bad Füssing sich erst vor etwa 50 Jahren vom unscheinbaren Dorf mit gerade einmal sechs Bauernhöfen zu einem der bedeutendsten und übernachtungsstärksten Kurorte Europas entwickelte.
Frottiermantelverhüllte Badeschlappenschlürfer
In den wohlig warmen Räumen bedarf es nicht mehr als eines Bademantels oder eines Tuches um die Hüften. Ich bin keine Freundin von Kompressionskleidung, doch hier in der Kathedrale der Gesundheit würde so ein Ganzkörperkompressionsanzug so manchem schmeicheln. Weder wegen der Körperhygiene noch wegen irgendwelcher Heilmethoden waren die öffentlichen Badehäuser bei den Römern so begehrt. Gemeinschaftliches Baden war schlicht und einfach ein soziales Ereignis. Man traf sich zu Gesprächen und zum Freizeitvergnügen. Das ist auch heute noch so: Die sogenannte Markthalle in der Johannestherme ist prall gefüllt. Kaum ein Platz auf den Festzeltbänken bleibt frei. Auf den Tischen stehen Teller, vollgefüllt mit Nudeln (eine Tonne soll es an diesem Samstag sein, die über die Theke geht). Kennt ihr diese Alpträume, in denen man nackt inmitten von dick angezogenen Leuten durch die Gassen läuft? Hier sitzen die in weiße Frottiermäntel gehüllten Kurgäste einträchtig zwischen den immer hungrigen Sportlern.
Sonntag ist Ruhetag
Ich wollte früh ins Bett, denn das lange Baden im warmen Wasser macht schläfrig. Doch die Standhaftigkeit schwand schnell; unversehens wurde es dann doch noch zu einem langen Jubiläumsabend im Hotel mit schöner Livemusik von Daniel Steiner.
Es ist halb sieben Uhr morgens. Der Nebel hängt tief. Die Augen sind klein und versuchen sich zu orientieren. Von meinem Zimmer aus schweift der Blick ins Wintergrau. Die Schneeketten für meine Schuhe hätte ich zuhause lassen können, die Wege sind eisfrei und trocken. Für Bewegung sorgt nur der übliche Orts- und Bäderverkehr, in der Sonntagsstimmung herrscht. Aus den Balkonkästen wachsen im Sommer sicher üppig bunte Blumen. Vieles spielt sich wie in Zeitlupe ab, trügerische Langeweile bestimmen die Sonntage. Der Tag zieht mit der immer gleichen Ruhe vorbei. Ereignislosigkeit: Am Morgen etwas Frühsport in der Gruppe, am Vormittag ein paar Wasser- und Sauerstoffbehandlungen, Seniorenteller und danach der empfohlene Mittagsschlaf. Am Nachmittag Spaziergänge im Park und das Kännchen Kaffee.
Erst bei Anbruch der Dunkelheit geht es zum Haslinger Hof, aber nur bis 22:00 Uhr. Privatpatienten dürfen länger. Die Neuankömmlinge unter den Kurgästen staunen nicht schlecht, als sie an ihrem vielleicht ersten Morgen im Kurhotel auf die vielen sportlich und fit aussehenden Läufer am Frühstücksbuffet treffen. Ihrem Gesichtsausdruck ist es anzusehen, dass sie sich fragen, wo sie hier hineingeraten sind. Erholungswillige sehen anders aus.
Der Eingang der Therme ist eine mächtige Konstruktion aus Stahl und Glas. Groß, schlank und unbekleidet: Die bronzene Statue mit der lasziven Körperhaltung trotzt der Kälte und fällt auf. Was andernorts als Erregung öffentlichen Ärgernisses gelten würde, ist hier die Werbeträgerin der Johannestherme.
Warm anziehen heißt es heute für die insgesamt über 2100 Läufer und Läuferinnen. Dicke Funktionskleidung verdeckt die meist winterblasse Haut und die große Startnummer die Weihnachtsbäuche der Läufer an diesem kalten ersten Februartag; nur die Spitzenläufer tragen kurz. Heute Morgen gehört die gut geheizte Therme noch den Läufern, die die Spinde für ihre Wechselkleidung schon mal reservieren. Gegen 9:40 Uhr, strömen die meisten von ihnen nach draußen. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages lassen auf schöne Laufwetter hoffen.
Die Blaskapelle spielt, der Moderator Artur Schmidt drängt zur Startaufstellung. Ganz selten treten wir in solch einer Mannschaftstärke auf und heute in neonleuchtender neuer Team-Mode: Daumen hoch!
Abrupt enden die Gespräche. BUMM! Wir zucken zusammen. Pulverdampf steigt in den Himmel. Ein mächtiger Knall aus den Gewehren der Hofmarkschützen ist der Startschuss zum Marathon und prügelt auch die allerletzten Langschläfer aus den Betten. Die morgendliche Sonntagslethargie hat heute keine Chance. Hektisches Treiben in dem sonst so ruhigen Ort. Vor den Augen zahlreicher Läuferbegleitungen und einiger Kurgäste geht es los. Argwöhnisch schauen uns letztere hinterher. Mein leicht schon dem Kurbetrieb angepasster Körper wird nur langsam von mir in Bewegung gesetzt. Zum Spazieren gehen oder Kurwandeln werden die fünf Stunden Zeitlimit wohl nicht ausreichen. Manch eine(r) hat bereits am Vorabend vom Marathon auf Halbmarathon umgemeldet. Andere laufen erst gar nicht und ziehen die Stunden in der Therme vor.
Kurschattenspiele
Recht früh treffe auf einen Österreicher. Also genaugenommen kommt er aus Linz, erzählt er mir. Eine Stunde, länger benötigt er nicht, um hier an den Start zu kommen. Sein Kumpel sei bereits zum zehnten Mal dabei. Sonderlich schön sei die Strecke nicht, jedoch das ganze Drum und Dran, würde ihm schon sehr gefallen.
„5:15 passt!“, stellt er beim Blick auf seine GPS betriebene Pulsuhr zufrieden fest und erzählt mir weiter, dass er streng nach Plan trainiert. 5:15 Minuten für den Kilometer, geht es mir durch den Kopf. Ich lächle verkniffen. So früh in der Saison bin ich, zumindest für einen Marathon, untrainiert und auch mental weit von einer Bestform entfernt. Nicht zu vielen Worten fähig, erwidere ich nur knapp: Ich hatte noch nie einen Trainingsplan, laufe, wenn Zeit ist. Wie viele Marathonläufe ich denn hätte, fragt er weiter. Weiß nicht genau, jedenfalls mehr als hundert, meine Antwort. Er schaut skeptisch zu mir herüber. „5:15 passt“! Ist seine Antwort nach dem nächsten Kilometer! Ach, und dass er mal österreichischer Juniorenmeister im Tennis war, sollte ich auch noch wissen.
Eine mich um zwei Köpfe überragende Läuferin drängt sich zwischen uns, fragt meinen Kurschatten, ob er schon wieder beim Flirten sei. „Nein, Visitenkarten haben wir noch nicht ausgetauscht“, erwidere ich. Kurz darauf stellt sich heraus, dass die große Frau zu seinem Verein gehört. Ist das das Kurschatten-Phänomen? Eine gutaussehende Läuferin im schlumpfblauen Outfit und farblich gekennzeichneter Halbmarathonstartnummer, fragt, ob sie sich an uns hängen kann. Anhängen ist gut, denn kurz darauf bestimmt sie das Tempo! Ich habe Mühe, überhaupt noch mitzulaufen. Mein Flirtkollege schenkt mir einen letzten Blick über seine kalte Schulter und läuft mit ihr auf und davon. Von weitem sehe ich ihre Schlumpf-Kappe rhythmisch auf und ab springen.
Im Wechselbad der Gefühle
Springen kann Samuel Koch nicht mehr, laufen auch nicht. Dialoge, Ereignisse und Gedanken umspülen mein Hirn. Gestern, beim Sportsymposium, hat Samuel Koch vor ca. 400 Zuhörern von seiner Zeit vor und nach dem Unfall gesprochen. Kaum einer im Publikum kann sich vorstellen, wie es ist, täglich bis zu neun Trainingseinheiten zu haben und dann von einem Moment auf den anderen gesagt zu bekommen, dass man nie wieder wird laufen können.
Mit seinen erst 27 Jahren ist er seit seinem Auftritt 2010 bei „Wetten, dass…?“ an den Rollstuhl gefesselt und würde nur zu gerne „einfach aufstehen und loslaufen, sich irgendwann auf eine Bank setzen die Arme hinter dem Kopf verschränken und sein Leben genießen“. Der vom Hals ab gelähmte ehemalige Kunstturner, der mit „Stunts“ sein Studium finanziert hat, wusste so gar nicht, was er den anwesenden Sportlern am Tag vor dem Marathon eigentlich sagen sollte. Denn er fand es schon skurril, dass ausgerechnet er, der nicht mehr laufen kann, eingeladen wird. Gelaufen sei er nie. Kraft und immer wiederkehrende Bewegungsabläufe zu trainieren, darauf kam es beim Kunstturnen an. Was er und sein Vater uns erzählen und die Passagen, die er aus seinem Buch vorliest, sind erschütternd und bewegend zugleich. Immer auf den Boden achtend laufe ich mit gesenktem Kopf weiter.
Nach 11 Kilometern überquere ich zum ersten Mal die Zielmatte und stoppe meine Zwischenzeit. 58:16 Minuten. Die nächste Runde, die vor mir liegt, beträgt 10 Kilometer. Man kann sich die so ergebenden 21,1 Kilometer als eine 8 vorstellen, wobei sich die beiden Kringel in der Mitte gering überschneiden. Vor uns liegt wieder der Ortsteil Safferstetten (Ur-Gemeinde), jetzt auch der Ortsteil Egglfing am Inn, der sich aus einem Einödhof entwickelt hat, und führt weiter bis über den Ortsteil Riedenburg. Von dort sind es nur noch wenige Kilometer, bis wir wieder in Bad Füssing und der Johannestherme zum Zentrum des Marathongeschehens kommen.
Im Vorbeilaufen greife ich einen Becher süßen, warmen Tee vom Verpflegungstisch. Die Hälfte kippe ich aus, die andere Hälfte trinke ich aus dem von mir wie eine Schnabeltasse zusammengedrückten Becher. Zwei Herren, die Schläfen grau meliert, beobachten das Geschehen. Sie erinnern mich an Waldorf und Statler, die Großväter in der Loge der Muppet-Show. Sie klatschen mir wohlwollend zu. Oder haben sie nur Mitleid, dass ich keine Zeit zum Essen und Trinken habe?
So richtig Spaß macht es nicht, wenn der Winter auf sich warten lässt. Nur leicht sind die dunkelbraunen Felder wie mit Puderzucker bestäubt. Laufen beziehungsweise Joggen ist in Kurorten eher eine Randsportart. Jetzt aber begegne ich Fußgängern, die mit ihren Stöcken oder teils elektrisch betriebenen Fortbewegungsmitteln auf dem Nordic Walking Parcours offensichtlich müheloser vorankommen, als heute so manch ein Läufer. Weiter vorne sehe ich ein griechisches Restaurant. Um etwas Abwechslung in meine süße Gel-Speise zu bekommen, stelle ich mir vor, wie ich das Gel mit Gyrosgeschmack langsam in meinem Mund quetsche – das war wirklich eine blöde Idee.
Schon von weitem hebt sich die Johannesbad Therme von den sie umgebenden Feldern ab. Bald 50 Jahre ist es her, dass das Ärzteehepaar Zwick auf ihrem Grundstück auf schwefelhaltiges und zuvor Jahrtausende zwischen Juragestein gespeichertes Thermalwasser in einer Tiefe von über 1000 Meter stießen. Dies war der Beginn der Johannestherme, die 1969 in Betrieb genommen wurde und sich bis heute in Familienbesitz befindet.
Nur baden wäre jetzt schöner
52:52 Minuten stoppe ich für meine zweite 10 Kilometerrunde. Schon geht’s auf die Dritte. Wieder bin ich am markanten schönen alten Holzhaus von Safferstetten. Hier kann ich mir gut vorstellen, wie es wohl vor 1938 ausgesehen haben muss, als die wenigen Bewohner vom Ackerbau lebten und bei einer Probe-Bohrung statt Öl warmes Wasser aus der Erde sprudelte – was aber damals niemanden wirklich zu interessieren schien.
Erst nach dem Krieg erinnerte sich der Landwirt Franz Ortner an die Quelle und legte sie allein für Traktoren- und sonstige Reinigungszwecke wieder frei. Dann erkannte man die Heilkraft des warmen Wassers. Im Stall standen später die Betonbadewannen wie einst die Kühe nebeneinander. Die ersten Erholungssuchenden zahlten pro Bad noch „ein Zehnerl“. In den 50er Jahren wurde hier das erste Kurhaus mit vierzehn Fremdenzimmern und einer Seemannsbar im Keller eröffnet. An gleicher Stelle wird heute gekocht, á la carte versteht sich. Aus dem einfachen Bauernhaus wurde eine Vier-Sterne-Superior Unterkunft. Beinahe jedes Vier-Sterne-Hotel in Bad Füssing unterhält heute seine eigene Therme.
Auf die Idee, sonntags einfach mal so durch die Gegend zu rennen, kam früher niemand. Man ging „nach der Mess“ zum Frühshoppen ins Wirtshaus. Dort wurden die Neuigkeiten des Dorfgeschehens bei einem Schweinebraten und einer Maß Bier ausgetauscht. Für manch einen Durchreisenden standen einzelne Betten bereit; das war so um 1890.
Zurück ins Hier und Jetzt. Enten watscheln über den matschigen Boden. Selbst die Tiere bewegen sich hier kaum, wohl um nicht ihre wertvolle Energie zu vergeuden. Mein Gang entwickelt sich auch zu dem einer Ente. Wieder streife ich den letzten Kreisel, der im Sommer sicher aufwendig bepflanzt ist. Auch hier trotzt eine nackte Frau aus Bronze der Kälte. Kaum habe ich diese hinter mir gelassen, ist es, als wäre ich hier schon länger zu Gast. Das einheitliche und gleichmäßige Braun der Felder verleitet zu meditativer Monotonie. Aus der reißt mich der Hundebesitzer auf der anderen Straßenseite. Er glaubt das große Geschäft seines Vierbeiners vom Rasen. Später vielleicht, denke ich, wackelt er mit seinem neuen Hüftgelenk zum 18-Loch-Golfplatz, speziell modelliert für Golfer mit Gelenkproblemen. Bei einigen Gästen, könnte man glauben, sind die medizinischen Argumente wohl nur vorgeschoben.
Wenige Kurgäste sind unterwegs. Den meisten, denen ich begegne, haben Gehstöcke oder ziehen mit ihrer S-Klasse auf dem Weg zum Mittagessen auf der Straße gemächlich an uns vorbei. Jeder Kilometer ist ausgeschildert. Leider. Auf einem Werbeplakat bei Kilometer 39 lese ich: „Nur noch fünf Minuten bis Bad Füssing“. Das finde ich nicht witzig. Ein Kilometer weiter noch so eine überdimensionale Plakatwand: „Bad Füssing – wir kümmern uns um Ihre Gesundheit“. Ganz so sicher bin ich mir da im Moment nicht mehr. Die Knochen sind steif und schmerzen, der Kopf sehnt sich nach einer Pause.
Wieder erkenne ich das auffällige Gebäude der Johannestherme. Aaaaah! Eintauchen – abtauchen im blubbernden, wohltemperierten Whirlpool versinken, wegdämmern. Meine Träumerei wird von einem Laufpärchen erbarmungslos ausgenutzt und die beiden ziehen an mir vorbei. Unglücklicherweise, stellt sich später auf dem Siegerpodest heraus, hat die Läuferin meine Altersklasse. Vitale Best-Ager: W50 und 55 sind heute die am stärksten besetzte Altersklassen. In der W25 startet keine Dame. Bei den beiden Teilnehmern auf der 10-Kilometerstrecke mit Jahrgang 1929 kann es sich auch nur um Thermen-Stammgäste handeln, was die altersbremsende Wirkung des Wassers beweisen würde.
Apropos: Auch die beiden älteren Herren vor dem Zieleinlauf sind noch da. Sie sitzen noch immer auf der Bank wie die Großväter aus der Muppet-Loge. Beinahe könnte man sie sagen hören: „Ich bin so erledigt, am liebsten würde ich hier sitzen bleiben.“
Rekonvaleszenz
Innerhalb von nur knapp vier Stunden bin ich zum Kurgast geworden. Sollte es auch nur einen einzigen Teil meines Körpers geben, der nicht schmerzt, dann möchte ich jetzt wissen, welcher. Eingehüllt in eine Thermofolie trifft mich der Blick einer eleganten Dame mit Silberhaartolle, die mich vom Fenster des Thermen-Cafés aus beobachtet. Mein Gang hat etwas Träges, Bejammernswertes. Jetzt sehne ich mich nur noch nach Wärme und Wasserdampf als Muskel-Regenerationsmaßnahme!
Ein Bouquet von Läuferschweiß und Lavendel wabert unter dem Thermengebälk, in dem es mir fast den Atem verschlägt. Zerknüllt stopfe ich meine stinkigen Socken und das nassgeschwitzte Teamtrikot in den Spint. Der Schmerz der Knochen und die Ursache dessen sind als Andenken der letzten Stunden haften geblieben.
Resümee: Bad Füssing, ein Ort der Erholung? Wer das gesagt hat, ist den Marathon nicht gelaufen. Dennoch, die „wunderbare Wirkung des warmen Thermalwassers“ und ein eisgekühltes Bier sind vielleicht das Geheimnis meines persönlichen Erfolgs. Daumen hoch!
Marathonsieger
Männer
1 Mayerhöfer Felix DJK Dasswang 02:37:22.30
2 Wittmann Steffen Laufarena Allgäu 02:39:25.67
3 Fuchsluger Andreas ASKÖ Waidhofen 02:45:47.90
Frauen
1 Kühnlein Angela Brehm Titan Runners 03:05:54.16
2 Förster Basilia Team Erdinger Alkoholfrei 03:17:05.68
3 Heiml Alexandra Eigner Express 03:21:05.66
Informationen:
MARATHON:
Gesamtzeit: 5 Stunden / Höhenmeter: keine / Streckenprofil: Überwiegend Asphalt und Radwege
Wettbewerbe: Neben dem Marathon werden auch ein Schüler- und Jugendlauf, ein 10 Kilometer, ein Halbmarathon und ein Firmenstaffellauf angeboten.
Anreise: Von Frankfurt mit dem Auto ca. 450 Kilometer.
Veranstalter: Johannesbad Holding AG & Co. KG
Ausrichter: SV Pocking 1892, SV Bad Füssing
Temperatur: -1 bis 3°C
Zeitmessung: Einweg Fuß-Chip (im Starterbeutel mit einem Event-Funktions-Shirt)
Preise: 1. Sieger Gesamteinlauf Männer und Frauen: Pokale, Sachpreise sowie 1 Woche Aufenthalt in Bad Hofgastein für 2 Personen (!). 1. bis 3. Sieger jeder Klasse Männer und Frauen gibt es einen Glaspokal. Für alle Finisher des Marathons gibt es eine Medaille.
Angemerkt: Auch ohne ärztliche Verordnung kann man sich ein spezielles Gesundheitsprogramm zusammenstellen lassen: Einstiegs-Check-Up für etwa 40 Euro. Für das Marathon-Wochenende gibt es Sondertarife in ausgewählten Hotels.