Tokyo Marathon 2012
Nichts ist unmöglich
„Die Segel hängen in Fetzen, als das fremde Schiff steuerlos in den Hafen hineintreibt. Kaum wurde das ausgebleichte Holzschiff gesichtet, wird auch schon Alarm gegeben. Die letzten Überlebenden liegen hilflos und apathisch im eigenen Dreck. Skorbut und Tropenkrankheiten haben mehr als 70 Besatzungsmitglieder dahingerafft“.
Sie hatten den Atlantischen und den Pazifischen Ozean überquert, antarktische und tropische Wirbelwinde überlebt. Wiliam Adams hatte es bis nach Japan geschafft und wir auch. Unmittelbar bevor das Flugzeug aufsetzt, weckt mich die Stimme der Stewardess die den Landeanflug auf den Internationalen Flughafen Narita ankündigt. In meinen Händen halte ich Giles Miltons Roman „Samurai Wiliam“, der im Jahr 1600 in Japan gestrandet ist. Welches Abenteuer wird uns in Japan erwarten?
Es ist Tag. In meinem Körper ist es Nacht. Ich habe vergessen, wie viele Stunden mich von Zuhause trennen. Knapp 11 Stunden waren wir im Bauch des A380. Nun spuckt der Riese die über 500 Passagiere mit ihrem Gepäck wieder aus. Neun von zehn Koffern und Taschen, die auf Reisen gehen, sind schwarz – unsere natürlich auch. Wenn diese nun am Gepäckband ankommen, stehen die Leute unruhig herum, als warteten sie auf den Bus und bei jedem Koffer, der an ihnen vorbeifährt zucken sie zusammen. Freundlich lächelnde Zöllner überprüfen die Gültigkeit unseres Reisepasses, ein Visum benötigen wir nicht. Willkommen in Tokyo, der Multimillionenstadt.
Nichts ist unmöglich: Sightseeing als Abenteuer
Natürlich kennen wir Japan – wenn auch nur aus dem Schulatlas. Längengrad, Breitengrad, Meeresspiegelhöhe, Flüsse und Städte. Noch keine Stunde auf japanischen Boden, möchten wir nicht gleich am eigenen Leib erfahren müssen, was es heißt, während der Rushhour mit S-/ oder U-Bahn zu fahren. Orientierungslos im Großstadtdschungel. Der Metro-Plan gleicht einem Schnittmuster. Aber was tun, wenn man noch nicht einmal dieses lesen kann?
Ein Taxi kommt für uns nicht in Frage, denn eine Fahrt kostet etwa 250 EURO. Wir haben uns in Deutschland einen Japan Rail Pass besorgt. Dies ist die beste und günstigste Art, um Japan zu bereisen, zumindest auf Langstrecken. Aber Achtung: der Pass kann nicht in Japan erworben werden und er ist auch nur für Personen erhältlich, die Japan als Tourist bereisen.
60 Kilometer trennen uns nur noch von der Zehn-Millionen-Metropole mit über 800.000 dort ansässigen Unternehmen. Es ist 8:30 Uhr, wir sind mitten im Berufsverkehr. Tausende von Menschen auf dem Weg zur Arbeit. Die Bahnen sind so voll, dass ein Mann in Uniform und mit weißen Handschuhen die Menschen hineinquetscht. Wenn es partout nicht mehr geht, zieht er sie wieder heraus. Die Fahrgäste sind still. Niemand spricht. Niemand telefoniert. Niemand nervt seinen Sitznachbarn mit lauter Musik – geht auch gar nicht. Schieben, schubsen, wir können kaum atmen. In Shinjuku, dem größten Bahnhof der Welt, können wir endlich aussteigen. Er gleicht eher einem Kaufhaus mit Gleisanschluss und ist nahezu blitzblank.
Den Kopf gesenkt und keine Schwäche zeigen, so bahnen wir uns den Weg durch die japanischen Menschenmassen. Jetzt bloß nicht Kay im Gewimmel verlieren. Wir wissen nicht, in welche Richtung wir laufen müssen und somit stehen wir schon vor der nächsten Herausforderung. „Erwischt man den falschen Ausgang, muss man kilometerweite Umwege in Kauf nehmen“, lese ich im Reiseführer. Dabei sollten wir laut Beschreibung in einigen Minuten zu Fuß in unser Hotel kommen. Kalter Regen pfeift uns um die Ohren. Für ein erstes unkompliziertes Sightseeing-Programm entscheiden wir uns mit der JR Yamanote Ringbahn zu fahren. Am Knotenpunkt Shinjuku steigen wir ein. Eine Stunde dauert eine solche Entdeckungsfahrt mit 29 überirdischen Haltestellen.
Nichts ist unmöglich: TOKIO HOTEL
Neue Unterkünfte, so heißt der Ortsteil Shinjuku übersetzt. Beispielloser Service gehört zum guten Ton und daher erwarten die zwei Pagen, die uns auf unser Zimmer Nr. 1268 begleiten, kein Trinkgeld. Sie würden es auch gar nicht annehmen. Dafür hat Lächeln und Verbeugen einen hohen Stellenwert. Der Fahrstuhl setzt sich in Bewegung und öffnet sich für uns leider schon im 12. Stockwerk. Neu ist unser Hotel nicht, aber mit seinen 1.440 Zimmern gehört es zu einem der höchsten Hotels in Tokyo. Bei klarem Wetter, so sagte man uns, könnten wir den 120 Kilometer entfernten Vulkan Fuij-San sehen. Was wir auf jeden Fall haben, der einmalige Blick auf das schöne Rathaus. Mit seinen beiden Türmen erinnert es an die Kathedrale Notre Dame von Paris. Hier wird am Marathontag die Startlinie sein. Noch spät am Abend sehen wir Lichter in den Büros. Mit einem Yukata (Bademantel) stehen wir beeindruckt am Fenster und fühlen uns wie Bill Murray und Scarlett Johansson als verlorene Gäste in Tokyo in dem Film „Lost in Translation“.
Nichts ist unmöglich: Pachinko und traditionelles Essen inmitten illuminierter Business-Tempel
Die Neugierde und der Hunger treiben uns auf die Straße von Shibuya. Blinkende Neonreklame und Videoclips auf riesigen Leinwänden, laute Spielhallen, Karaoke-Bars, riesige Bildschirme an den Hochhäusern. Ein Wirrwarr aus Zebrastreifen auf einer der quirligsten Kreuzung der Welt. Wellen von Menschen, die bei Grün auf die Kreuzung branden und sich daran halten bei Rot stehen zu bleiben.
Es gibt annähernd so viele Restaurants wie „Pachinko-Tempel“. Mädchen, die unablässig durch Megaphone rufen, sollen Besucher anziehen, was ihnen auch gelingt. Die elektrische Glasscheibe einer Spielhölle lässt uns eintauchen in eine völlig fremde und für uns nicht zu begreifende Welt: Dort sitzen Hausfrauen, Angestellte, Studenten und Rentner Rücken an Rücken in langen Reihen und starren auf hochkant aufgestellte Automaten, durch die Tausende kleiner Metallkugeln schäppern.
Durch einen Hebel kann die Geschwindigkeit, in der die Kugeln jetzt durch ein Nagellabyrinth fallen, bestimmt werden. Es ist wahnsinnig laut. Dazu kommt noch japanische Popmusik und Werbedurchsagen. Dichter Zigarettenqualm erschwert das Atmen. Eine skurrile Atmosphäre, vor der man nur fliehen möchte, viele Japaner dagegen unwiderstehlich anzieht. Laut inoffiziellen Schätzungen sollen es 30 Millionen Stammspieler und 20 Millionen Gelegenheitsspieler in Japan geben.
Wieder draußen bietet eine amerikanische Fast-Food-Kette ihre Burger statt mit Ketchup mit Teriyaki an, einer süßlichen Soße auf Sojabasis. Meinen Heißhunger auf Milchreis mit Zucker und Zimt werde ich wohl erst in Deutschland stillen können. Denn für die Japaner ist es eine Ungeheuerlichkeit, den kostbaren Reis mit Milch zu verschandeln.
Da vorne sehe ich ein Lokal mit Ramen und Udon, den typischen japanischen Nudelsuppen; die preisgünstigste Möglichkeit, den Hunger zu stillen. Aber auch Chanko-nabe, ein herzhafter Gemüse-Eintopf und die Leibspeise der Sumo-Ringer werden angeboten. Wir können uns nicht entscheiden. Wer die Wahl hat, hat die Qual. Eine Stunde später finden wir Platz in einem Lokal. Zum Bestellen des Essens deuten wir auf ein Bild. Eine große Schüssel wird mit Suppe und Nudeln, eine Art Makkaroni gefüllt, ein rohes Ei hineingeschlagen. Mit der Schüssel und den Stäbchen in der Hand setzen wir uns zu Einheimischen an einen runden Tisch. Sie beachten uns nicht und schlürfen lautstark ihre Suppe. Man bringt uns Wasser und duftenden, dampfenden grünen Tee, welche zu jedem Essen kostenfrei gereicht werden. Jetzt bloß nicht selbst nachschenken. Kay schenkt mir noch etwas nach und ich dann ihm. Denn das ist hier Sitte. Man schenkt sich nicht selbst nach.
Der Duft der Speisen im Lokal zieht in meine Nase und sie fängt an zu kribbeln und zu jucken. Kay hält mir ein Taschentuch hin. Hastig stecke ich die Essstäbchen in meine Schale Reis und eile auf die Toilette. Denn auch das Naseputzen bei Tisch gilt, wie bei uns auch, als sehr unhöflich. Dennoch habe ich uns unbewusst in eine sehr peinliche Situation gebracht. Die Stäbchen in den Reis zu stecken, wird nur bei der Andacht für die Toten gemacht!
Diese fremdartige Welt der für uns geheimnisvollen Schriftzeichen, ausgeprägter Höflichkeitsrituale, hochtechnisierten Alltags verbunden mit buddhistischer Gelassenheit im Zen-Garten. All das zieht uns sofort in seinen Bann. Zuhause noch die entsetzte Fragen unser Familien und Freunde: „Wo wollt ihr hin? Nach Japan? Ist Tokyo sicher?“; „Ist das nicht zu gefährlich?“; „Die Erdbeben?“; „Die Strahlung?“; „Was ist mit dem Essen und dem Trinkwasser?“. Die Fragen sind berechtigt und beschäftigen auch uns, denn schließlich jährt sich die Katastrophe dieser Tage. Die „Japan Times“ veröffentlicht seither täglich eine Strahlungskarte.
Ein halbes Jahr nach dem Tsunami und der Reaktorkatastrophe wurde für die Präfektur Fukushima eine Strahlung von 2,56 Mikrosievert pro Stunde gemessen. In Tokyo allerdings nur noch eine Strahlung von 0,058 Mikrosievert. In Berlin, der Partnerstadt Tokyos, wurde zum gleichen Zeitpunkt eine Strahlung von 0,070–0,079 Mikrosievert gemessen. Ein Grund, nicht mehr nach Berlin zu reisen? Und: Nirgendwo auf der Welt werden die Menschen so alt wie in Japan. Das kann kein Zufall sein. Vielleicht können wir dem Geheimnis der Langlebigkeit in der Heimat der Hundertjährigen auf die Spur kommen?
Nichts ist unmöglich: 1. Friendship Run
Wer Erleuchtung will, muss früh aufstehen. Wir haben ernsthaft versucht zu schlafen, aber es klappte nicht, nach 35 Stunden wach sein, haben wir gerade einmal 6 Stunden Schlaf bekommen. Draußen empfängt uns folgender Geräuschmix: „Hehai je juha ja eh he hai komesamai….“ – eine Rolltreppe spricht mit uns. Im Jahr 1641 befindet sich eine unsichtbare Mauer um Japan. Über 1.000 Jahre hindurch war das Land immer wieder um Frieden bemüht, jedoch durch die Außenwelt und den internen Konflikten ständigen Kriegen ausgesetzt. Das Land war entkräftet und die Kaiserstadt verödet. Nach Samurai Wiliams Tod wurde der Kontakt mit Überseevölkern auf das Nötigste reduziert. Die Ratschläge von Wiliams an den Shōgun bewogen diesen, den Europäern in einem solchen Ausmaß zu misstrauen, dass er und seine Nachfolger Japan in der Edo-Periode isolierten.
Es sollten mehr als 200 Jahre vergehen, bis Fremde einen ersten Schritt auf dieses Land setzten. „Gaijin“, ein Mensch von draußen, und etwas höflicher als „Gaikokujin“, Mensch aus einem anderen Land, werden Ausländer in Japan bezeichnet. Heute erregt selbst so ein hellblonder Pferdeschwanz wie meiner kein Aufsehen mehr, höchstens bei einer Schweizerin, die mich vor dem Start für den Friendship Run auf meine Frisur anspricht. Sie ist gemeinsam mit ihrem Mann angereist und die beiden starten auch auf der Marathondistanz. An nur 7 Tagen im Durchschnitt soll es im Februar in Tokyo regnen. Heute ist wohl Tag 6. Es schüttet senkrecht und umso bemerkenswerter, dass etwa 1.000 „Überseeläufer“ im Startbereich des Meiji-Schreins ankern.
Viele freundliche Helfer nehme ich am Rande wahr. Wir frieren bis auf die Knochen, schlottern vor Kälte und Müdigkeit und entscheiden uns, die 2×1 Kilometer lange Strecke mit dem Regenschirm in der Hand zu durchlaufen. Gestartet wird in Blöcken, je nachdem, wie man sich gerade aufgestellt hat. Trotz des Wetters ist die Laune gut und die Läufer haben Spaß. Eine Weile noch grüßen zur Linken die hohen Baumwipfel aus einem Park herüber. Die Strecke führt am Olympiagelände von 1964 vorbei, weiter an einem der vielen Golfplätze Tokyos bevor die Wolkenkratzer von Shinjuku das Panorama bestimmten.
Manch teilnehmende Nation können wir anhand der Kleidung nicht übersehen. Da sind Franzosen, Holländer, Italiener und, und, und. Eine kleine Deutschlandflagge schmückt den Rand meiner Laufsocke. Ich kann kaum glauben, dass wir hier in einer Hafenstadt sind. Wo Autobahnen früher Wasserstraßen waren und wenn es so weiterregnet, auch heute wieder werden. Bevor wir uns versehen, sind wir auch schon im Zielkanal am Meiji-Schrein. Dieser wurde erst 1912 nach dem Tod des Kaisers Meiji errichtet und 1958 wieder aufgebaut, nachdem er im Zweiten Weltkrieg fast völlig zerstört worden war. Somit fehlt ihm das Flair der alten Schreine und Tempel, die in ganz Japan, aber auch in Tokyo zu finden sind. Hier erhalten wir auch das versprochene Breakfast.
Immer schön der Reihe nach. Zuerst bekommen wir eine Tüte in die Hand gedrückt. In diese können wir nun eine Flasche Wasser, eine Flasche ISO-Getränk, eine Banane, zwei Schokoladenbrötchen und einen Energieriegel packen. Jetzt noch einen Pappbecher in die andere Hand wahlweise mit Kaffee oder grünem Tee.
Am Regenschirm perlt der Regen ab wie von einem Lotusblatt und so bleibt uns nasse Kleidung erspart, jedoch nicht durchnässte Schuhe und kalte Füße. Dies ist auch der Grund, warum wir uns nicht länger am Shinto-Schrein, der dem Reformkaiser Meiji und seiner Gattin gewidmet ist aufhalten. Dabei pilgern an Neujahrstagen Millionen von Menschen zu diesem berühmten Bauwerk.
Nichts ist unmöglich: Nichts, was es nicht zu kaufen gibt
Wieder getrocknet, steuern wir unser nächstes Ziel, die vier kopfstehenden Pyramiden des Tokyo Big Sight Messegeländes an. Hier befindet sich die Startnummernausgabe. Wenn man erst einmal das Schnittmuster des öffentlichen Nahverkehrsnetzes in Tokyo verstanden hat, ist es kein Problem, die Kongresshalle zu erreichen.
Abgesperrt und bewacht von Helferinnen und Helfer kommen nur diejenigen an den Bereich der Startnummernausgabe, die auch eine Teilnahmebestätigung vorlegen können. Es läuft alles geordnet und ohne hektische Aktivität. Eine Helferin überreicht mir mit beiden Händen meine Startberechtigung. Eine kleine Verbeugung beiderseits und ein freundliches Lächeln. Schön! Zur Startnummer erhalte ich einen Läuferchip sowie einen überdimensionalen Kleiderbeutel.
Die nächste Halle zeigt die kurze Geschichte des Tokyo Marathon mit den Medaillen der späteren Sieger. Der Tokyo Marathon mit seiner Mega-City, führt zu Verschiebungen im Ranking der größten Städtemarathons der Welt. Innerhalb von ein paar Jahren wird er bereits in einem Atemzug der „Big Five Läufe“ genannt. Was im noch fehlt, ist eine gewachsene Historie, wie sie beispielsweise der Boston Marathon vorweisen kann.
Es herrscht ein geschäftiges Hin und Her der Konsumentenläufermassen. Fotos, Klamotten, Essen und Trinken. Ich aber suche einen Karpfen. Den würde ich mir an mein Startnummernband binden, denn der Karpfen gilt in Japan als Glücksbringer und Symbol für Ausdauer und Kraft. An der großen Auswahl von Merchandise Artikeln komme ich nicht vorbei. Erst am Ende der Hallen erhält man nun sein „Event-T-Shirt“, sozusagen als Finisher der Marathonmesse. Kay ragt mit seinen über 1,85 cm wie der Tokyo-Tower aus der Menge hervor. Japaner sind durchschnittlich 8 cm kleiner als Deutsche, dafür wiegt ein Japaner im Durchschnitt aber auch 19 Kilogramm weniger. Keine Frage, hier wird mir das Shirt in der Größe S sicherlich passen. Sofort reiße ich die Verpackungshülle auf und bin enttäuscht. Selbst die die Größe S ist mir noch zu groß.
Nichts ist unmöglich: Eine Stadt kriegt nicht genug
Es ist verrückt, 335.000 Sportler wollten durch die Schleusen der Stadt drängen, jedoch nur 11 Prozent haben die begehrte Startnummer erhalten. Wer? Darüber entschied das Losglück! Auf der sicheren Seite ist man mit einer Buchung über einen Reiseveranstalter. 110 EURO bezahlt ein Ausländer für eine Starterlaubnis.
Von 1981 bis 2006 hieß der Tokyo Marathon noch Tokyo International Men´s Marathon und wurde ausschließlich als Eliterennen der Männer ausgetragen. Heute ist er ein Qualifikationswettkampf für eine Olympiateilnahme der Männer. Die Bayerischen Motorenwerke unterstützen den Tokyo Marathon als offizieller Automobilpartner.
Noch mehr Zahlen gefällig? 85.920 Menschen besuchen die Sportmesse in drei Tagen. Über 2 Millionen Zuschauer stehen auf 42,195 Kilometer verteilt und feuern die Läufer an. 40 LKWs bringen das Gepäck vom Start zum Ziel. 10.450 freundliche Helfer unterstützen die 36.000 Teilnehmer auf der gesamten Strecke, im Start- und Zielbereich. 30 Läufer sorgen für das richtige Tempo und für die Unterhaltung 6.000 Tänzer und Musiker. Über 5.000 Sicherheitskräfte passen auf, dass nichts passiert. 2.878 ausländische Läufer können noch zusätzlich an dem Friendship Run teilnehmen. 390 Personen mit medizinischem Hintergrund helfen fachgerecht. 987 Toiletten sind nötig und die 66 Defibrillatoren hoffentlich nicht.
Nichts ist unmöglich: „The Day We Unite“
So lautet das Thema des Marathons. In der Nacht hat der Regen aufgehört. Die Morgendämmerung gleitet über die Häuserberge wie ein Tuch, das von einer Skulptur gezogen wird. Ein trister Himmel liegt über der Stadt. Kaum ein Sonnenstrahl dringt durch die Wolken. Tokyo bietet alles – nur keinen Platz. Gebäude, Autos und Menschen drängen sich auf engstem Raum. Beinahe hat man das Gefühl, die Menge der Läufer und Helfer dehne sich ins Unendliche.
Nichts ist unmöglich: Madame Butterfly trägt eine Startnummer und Jesus lebt
Wir erleben Japan als kultiviert auf höchstem Niveau: Der Schaffner, der den Waggon verlässt, sowie der Straßenbauarbeiter, der ein Auto oder Fußgänger an der Baustelle vorbeiwinkt, verbeugen sich als Zeichen des gegenseitigen Respekts. Und auch der Kranke trägt einen Mundschutz nicht um sich, sondern um Andere vor Ansteckung zu schützen. Ein Helfer nimmt mir meinen XXL-Kleiderbeutel ab und verstaut ihn in einem der LKW’s, die in der Nähe der Startaufstellung bereit stehen. Auf meinem Weg zum Startblock treffe ich auf eine außergewöhnliche Erscheinung der japanischen Tradition. Mit ihrem weiß geschminkten Gesicht und ihrem farbenprächtigen Gewand, wirkt die Frau wie aus einer anderen Welt und beflügelt meine Fantasie.
Seit Mitte des 18. Jahrhunderts arbeiteten Geishas in den Teehäusern und ihre Aufgabe war es, männlichen Gäste mit kurzweiligen Gesprächen, Liedern oder kleinen Kunststücken zu unterhalten und heute? Heute laufen sie Marathon! In dem mir zugewiesenen Startblock stehen bereits tausende von Läufern zwischen verglasten Wohn- und Bürokomplexen, die wie Stifte in den Himmel ragen. Über der Szene liegt eine Stille. Ich staune über das Mysterium der Lautlosigkeit. Wie nur können so viele Menschen so wenig Krach machen?
Vier Hubschrauber am Himmel, es läuft leise klassische Musik. Unglaublich, aber ich höre einen Vogel zwitschern. In dieser fast schon andächtigen Stille steht alles zusammen, bis leise der Startschuss und Konfettiregen fällt. Die Prozession trippelnder Läufer jeden Alters setzt sich in Bewegung. Nur im Schneckentempo geht es auf den ersten Metern voran und die strömenden Menschenmassen summen wie ein Bienenstock durch das Viertel mit den größten Wolkenkratzer des Landes. Ich bin nervös. Wie fühlt es sich an, in einem Strom Laufbegeisterter durch die Straße geschoben zu werden?
Die Hochhäuser stehen Spalier, teils so eng aneinandergedrängt, dass es so aussieht, als habe ein Origami-Künstler das Gebäude in die schmale Lücke hineingefaltet. Klar, dass die GPS-Uhr keine Satelliten lokalisieren kann. Die eben noch ruhigen Läufer werden von jubelnden japanischen Familien am Straßenrand angefeuert. Nicht nur zur Kirschblüte befindet sich Tokyo im Rausch. Berührungsängste kommen keine auf, denn jeder Läufer wahrt die Distanz zum Mitläufer. Keiner rammt oder zwängt sich noch an mir vorbei und keiner tritt mir auf die Fersen. Unwillkürlich kommt mir der Vergleich eines Fastnachtsumzugs in den Sinn, bei dem nur die Motivwagen fehlen. Plüsch- und Kitschalarm und schrille Läuferoutfits: von brillant bis bizarr, manche mutig und andere anmutig, alltäglich bis himmlisch. Micky mit Minnie Mouse, Super- und Batman, Braut und Bräutigam. Dazwischen läuft Jesus!
Nichts ist unmöglich: Laufen durch Straßen, die keine Nummern und keine Namen tragen
Zweisprachige Straßenschilder gab es nicht immer. Verlaufen unmöglich. Immer nur der Masse nach und tun, was vorgeschrieben ist. An den vielen, schon von weitem erkennbaren Dixi-Toiletten haben sich Schlangen gebildet und jeder, der mal raus muss, reiht sich ordentlich hinten ein. Kaum eine andere Zwölf-Millionen-Einwohner-Metropole der Welt sieht so sauber und aufgeräumt aus wie Tokyo. Nirgendwo gibt es einen Baum oder einen Strauch, hinter dem man sich diskret verstecken könnte. Ich hoffe darauf, durchlaufen zu können. Noch funktionieren meine Beine ganz locker wie von selbst. Kein Wunder, es geht leicht abwärts seit fast 5 Kilometern. Unsagbar viele Kirschbäume säumen den Straßenrand und ich versuche mir vorzustellen, sie stünden in voller Blüte. Zu spät für ein Foto sehe ich den Hochgeschwindigkeitszug, der auf einer Brücke über die Köpfe der Läufer schwebt. Hier treffe ich auch zum ersten Mal auf Kay, der neben der Laufstrecke versucht, Bilder zu machen und am Rande, so gut es eben geht, mitzulaufen.
In der Nähe befindet sich der Bahnhof Iidabashi. Das große Kanto-Erdbeben zerstörte auch den 1894 eröffneten Bahnhof, welcher 1928 neu aufgebaut wurde. Ich laufe im Strom von Füßen, ein Heer von Köpfen, eine Armada rudernder Arme und komme zu einer riesigen Parkanlage und dem Zuhause des Tennō. Ein verheerendes Feuer zerstörte 1873 das Hauptgebäude des Palastes. 1888 wurde ein neuer Gebäudekomplex geschaffen, der jedoch während des Zweiten Weltkriegs vernichtet und erst nach dem Krieg neu aufgebaut wurde. Das ganze Areal des kaiserlichen Hofes erstreckt sich über etwa 7,5 Quadratkilometer. Joggen rund um den Kaiserpalast boomt. Auch heute sehe ich Jogger auf der 5-Kilometer-Runde laufen. An deren Streckenrand befinden sich Toiletten, Brunnen und eine elektronische Zeitnahme und sogar Umkleidekabinen für die Büroangestellten, falls sie vor oder nach der Arbeit joggen wollen.
Für Marathonsammler hier noch ein Tipp: Jeden 1. Sonntag im Monat wird auf dieser Runde ein Marathon ausgetragen unter dem Motto: „Es ist nicht ein Wettlauf mit der Zeit aber für eine gute Zeit“. Leider habe ich niemanden getroffen, der mir diese Information bestätigen konnte und leider darf man den Palast nur zweimal im Jahr besuchen. Am 2. Januar und am Geburtstag des Kaisers. Aber wer weiß, vielleicht läuft ja auch ein Mitglied der kaiserlichen Familie hinter dem gewaltigen Burggraben oder trinkt gerade gemütlich einen Tee im angrenzenden Teehaus? Vor dem japanischen Kaiser bewohnte die Residenz der Shogun, der jedoch die Burg von Edo, das heutige Tokyo zugunsten des Kaisers im 19. Jahrhundert verlassen musste. Die japanische Monarchie ist die älteste ununterbrochene Erbmonarchie der Welt. Der momentan regierende Tennō, Akihito, ist der 125. Monarch der offiziellen Chronologie! Japan hatte auch weibliche Tennō, regierende Kaiserinnen. Diese waren aber nur eine „Übergangslösung“. Sie alle mussten abdanken, sobald ein angemessener männlicher Nachfolger der männlichen Linie zur Verfügung stand. Und heute? Heute sind die Frauen Japans Fußballweltmeisterinnen.
Die Nijubashi-Brücke am Koyo-Gaien-Platz bildet den Eingang zu den inneren Palastanlagen und ist von der Strecke aus zu sehen. Ganz Tokyo scheint heute auf den Beinen zu sein und die 10 Kilometer Läufer sind nun am Ziel. Die „Running Doctors“ beginnen hier ihren Dienst. Jede Lücke, die sich mir bietet nutze ich aus.
Nach der Zerstörung durch Erdbeben wurde die Infrastruktur der Stadt den Autos und Straßenbahnen angepasst. Daher entschloss sich die Stadtverwaltung dazu, breitere Straßen zu bauen. Die Straßen gehören heute den Läufern. Hier erinnert mich die Laufstrecke an die Außenalster in Hamburg. Na so was, im Shiba Park unterhalten uns Bauchtänzerinnen. Das nächste Highlight ist nicht weit entfernt: an der Verpflegung gibt es isotonische Getränke, Wasser und Bananen. Das weiß ich besonders zu schätzen, da Obst hier ein Luxusartikel ist. Die Straße, auf der ich laufe ist sauber. Kein kleben der Turnschuhe auf dem Asphalt, keine ausgedrückten Gelbeutel, keine Papierschnipsel. Jeder trinkt und wirft seinen Abfall in die vorgesehenen großen Kartons.
Nach etwa 12 Kilometern sehen wir den 1393 erbauten Zojoji Tempel mit einem angrenzenden Friedhof und der 15 Tonnen schweren Bronzeglocke, die zu Silvester 108-mal geläutet wird. Ebenfalls ist dort das nachgebaute Haupttor von dem es heißt: Wenn ein Mann durch dieses Tor schreitet, soll er Erlösung von drei Leiden finden: Gier, Hass und Dummheit. Man kann nur ahnen, welche Macht auf jenem Areal konzentriert war, ehe ein Golfabschlagsplatz und der Tokyo Tower erbaut wurden.
Die führende Gruppe der Elite-Männer sehe ich in die entgegengesetzte Richtung laufen. Kurz darauf passiert man den Sengakuji Tempel. 47 Samurai werden zum Tode verurteilt und hier beerdigt. Herr und Gefolgsleute Seite an Seite. Zuvor 1701, wird deren Herr, der Fürst Asano, wegen eines Streites, vom Höfling Kira zum Tode verurteilt. Die 47 herrenlosen Samurai rächen ihn, indem sie Kira den Kopf abschlagen. Die Ehre ist wieder hergestellt. Auf dem Tempelgelände steht noch heute der Brunnen in dem das Haupt gewaschen wurde. Diese Geschichte ist in Japan jedem bekannt. Während Deutschland schläft, ist die Open-Air-Party in vollem Gange. Ich bilde mir ein Jodelmusik zu hören.
Nichts ist unmöglich: Und dann ist da plötzlich der Eiffelturm
Wie das Pariser Vorbild schaut der stählerne Riese aus, allerdings überragt er diesen um ganze acht Meter. Und wie der Eiffelturm ist der 70 Jahre jüngere und mit seiner knalligen rot-weißen Hülle Tokyo-Tower eine Touristenattraktion. Bei Kilometer 15 ist man im Stadtbezirk Shinagawa angelangt und kurz darauf erreiche auch ich den Turning Point. An dieser Stelle befand sich während der Edo-Zeit die erste Poststation der Tōkaidō und die Poststationsfunktion setzt sich bis heute fort. Einige Universitäten und zahlreiche japanische Unternehmen haben hier ihren Unternehmenssitz.
Über 5 Kilometer kann ich nun in die Gesichter der mir entgegenkommenden Läufer schauen. Helle blasse Haut gilt als Schönheitsideal, somit liege ich voll im Trend. Kurzstreckenläufer im Businessstil. Gestern sahen wir sie noch junge dynamische Frauen im Career-Woman-Outfit, auf hohen Schuhen, mit Stil getragen. Schick und elegant und ebenso jung und dynamisch wirken auch die schlanken Männer in ihren schwarzen Anzügen mit modischen Krawatten auf weißen Hemden und gepflegten Lederschuhen. Alle sind dunkel gekleidet, Ton in Ton. Angepasst, nicht auffallend. Ältere oder alte Menschen finde ich keine. Ich frage mich sogar, gibt es überhaupt Rentner in Toyko?
Zurück auf die Laufstrecke: Heute kann ich mich gar nicht satt sehen an den Farben und Verkleidungen der Läufer. Seltsam, zwei Stunden unterwegs und der Schädel brummt noch nicht von all dem Treiben – ganz im Gegenteil. Ich bin gefangen von dem Gefühl, noch weitere 20 Kilometer laufen zu können.
Nichts ist unmöglich: Und dann ist da plötzlich die Fifth Avenue in New York
Gnädig zeigt sich die Sonne dann für einen kurzen Moment, gerade als wollte sie mir zeigen, welchen Unterschied ihr Licht auf den Fotos ausmacht. Kurz nach Erreichen der Halbmarathondistanz laufen ich in den eleganten Stadtteil Ginza, der Ende des 19. Jahrhunderts von zwei britischen Architekten nach Pariser Vorbild errichtet wurde. Tausende Turnschuhe überqueren diagonale Zebrastreifen, damit sich während der Rush-Hour die Menschenmassen nicht stauen. Ich bezweifele, dass irgendjemand dies unter seinen Füssen gerade wahrnimmt.
Auf der großen Einkaufsstraße entdeckt man fast nur teure und vor allem westliche Markengeschäfte. Das Kaufhaus Matsuzakaya war das Erste, das Kunden betreten durften, ohne vorher ihre Schuhe auszuziehen. Man kann alles finden, was es auch sonst wo auf der Welt zu kaufen und zu sehen gibt. Und, die Zukunft ist weiblich. Noch sind Frauen selten in Managerjobs, aber das wird sich bestimmt bald ändern. Auf einem Gebiet sind wir Frauen aber schon heute unbesiegbar: als Konsumentinnen! Und in Tokyo ist nichts leichter, als dem Kaufrausch zu verfallen. Obwohl japanische Modeschöpfer wie Yamamoto und Issey Miyake internationalen Erfolg haben, zeigt sich an den Einkaufspalästen der Einfluss der westlichen Mode. Links Gucci, rechts Armani und fast jede modische Japanerin besitzt ein Teil von Louis Vuitton. Leider ist die Stadt nichts für Schnäppchenjägerinnen. Aie gilt als eine der bedeutendsten in der Metropole Asiens und auch als teuerste. Nirgendwo sind die Immobilienpreise so hoch wie hier. Aber auch in einer anderen Wohngegend zahlt man für ein 20 qm-Apartment deutlich über 800 EURO. Abends verändert sich das Viertel mit den Millionen von Illuminationen der Leuchtschriften und Neonreklamen zur Fifth Avenue in New York.
Ich muss jetzt aber doch mal raus. Erschrocken stelle ich fest, dass ich mir das WC der Metrostation ausgesucht habe. Jeder Schritt auf den vielen Stufen nach unten schmerzt. Für gewisse Bedürfnisse braucht es kein Englisch oder Japanisch, hier sind alle Zeichen gleich und so drückt eine Dame schon von weitem auf einen Knopf und die elektrische Tür öffnet sich. Glück für mich, denn ich hätte den Sesam-öffne-dich Knopf nicht so schnell gefunden. Kurz genieße ich den Moment der Ruhe, dieses äußerst flüchtige Glück in der überfüllten Stadt. Die Stille wird durch blecherne, plätschernde laute Geräusche aus dem Toilettensitz jäh unterbrochen. Ich habe keine Toilette, sondern ein für Tokyo typisches Washlet erwischt. Auf diesem beheizten Thron ist jeder sein eigener Herrscher. Knöpfe wie ein Schaltbrett an der Toilettenbrille. Spüle hier und spüle da, anschließend noch trocken fönen, gleich hebt der Sitz ab. Mich erinnert dieser Ort mit seinem Sitzplatz eher an ein Krankenhaus und ich halte das warmfeuchte Ding für nicht sonderlich dekorativ in unserem Zuhause. Wieder am Tageslicht, weisen mir Helfer, nachdem sie kontrolliert haben, ob ich Besitzer einer Startnummer bin, den Weg zurück in die Läuferflut.
Nichts ist unmöglich: Vorläufer des Comics
Kilometer 26, noch immer Begegnungsstrecke. Auf der anderen Seite der Laufstrecke befindet sich der Stadtteil Akihabara, der auch als Elektromeile bezeichnet wird. Aber nicht nur Technikkrams gibt es hier in Massen, es ist auch das Mangaviertel. Mangas kennt man ja bei uns auch. Aber das Mangas 1814 erstmals unter diesem Namen veröffentlicht wurden, wissen die wenigsten. Sie bildet ein einzigartiges Portrait der damaligen Gesellschaft. So manche Meisterwerke gelangen über Japan nach Europa und inspirierten Maler wie Paul Gauguin und Vincent van Gogh.
Von weitem schon sieht man das Donnertor mit seiner großen roten Laterne. Sie ist eine Touristenattraktion und daher liegt dahinter auch die im Rheinland bekannte Drosselgasse – dies nur als kleine Anmerkung am Rande. Das Tor wird von zwei grimmigen Schutzgöttern flankiert. Dem Gott des Windes und dem Gott des Donners. Mit dem Gott des Windes haben wir seit unserer Ankunft schon mehrfach zu tun gehabt, der Gott des Donners ist uns bislang gnädig gesonnen.
Ich habe den Stadtteil Asakusa erreicht und die Stimmung hier ist gigantisch. Ich bleibe stehen und versuche anhand der Bilder die Stimmung einzufangen. Diese Gegend stellt das Gegenteil zu den anderen Bezirken dar. Hier befinden sich viele Gebäude der 50er und 60er-Jahre, darunter auch einige traditionelle Ryokan. Der älteste und bedeutendste buddhistische Tempel Tokyos der Sensō-ji und der Asakusa-Schrein liegen in unmittelbarer Nähe.
Hier schlägt das Läuferfeld einen Haken und dicht an dicht geht es zurück in Richtung Ginza. Die Massen der Läufer von vorne und von hinten wollen nicht enden. Den ganz neu gebauten Tokyo Sky Tree, der mit 634 Metern der zweithöchste Turm der Welt ist, kann ich sehen. In den Seitengassen ganze Wälder von Strom- und Telefonmasten. Die Füße sind müde aber ich habe Spaß. Anhalten? Auf keinen Fall! Bei Kilometer 29 führt eine Eisenbahnbrücke über den Fluss Sumida. Es ist kaum vorstellbar, dass hier vor 550 Jahren nur ein Schloss und ein paar Häuser standen. Edo, wie die Stadt damals hieß, taucht in den Geschichtsbüchern zum ersten Mal im 12. Jahrhundert auf. Damals soll sich ein Mann nahe den Mündungen der beiden Flüsse Hirakawa und Sumida ein befestigtes Haus gebaut haben. Er nannte den Ort und seine Familie Edo (Flussmündung). Als eigentliches Gründungsjahr der heutigen Metropole gilt aber 1457.
In direkter Nähe liegt das Ryōgoku Kokugikan, in dem im Januar, Mai und September die Sumō-Turniere stattfinden sowie der Kyū-Yasuda-Teien, ein berühmter japanischer Garten, und das Edo-Tokyo-Museum.
Überall riecht es anders. Im gläsernen Hochhaus glitzert die gegenüberliegende Stadtsilhouette. Ich fühle mich wie die Kugel im Spielautomat einer Pachinko-Halle. Rundherum blinkt und blitzt es. Mal werde ich dahin geschoben, mal dorthin und manchmal bleibt die Kugel einfach stecken. Ab Kilometer 30, so scheint es, empfängt uns die gesamte Bevölkerung Tokyos und will uns mit mitgebrachten Süßigkeiten und Getränken verpflegen. Bei Kilometer 35, an der Irifune-bashi Bridge, sorgen japanische Frauen mit ihren Trommeln für den passenden Laufrhythmus.
Nichts ist unmöglich: Erst treffen wir Frank und dann Michael
„… und wie kommst du hierher?“ „Ich komme gerade von einer dreiwöchigen Radtour aus Vietnam“. Erkannt habe ich ihn an seinem Einteiler mit der Aufschrift Berufsfeuerwehr Hannover. Michael, haben wir während einer Laufreise in die Antarktis 2009 (Bericht auf m4you) kennengelernt und jetzt sieht man sich hier wieder, umgeben von tausenden von Japanern.
Noch so ein Zufall war das gestrige Treffen mit Frank. In Deutschland und auf Mallorca schon verabredet, hat es leider nie geklappt, sich persönlich kennenzulernen. Dazu mussten wir erst nach Tokyo fliegen.
Bei Kilometer 35 endet die Begegnungsstrecke und es beginnt das Stadtviertel Tsukiji, in dem sich der berühmte Fischmarkt befindet. Die geschichtlichen Wurzeln reichen bis ins 16. Jahrhundert zurück, als der Shogun Tokugawa Ieyasu Fischer aus Ōsaka nach Edo brachte, um seinen Hof mit Fisch zu versorgen. Heute verkaufen 1600 Händler 2,2 Millionen Kilogramm Fisch täglich. Und mit Ungeheuerlichkeiten, die man vielleicht besser in den Untiefen der See gelassen hätte. Den legendären Kugelfisch, den tödlichsten aller essbaren Fische sehen wir nur an so mancher Händlerbude als Lampenschirm. Wenn die Sonne aufgeht, ist auf dem Markt alles vorbei. Bei Kilometer 38 begegnen wir der ersten von drei Brücken.
Immer wieder werde ich auf Deutsch angesprochen. Die deutsche Sprache und Kultur sind auch heute noch in Japan äußerst beliebt. Diesmal ist es ein Läufer im Telekom-Radtrikot. Er erzählt mir, er habe in Düsseldorf gelebt. Zwischen deutschen und japanischen Universitäten bestehen mehr als 200 Kooperations-Vereinbarungen auf wissenschaftlichem Gebiet. Zurzeit leben mehr als 30.000 Japaner in Deutschland, davon alleine über 7.000 in Düsseldorf. Die Stadt am Rhein ist somit nach London und Paris die größte „japanische“ Stadt in Europa. „Omedeto gozaimasu!“ „Herzlichen Glückwunsch!“ rufen uns immer wieder Zuschauer zu.
Die Höhen und Tiefen der Brücken machen so manchen Läufern zu schaffen, ich freue mich über die willkommene Abwechslung für die Muskulatur. Laufen im schillernden Großstadtdschungel, auf schwingendem Boden der 600 Meter langen Harumi Brücke. So muss es sich anfühlen, wenn zahlreiche Gebäude schwanken und der Bahn- und Flugverkehr uneingeschränkt weiter läuft. Selbst im nahe gelegenen Disneyland Tokyos stoppen einige Fahrgeschäfte automatisch, werden aber kurz nach einem Beben wieder eingeschaltet, das Leben geht weiter. An fast jeder Straßenecke sind Feuerlöscher angebracht, große auffällige Schilder machen darauf aufmerksam. Dies erklärt auch das Gewirr von überirdisch angebrachten elektrischen Leitungen die nach einem Erdbeben schnell wieder instandgesetzt werden können.
16 Minuten dauert eine Fahrt im weltweit größten Riesenrad, das ich von weitem sehen kann und deren Ausblick wir morgen ausprobieren werden. Über 40 aufregende Kilometer liegen hinter mir und eigenartig ist die Vorstellung, nun in einem neuen Stadtteil zu laufen, der auf dem Bauschutt des Kanto Erdbebens von 1923 errichtet wurde.
Nichts ist unmöglich: Und dann ist da plötzlich das Ziel!
Auf der nicht mehr ganz voll besetzten Tribüne am Tokyo Big Sight sitzen vermutlich die offiziellen von heute Morgen in ihren dunklen Anzügen und auch jetzt klatscht der ein oder andere verhalten. Wie immer nach dem Laufen schmerzen mir die Beine und der Schädel brummt. Ich sehe glückliche Läufergesichter beim Erhalt der Medaille.
Frieren muss hier keiner im Ziel. Flinke Hände legen den erschöpften und verschwitzten Finishern ein großes Frotteehandtuch um die Schultern. Mit diesem schönen Handtuch kann jeder in seinem Verein Eindruck schinden. Hier zu laufen heißt, eine Mega-City erleben und egal wo du bist, du bist immer mittendrin. Dies wird mir beim Abholen meines Kleiderbeutels noch einmal so richtig bewusst. Fast könnte ich annehmen, ich sei mit den ersten Läufern ins Ziel gekommen und noch niemand hätte seinen Beutel in Empfang genommen. Erst auf dem Weg zu den Umkleiden weiß ich, dass dies nicht stimmt. Platz ist in der kleinsten Lücke und da es keine Duschen gibt, sucht sich jeder irgendeinen Flecken zum Umziehen oder Dehnen. Bei einem solidarischen Fußbad tauschen sich Läufer Eindrücke und Erlebnisse aus und so mancher genießt eine Massage.
Ganz berauscht von den Eindrücken freue ich mich am Familientreffpunkt endlich Kay zu treffen, denn nur wirklich glücklich sind wir im Team. Noch lange bevor die 7 Stunden bis zum offiziellen Zielschluss abgelaufen sind, erreicht auch Jesus das Ziel.
Er schaut mich an mit einem Lächeln auf seinen Lippen. Marathon ist eben mehr als nur 42 Kilometer laufen. Perfektion ist ein Leitmotiv der japanischen Kultur: perfektes Läuferwetter, perfekte Helfer mit perfekten Manieren, ein perfektes Erste Hilfe Konzept, perfekte Regeln und Vorschriften, perfekte Zuschauer – schlicht und einfach eine perfekte Organisation. Dies mag auch der Grund dafür sein, dass über 95 % der Läufer das Ziel erreichten.
Wir wollen das einzigartige Lichtspiel der Nacht für ein Finisher-Foto nutzen. Mit dem Fahrstuhl schweben wir mehr als 250 Meter über Meereshöhe in das 58. Stockwerk auf die Aussichtsplattform des Mori Tower. Wir genießen den unglaublichen Sternenhimmel der Künstlichkeit auf die unglaubliche Stadt Tokyo. Während uns der kalte Wind um die Ohren pfeift, keimt in uns ein sehr schönes Gefühl: das Gefühl von Glück, genau jetzt an genau diesem Ort sein zu dürfen.
Nichts ist unmöglich: Die Freiheitsstatue in Tokyo und Heiraten im Einkaufzentrum
1902 wurde das erste Auto nach Japan eingeführt, aber die Bevölkerung fuhr lieber Rikscha. Das erste Wirtschaftswunder, mit dem das Inselreich die Welt überraschte, war die rasante Entwicklung der Autoindustrie. Das erste in Japan produzierte Kraftfahrzeug war ein Nissan. Für unseren Tagesausflug kommt kein Leihwagen in Frage, aus mehreren Gründen: Wir haben keinen übersetzten und beglaubigten Führerschein, es herrscht Linksverkehr, die Autobahnen sind gebührenpflichtig, die Verkehrsschilder nicht überall zweisprachig und es gibt keine Parkplätze. Ein eigenes Auto haben viele Bewohner Tokyos bereits abgeschrieben, denn bevor man einen PKW anmelden darf, muss man zunächst einen Parkplatz nachweisen.
Die extrem sauberen Straßen gehören den Taxis, Bussen und LKWs. In ausnahmslos jedem verchromten Teil kann ich mich spiegeln. Es wirkt fast so, als kommen selbst die Betonmischer gerade aus der Neuwagenverkaufshalle. Heute wälzt sich ein Strom von Autos über die Brücke. Eisen-, U- und Schnellbahnen sind das Hauptfortbewegungsmittel und auch hier innen wie außen – alles blitzblank.
Wir wollen die Rainbow Bridge zu Fuß überqueren. Ein Spaziergang dauert etwa 30-45 Minuten und bietet eine schöne Aussicht auf das Hafengebiet. Die Brücke verbindet Tokyo mit dem jüngsten Stadtteil, der künstlich aufgeschütteten Insel Odaiba. Die Stelle ist nicht nur im Sommer wegen seines Sandstrandes ein begehrter Platz, sondern eignet sich auch bei 4 Grad Celsius für Werbeaufnahmen mit Surfbrett. Einige hundert Meter weiter wähnt man sich plötzlich in der falschen Stadt: Die Freiheitsstatue reckt hier ihre Fackel zwar nicht so hoch wie in den New Yorker Himmel, beeindruckend ist sie trotzdem.
In Japan steht die Farbe Weiß für den Tod. Dies gilt jedoch nicht bei Hochzeiten, die gerne nach christlicher Art gefeiert werden; auch wenn nichts daran echt ist, weder Priester noch das Amen und schon gar nicht die Kirche. In sie hinein gelangt man nur durch vier Stockwerke eines großen Einkaufzentrums. Vorbei an niedlichen Hundewelpen, die hinter der Schaufensterscheibe darauf warten, für 4.000 EURO ein Zuhause zu finden. Dies sind die ersten Hunde, die ich hier sehe und nun mache ich mir doch Gedanken, was mit all denen passiert, die zu alt sind um süß zu sein. Vielleicht das gleiche, was auch mit den alten Japanern, den Hundertjährigen, passiert?
Im nächsten Stockwerk ein Fahrradgeschäft. Dort finde ich pinkfarbene Fahrradmäntel und als Clou die passende pinkfarbene Ketten dazu. Zu schade, diese Farbe passt nicht zu meinem gelben Rennrad. Zum Anprobieren eines Radtrikots stehen an der Umkleide Schlappen bereit, denn die Straßenschuhe müssen ausgezogen werden.
Dann ist da noch das Historik Museum, welches gewissermaßen ein Verkaufsladen für Modellautos ist. In einem Kinderland könnte man dann vor der Eheschließung noch seinen Knirps abgeben. Aber eine Trauung in der Fantasiekirche bietet einen außerordentlichen, schönen Ausblick auf die Rainbow Bridge und auf die Skyline von Tokyo und nichts erinnert mehr an das geschäftliche Treiben hinter der Tür.
Nichts ist unmöglich: Entenschnabel und ein Name wie ein Affe
Wir rasen auf einer Trasse mit 300 Stundenkilometern in das 540 Kilometer entfernte Kyoto. Entenschnabel und ein Name wie ein Affe das ist der Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen. Das Geschoß verblüffte bereits zu den Olympischen Spielen 1964 die Welt und ist seither ohne einen einzigen Unfall im Einsatz.
Der Zug beschleunigt fast wie ein Flugzeug beim Start und drückt uns leicht in die bequemen Sitze. Wir rasen an den Bürotürmen des Zentrums und den meist zweistöckigen Häusern der Vorstädte vorbei, jagen über Straßen und Flüsse. Der „fliegende“ Zug legt sich wie ein Motorrad in die Kurve. In meiner Fantasie von der hochtechnisierten Zukunft in die verklärte Vergangenheit. Vielleicht so wie ein Time-Tunnel mit einem Zeitsprung aus dem 21. Jahrhundert in das Kyoto von 794 welches über tausend Jahre die Hauptstadt von Japan und der Wohnort der Kaiser war. In meiner Vorstellung sehe ich Geishas, Tempel, Mönche. So muss das Japan sein, das wirklich wahrhaftige Japan.
Die Landschaft fliegt an uns vorbei. Links der Pazifische Ozean und rechts das Gebirge der Japanischen Alpen. Man bringt uns Kaffee. In dem Wagen Nr. 14 sind wir fast alleine. Ein Herr, natürlich im Nadelstreifenanzug, bearbeitet auf seinem Laptop Statistiken. Für ihn ist es eine Fahrt wie jeden Tag. Für uns eine Reise in eine vermeintlich andere Welt. Weiter hinten hüstelt einer in den Mundschutz. Wir haben uns bequem zurückgelegt, wollen ein wenig Schlaf nachholen, aber ich könnte ja was verpassen und so wäre es dann fast gekommen.
Plötzlich und völlig unerwartet zeigt sich uns, nur für einen kleinen Moment Japans Wahrzeichen, der malerische Berg Fuji, auf Japanisch Fuji-san (nicht Fujiyama!) in der Sonne. Noch bevor Kay den Schutzdeckel von der Kamera genommen hat, ist er schon wieder hinter der Wolkendecke verschwunden. Diesen Anblick werde ich wohl mein Leben lang nicht mehr vergessen. In einem Gedicht aus dem siebten Jahrhundert heißt es: „Der Schnee löscht seine brennenden Flammen, das Feuer frisst den fallenden Schnee“. Noch ist der 3.776 Meter hohe und atemberaubend schöne Berg völlig mit Schnee bedeckt und erinnert mich an unseren letzten Skiurlaub in den Alpen.
Es hätte so schön sein können. Wären da nicht die Menschenmengen vor den 6er und 8er Schlepp- und Sesselliften, wo jeder als erster noch oben kommen möchte. Undiszipliniert wird gedrückt und geschoben, gerempelt und auf Skiern anderer getreten wird. Unvorstellbar in Japan. Tausende Skifahrer werden im Minutentakt nach oben befördert. Oben angekommen, rasen sie auf überfüllten Pisten wohlbehütet mit Helm und Rückenpanzer wie moderne Ritter unkontrolliert die Hänge hinunter. Jeder ist sich selbst der Nächste. „Hoppla, jetzt komm ich – Mentalität“. Unvorstellbar in Japan. Lautsprecherbatterien an den Schneebars dröhnen. Après-Ski-Tamtam und Schickimicki-Protz. Ein Handy klingelt, ungeniert wird laut debattiert, warum man gerade jetzt den Stromanbieter wechseln sollte. Unvorstellbar in Japan. Niemals würde ein Japaner mit seinem Handy lautstark telefonieren. Wenn ein Japaner telefoniert, dann ganz leise und oft mit vorgehaltener Hand.
Hier sind alle diszipliniert und entspannt, und die Zurückhaltung der Menschen ist ein Segen. Warum also nicht das nächste Mal nach Nagano, wo 1998 die Winterolympiade stattfand, zum Skilauf?
Viel zu schnell ist die Fahrt vorbei und unser Zielbahnhof in der alten Kaiserstadt Kyoto ist erreicht. Die Sonne scheint, es weht ein eisiger Wind. Auf die Erwartung der geballten Menge Kultur, Geschichte und Natur folgt triste Realität. Ein moderner Bahnhof, ein Fernsehturm, Nachkriegsbauten aus den 70ern, eine überfüllte Touristenzentrale, Buslinien und keine Ahnung, mit welchem wir fahren müssen. Kein Tempel in Sicht, keine Natur.
Wo sind die Götter? Endlich im Bus. So schwer war es dann doch nicht. Die Busse 100, 101 und 102 fahren alle Sehenswürdigkeiten Kyotos an. So bekommen wir einen ersten Eindruck von der Stadt. Der Bus fährt die Hauptstraße der siebtgrößten Stadt Japans entlang. Wie an einer Perlenschnur reihen sich die Tempel aneinander, kein Wunder, denn in Kyoto gibt es 1.600 buddhistische Tempel und 270 shintoistische Schreine. Alleine 17 davon sind UNESCO-Weltkulturerbe. Hundert mag er noch nicht sein, oder vielleicht doch? Ich sehe diesen Mann, er ist in Gedanken versunken. Hier also leben sie, die älteren Japaner, die Hundertjährigen!
An der Bushaltestelle zum Kiyomizu-dera Tempel steigen wir aus. Im Reiseführer steht: er sei einer der meist geschätzten Tempel Japans. Der um 1633 erbaute Andachtsort gehört zum Weltkulturerbe und ist eigentlich ein Platz der Stille und Magie. Der Laubbläser eines Gärtners brüllt über die Anlage. Es wimmelt von Schulklassen. Die Schüler tragen Uniform. Jede Schule hat ihre eigene. Einheitslook mit Emblem. Nur die verschiedenen umgehängten Markenschultaschen und die Markenschuhe lassen die/den einen von der/den anderen abheben. Die Jungs in schwarzen Anzügen mit goldenen Knöpfen. Die Mädchen mit einem Rock. Der Rock ist kurz, sehr kurz und wahrscheinlich wurde bei der Rockkürze noch eigenhändig nachgeholfen.
Ein paar Schritte weiter von der Tempelanlage beobachte ich einen Mann beim Tai Chi. Plötzlich hektische Unruhe. Ich zähle acht Männer in dunkelblauen Anzügen. Jeder fuchtelt wichtig herum. Jeder will helfen. Ein Mann weist dem Krankenwagen den Weg zum Verletzten, sieben stehen dabei und schauen, ob er dies richtig macht. „Die Terrasse des Kiyomizu hinunter springen“ ist eine typische Redewendung in Japan. Wer weiß, vielleicht hat sich gerade jemand von der Terrasse in das über 13 Meter tiefer liegende Terrain stürzen wollen. Gewissermaßen handelt es dabei vielmehr um eine Legende: Derjenige, der sich hier in den Abgrund stürzte und überlebte, sollte ewiges Glück erhalten und konnte die Erfüllung all seiner Wünsche erwarten. 234 Sprünge sind dokumentiert von denen lediglich 15 % erfolglos blieben. Daher bedeutet diese Redewendung „sich zu einem Entschluss durchringen“. Wahrscheinlich handelt es sich hier und heute um eine Art Rettungsübung. Wir wollen weiter, zur ehemaligen Residenz des mächtigen Shoguns.
Die Burg Nijo-jo – 1603 zum Zeichen seiner Macht vom ersten Tokugawa-Shogun aus Zedernholz erbaut. Am Eingang zum Wohnbereich wechseln wir unsere Schuhe gegen Schlappen und tauchen ein in die Geschichte.
Mit unseren Schlappen laufen wir über die singenden Nachtigallen. Ein Vorläufer der Alarmanlagen. Da ist ein Dielenboden, der beim Betreten der Wohnräume des Shoguns knarrt und quietscht und damit jeden Eindringling verrät. Keine Zeit für eine Pause. Unsere Mägen knurren fürchterlich. Ich fühle mich wie ein Mönch beim kargen Mahl. Mönche unterdrücken ihre Hungergefühle mithilfe eines erwärmten, unter die Kleidung geschobenen Steines.
Wir steuern den weltbekannten Zen-Garten Ryoan-ji an. Dieser Steingarten wurde um 1473 erbaut. Hier könnte man sich stundenlang in den Anblick der Anlage versenken. Gartenkunst ist für die Shogune des alten Japan immer auch ein Mittel der Politik gewesen: so zwangen sie ihre Provinzfürsten aufwendige Gärten anzulegen, so dass sie sich einen Krieg nicht mehr leisten konnten.
Da steht er, der Kinkaku-ji Tempel, wenn auch nur als originalgetreue Rekonstruktion. Klick, klick, klick. Minolta, Nikon, Panasonic, Canon, IXUS und natürlich das iphone. Es gibt kein besseres und bekannteres Fotomotiv.
Die Götter sind uns ebenfalls gnädig und lassen kurz die Sonnenstrahlen auf den goldenen Tempel fallen, welcher sich anmutig im See spiegelt. Viel mehr als Asche blieb nicht übrig, als 1950 das Original von einem Brandstifter zerstört wurde. Für Kyoto mit seinen Tempeln und Gärten braucht man Zeit. Für uns geht die Fahrt zurück nach Tokyo.
Aufregende Tage mit einem aufregenden Marathon liegen hinter uns. Nach einem letzten Frühstück im Hotel mit Haile Gebrselassie am Nachbartisch, verlassen wir das Hotel. Wieder ist der Bauch der A380 gut gefüllt. Ich schau aus dem Fenster, es fällt Schnee. Der Shogun verbot Wiliams, Japan jemals wieder zu verlassen. Er wurde in den Samurai-Stand erhoben. Samurai Wiliams wollte jedoch nicht an einem Ort festsitzen und organisierte eine neue Expedition zur Entdeckung der Nordost-Passage, diesmal von Japan aus. Unsere Maschine steigt hoch über die Wolken in die Sonne. Unter uns die sibirische Wüste und der Polarkreis. Nicht mehr lange, und wir sind zurück in Frankfurt am Main.
Resümee:
Bereits 1870 stellten sich europäische Reisefotografen der Aufgabe, den Osten Asiens in ihren Bildern und Texten einzufangen und die exotische Andersartigkeit und seinen Menschen zu dokumentieren. Über 2.500 Mal haben wir auf den Auslöser unserer Kameras gedrückt. 600 Bilder haben wir zu diesem Bericht ausgesucht.
Was wir nicht vorhergesehen hatten ist eingetreten:
Tokyo ist noch aufregender als erwartet und für Leute geeignet, die neben dem Marathonlaufen mehr erleben wollen. Denn darum fährt man doch in die Ferne. Für Momente, an denen einem alles bizarr vertraut, aber doch andersartig ist, die gleiche Musik wie zu Hause läuft, aber anders gesprochen wird, die Kulturfabriken aussehen wie zu Hause, ihre Kunst aber über andere Zeichen wirkt. Solche Gelegenheiten sind unbezahlbar!
Aufgeschnappt:
Wer jetzt noch nicht genug hat, der kann seinen Japan Aufenthalt noch um den Otsu-Marathon am Biwa-See verlängern. Dieses Rennen wird seit 1946 veranstaltet und ist das traditionsreichste Japans mit einem starken Läuferfeld und für ausländische Läufer kostenfrei. Wie gerne wären wir auch dabei gewesen, jedoch muss jeder Teilnehmer eine Qualifikationszeit von unter 2 Stunden 30 Minuten vorweisen, gelaufen nach dem 1. März 2008! Wohlgemerkt, 2:30 für den Marathon, nicht für den Halben.